Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
III. BILATERALE BEZIEHUNGEN
22. Russland
22.1. Wiederaufnahme von Handelsbeziehungen
Abgedruckt in
Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 9, Dok. 302
volume linkBern 1980
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Archiv | Schweizerisches Bundesarchiv, Bern | |
▼ ▶ Signatur | CH-BAR#E2001C#1000/1542#6* | |
Alte Signatur | CH-BAR E 2001(C)1000/1542 1 | |
Dossiertitel | Berliner Abkommen 1927 (1927–1927) | |
Aktenzeichen Archiv | B.15.0 • Zusatzkomponente: Russland |
dodis.ch/45319
Der Chef der Abteilungfür Auswärtiges des Politischen Departementes, P. Dinichert, an die schweizerischen Gesandtschaften12
Wie Sie bereits aus der Tagespresse ersehen haben dürften, haben der schweizerische Gesandte in Deutschland, Herr Rüfenacht, und der Botschafter der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, Herr Krestinski, am 14. April letzthin zu Berlin einen Notenwechsel vollzogen, durch den der seit bald vier Jahren bestehende Konflikt zwischen den beiden Ländern beigelegt worden ist. Nachstehend beehren wir uns, Ihnen den deutschen Urtext der ausgetauschten Erklärung zur Kenntnis zu bringen: [...]3
Verschiedentlich war in den letzten Wochen erwogen worden, Sie über den Gang der neuen Verhandlungen mit Russland zu unterrichten. Die Besprechungen nahmen aber bei allen Schwierigkeiten einen so schnellen Verlauf und zeigten vor allem ein so rasch wechselndes Bild, dass unser Bericht kaum je den letzten Stand der Dinge hätte wiederspiegeln können. Als zudem die Presse infolge von Indiskretionen sich mit der Sache zu beschäftigen begann, mochte man sich sagen, dass es Ihnen vielleicht nicht ganz unerwünscht sei, den von allen Seiten zu gewärtigenden Anfragen guten Gewissens Ihr «Ignoramus» entgegensetzen und solcherweise Aushorchversuchen aus dem Wege gehen zu können.
Für die Erläuterung des Notenaustausches glauben wir, uns auf folgende Bemerkungen beschränken zu dürfen.
Es ist unrichtig, dass, wie in Pressenachrichten vermutet wurde, die deutsche Regierung die Aufnahme der neuen Verhandlungen veranlasst und hierauf ihre guten Dienste angeboten habe. Bereits zu Anfang dieses Jahres hatte der Bundesrat durch private Kanäle vernommen, dass in Moskau bedauert werde, die Teilnahme Sowjetrusslands an der Weltwirtschaftskonferenz am bestehenden Konflikte mit der Schweiz scheitern zu sehen, und dass demnach Geneigtheit zur Wiederaufnahme von Verhandlungen mit dem Bundesrate bestehen dürfte.
Mit Rücksicht auf unsere eigenen Interessen, wie auch wegen unserer Beziehungen zum Völkerbunde beschloss daher der Bundesrat, zu einem neuen Versuche zur Beilegung des Konfliktes Hand zu bieten, und zwar in der Weise, dass die Besprechungen, ohne Mitwirkung einer dritten Regierung oder fremder Persönlichkeiten, direkt zwischen den diplomatischen Vertretern der beiden Länder in Berlin geführt werden sollten. Das erste Zusammentreffen der Herren Rüfenacht und Krestinski hat am 15. März letzthin stattgefunden; es war von einem Berliner Grossindustriellen, zu dem beide Herren Beziehungen unterhalten, vermittelt worden, und in dessen Hause haben sich die Verhandlungen von Anfang bis zu Ende abgespielt.
Zu Beginn der Verhandlungen wiederholte die Sowjetregierung beharrlich das Begehren um de jure-Anerkennung. Würde diese gewährt, so wäre damit nach dem russischen Vorschlag auch die Angelegenheit Worowski erledigt gewesen. Selbstredend konnte die Anerkennung dermalen nicht in Frage kommen, und so musste der Konflikt durch gesonderte Erledigung seiner Ursache, nämlich der Angelegenheit Worowski, beseitigt werden.
