Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 11, doc. 204
volume linkBern 1989
more… |▼▶Repository
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2001C#1000/1534#1875* | |
Old classification | CH-BAR E 2001(C)1000/1534 94 | |
Dossier title | Ermordung Gustloffs, I (1931–1945) | |
File reference archive | B.46.14.01 • Additional component: Deutschland |
dodis.ch/46125
In Bestätigung meiner telephonischen Mitteilungen von heute früh möchte ich wegen der in Davos erfolgten Ermordung des Landesgruppenleiters der NSDAP für die Schweiz, Wilhelm Gustloff, kurz folgendes hier wiedergeben.
Gestern, Dienstag, abend fand der übliche grosse Jahresempfang des Reichsministers des Auswärtigen im Hotel Kaiserhof statt. Über tausend Eingeladene nahmen daran teil. Als ich kurz nach 10 Uhr den Gastgeber begrüsste, machte er mir von der ihm eben zugekommenen, mir noch unbekannten Nachricht vom tragischen Vorfälle Mitteilung. So wie Freiherr von Neurath war auch ich davon sehr betroffen. Eine halbe Stunde später gab mir der Minister von einigen weitern Erkundigungen über die Nationalität des Mörders und dessen erste Erklärungen Kenntnis. Freiherr von Neurath zeigte sich noch besorgter als zuvor und meinte, wir könnten heute einen üblen Tag erleben.
Mittlerweile hat sich ein ziemlich aufsehenerregender Vorgang vollzogen. Die Nachricht aus Davos hatte sich unter den Anwesenden uniformierten S.A. und S. S. Männern lauffeuerartig verbreitet und auf höheren Befehl hatten sie sich sofort vom Fest entfernt, als Zeichen der Trauer, wie man mir erklärte. Diese Leute sollen sogar den Versuch gemacht haben, den Empfang sofort abbrechen oder wenigstens die Musik einstellen zu lassen. Dies geschah indessen nicht.
Während die Nachricht sich in den Sälen verbreitete, konnte man die verschiedensten Beobachtungen anstellen. Sie wurde keineswegs von allen tragisch aufgenommen. Entscheidend ist aber, auch für uns, welche Reaktionen das Vorkommnis bei den Amts- und Parteistellen auslöst. Und da waren sie bereits gestern Abend höchst bedenklich und bekümmernd. Von mehr als einer hochgestellten Persönlichkeit wurde mir gegenüber offen von Pogromen gesprochen, die in Deutschland unmittelbar darauf folgen könnten. So sprach sich u. A. auch der Staatssekretär und Generalleutnant der Luftwaffe Milch zu mir aus, der in späterer Stunde von einem beim Reichskanzler zu Ehren des Engländers Lord Londonderry gegebenen Essen kam und, nebenbei bemerkt, morgen nach der Schweiz fliegt, um, wie alljährlich, mit seinem Freunde Walter Mittelholzer während einiger Wochen unser Alpengebiet auf den Skiern abzufahren. Milch wie einige andere gaben zu, dass die Schweiz offenbar keine Schuld treffe. Ein derartiger Mord könnte freilich überall anderswo begangen werden.
Wesentlich anders suchte sich Reichsminister Goebbels einzustellen, mit dem ich die letzte Unterhaltung des Abends führte. Nachdem ich ihm mein eigenes lebhaftes Bedauern über das Geschehene ausgesprochen hatte, trat er, trotz der uns umgebenden Menschenmenge, gleich in die Materie ein. Er bedauerte das Treiben der Emigranten und die Hetze der Presse, seine Lieblingsaussprüche, die an derartigen Gewalttaten die Hauptschuld trügen. Was die sogenannten Emigranten betrifft, so erinnerte ich ihn daran, dass, wenn solche bei uns Aufnahme fänden, sie sich politisch jeder Betätigung zu enthalten hätten2. In dieser Beziehung sei der Bundesrat stets wachsam und entschlossen, gegen missbeliebige und unruhige Elemente vorzugehen. Hinsichtlich der Presse wäre so viel zu sagen, und zwar im Zusammenhange mit ändern Erscheinungen, gegen die wir uns auflehnen müssten, dass ich die ganze Frage jederzeit mit ihm zu erörtern gerne bereit sei3.
Herr Goebbels meinte dann, er wolle nicht daran zweifeln, dass die Schweizer Regierung aus der Ermordung Gustloff’s die erforderlichen Konsequenzen ziehen werde. Hierauf bemerkte ich nur, dass die sich aus der Untersuchung ergebenden Feststellungen und Schlüsse gewiss die besondere Aufmerksamkeit des Bundesrats finden würden. Ich könnte mir indessen vorstellen, dass allfällige Folgen sich in verschiedener Richtung auswirken könnten, so. z. B. auch in der Einschränkung der politischen Rolle die nicht zuletzt Deutschen in der Schweiz zugewiesen zu sein scheine4. Damit war mein Gespräch mit dem Reichspropagandaminister zu Ende.
Die Art und Weise wie schon heute morgen das Andenken und die Verdienste Wilhelm Gustloff’s von der gesamten deutschen Presse gefeiert werden, der Umstand, dass der Reichskanzler, dem man die Trauerbotschaft bis gegen Mitternacht verheimlicht hatte, noch während der Nacht ein Beileidstelegramm an Frau Gustloff gerichtet hat, wie das auch seitens des Reichsministers Hess geschehen ist, ferner der Erlass eines Nachrufs an das ganze Auslandsdeutschtum, dies alles muss die Frage auf steigen lassen, was denn Gustloff für sein Land und seine Partei in der Schweiz Bedeutsames geleistet hat und ob eine solche Tätigkeit eines Ausländers auf unserem Boden doch nicht als unerwünscht anzusehen ist, auch wenn sie nicht eigentlich gesetzwidrig sein sollte. Verbunden mit den derzeitigen Zuständen in Deutschland müssen sich schliesslich fast unvermeidlich daraus Rückwirkungen ergeben wie die gestrige, die dann schwer auf uns lasten. Glücklicherweise kennt der Kanton Graubünden die Todesstrafe nicht; denn sonst würden bald aus gewissen deutschen Kreisen unzulässige Ansinnen oder Erwartungen laut. Schon gestern abend konnte man derlei Anspielungen vernehmen.
Ich möchte mir erlauben, die Ihnen heute telephonisch ausgesprochene dringende Empfehlung zu erneuern, dass von seiten insbesondere der Justizbehörden Mitteilungen nach Aussen vermieden werden, welche die für die hiesigen Juden schon bestehenden grossen Gefahren noch zu steigern geeignet wären. Immerhin erfahre ich aus Journalistenkreisen, dass sich das Propagandaministerium bemühen solle, auf die Presse in beruhigender Weise einzuwirken.
- 1
- Lettre (Copie): E 2001 (C) 4/94. Paraphe: YS.↩
- 2
- Cf. DDS vol. 10, rubrique 11.1.4: Allemagne, réfugiés, et dans ce volume le no 210, dodis.ch/45752 n. 3. ↩
- 3
- Cf. DDS vol. 10, rubrique II. 1.5: Allemagne, affaires de presse, et dans ce volume les nos 52, dodis.ch/45594 et 131, dodis.ch/45673.↩
- 4
- Cf. no 209.↩
Tags
German Realm (Other)
Gustloff Affair (1936)