Die Art der Erledigung war für den Bundesrat insofern präjudiziert, als er bei dem unter französischer Vermittlung vorgenommenen Verständigungsversuche vom Januar 1926 gewisse Erklärungen abgegeben hatte, an denen, soweit es Konzessionen an die Sowjetregierung waren, diese natürlich würde festhalten wollen, über die hinauszugehen aber der Bundesrat nicht gesonnen war.
Eine solche Konzession des Bundesrates war die grundsätzliche Bereitwilligkeit, der Tochter Worowskis eine materielle Beihilfe zu gewähren, wenn nämlich einmal die Verhandlungen zwischen den beiden Ländern über die Gesamtheit der zu erledigenden Fragen eröffnet würden, wobei dann über die Art und Weise dieser Unterstützung werde diskutiert werden können. Die Versuche, dieses frühere Zugeständnis, auch mit dem Hinweis auf die veränderte materielle Lage der Interessentin - sie hat sich inzwischen verheiratet - und auf dessen sachliche Bedeutungslosigkeit, wieder rückgängig zu machen, sind auf hartnäckigen russischen Widerstand gestossen. Nachdem Russland in zwei weitern, unten zu erwähnenden Differenzpunkten nachgegeben und zwei seiner Postulate fallen gelassen hatte, glaubte der Bundesrat, sich nicht, auf die Gefahr des Scheiterns hin, auf die Ablehnung dieser Forderung versteifen zu sollen. Eine völkerrechtliche Verpflichtung zur Gewährung einer solchen materiellen Beihilfe besteht allerdings nicht; der Bundesrat hat denn auch eine Rechtspflicht abgelehnt, was bereits in der Wahl des jede Verantwortlichkeit ausschliessenden Wortes Beihilfe, anstelle von Entschädigung, zum Ausdruck kommt, und überdies ausdrücklich erklärt, dieses Zugeständnis nur aus Versöhnlichkeit zu machen. Er wollte damit einem, wie es scheint, in der russischen Öffentlichkeit stark verbreiteten Gefühle Rechnung tragen. Wenn man sich fragt, wieso sich der Bundesrat zu einem solchen, wenn auch erst zukünftigen, Entgegenkommen entschliessen konnte, wo er doch seinerseits noch Rechenschaft für Schweizer Leben und Gut zu fordern hat, so ist zu antworten, dass eine Verknüpfung des Falles Worowski mit der Erörterung des Gesamtproblems der schweizerisch-russischen Beziehungen zu einer uferlosen und unfruchtbaren Diskussion geführt haben würde, ganz abgesehen davon, dass die Sowjetregierung die de jure-Anerkennung zur Vorbedingung einer allgemeinen Auseinandersetzung machte. So musste vorläufig der Fall Worowski als Ursache des beizulegenden Konfliktes für sich allein erledigt werden. Dabei ist aber ausdrücklich zu bemerken, dass die Bereitwilligkeit des Bundesrates zu einer materiellen Beihilfe erst für die Zukunft, d. h. auf den Zeitpunkt der Generalabrechnung, ausgesprochen worden ist.
Gerade diese Zukunftsform war einer der Punkte, über die im Januar 1926 eine Verständigung ausgeblieben ist. Die Sowjetregierung hatte damals verlangt, dass der Bundesrat sich jetzt schon grundsätzlich zur Gewährung einer Beihilfe bereit erkläre (est prêt), während der Bundesrat dies erst für die Zukunft tun wollte (sera prêt). Die Sowjetregierung hat sich nunmehr mit dieser Zukunftsform, die also eine Beihilfe von der Erledigung auch der schweizerischen Ansprüche abhängig macht, begnügt.
Ein weiterer Differenzpunkt, über den man im Jahre 1926 nicht hinwegkam, war die Bezeichnung des Grades, in dem der Bundesrat das Attentat zu bedauern erklären wollte. Er war der Ansicht, im Ausdruck seines Bedauerns mit Bezug auf den Vorfall sei alles inbegriffen. Die Sowjetregierung verlangte aber die ausdrückliche Erklärung eines «aufrichtigen» Bedauerns. In diesem russischen Begehren musste der Bundesrat ein ungerechtfertigtes Misstrauen gegen seine Aufrichtigkeit erblicken, und er lehnte aus diesem Grunde den verlangten Zusatz ab, was wiederum die russische Regierung veranlasste, an ihm festzuhalten. Der Bundesrat ist in den neuen Verhandlungen dabei geblieben, widersinnige oder für uns demütigende Adverbia abzulehnen, und die Sowjetregierung ist ihm schliesslich entgegengekommen, indem sie sich mit den Ausdrücken «verurteilt durchaus» und «bedauert sehr» zufrieden gab.
Als Kompensation für diese russischen Konzessionen - Fallenlassen des Wortes «aufrichtig» und Annahme der Zukunftsform für die Beihilfe - stellte die russische Regierung aber noch zwei neue Begehren: Es sollte in der Erklärung des Bundesrates Herr Worowski als Vertreter der Union der S.S.R. bezeichnet und ferner die Freisprechung des Attentäters als Grund der Verschärfung des Konfliktes erwähnt werden. Der Bundesrat konnte hierauf nicht eintreten. Nach der Auffassung der einladenden Konferenzmächte war Herr Worowski zur Zeit seiner Ermordung nicht offizieller Vertreter seiner Regierung in Lausanne; dieser Standpunkt war für den Bundesrat immer massgebend gewesen, und er konnte auch jetzt davon nicht abgehen. Was sodann das freisprechende Urteil betrifft, so hätte dessen Erwähnung im Zusammenhange mit der Erklärung des Bedauerns über die Tat als öffentliche Kritik der Regierung am Geschworenengericht ausgelegt werden können, was der Bundesrat vermeiden musste. Die Sowjetregierung verzichtete schliesslich auf diese zwei Postulate.
Der Bundesrat glaubt, mit der Berliner Erklärung an die äusserste Grenze des mit der Würde des Landes vereinbaren Entgegenkommens gegangen zu sein. Er hat dies getan im ehrlichen Willen, die durch das beklagenswerte Geschehnis von Lausanne aufgeregte öffentliche Meinung in Russland durch einen Loyalitätsbeweis zu beruhigen, die Verkehrshindernisse zwischen den beiden Ländern zu beseitigen und nicht zuletzt im allgemeinen Interesse der Mitwirkung der Sowjetregierung an den Konferenzen des Völkerbundes.
Was die fernerliegenden Auswirkungen dieses Notenaustausches anbelangt, so lässt sich darüber heute noch kaum etwas Bestimmtes sagen. Die Berliner Erklärung spielt auf «die Gesamtheit der zwischen den beiden Ländern noch zu erledigenden Fragen» an. Aber erst wenn die Verhandlungen über diese Fragen nicht nur eingeleitet sind, sondern zu einem befriedigenden Ergebnisse geführt haben werden, können nach dem dermaligen Standpunkte des Bundesrates die rechtliche Anerkennung der Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und damit die Wiederaufnahme der offiziellen Beziehungen zwischen den beiden Ländern in Erwägung gezogen werden4.
- 1
- Das Rundschreiben ist gerichtet an die schweizerischen Gesandtschaften in London, Madrid, Paris, Rom, Stockholm, Warschau, Wien, Washington, Berlin, Brüssel, Bukarest, Buenos Aires, Athen, Belgrad, Rio de Janeiro und Tokio, ferner an das schweizerische Generalkonsulat in Montreal und den schweizerischen Geschäftsträger in der Türkei, H. Martin.↩
- 2
- (Kopie): E 2001 (C) 12/1. Rundschreiben PC. Die Beilegung des schweizerisch-russischen Konfliktes.↩
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