Internationale Stellung Grossbritanniens. Zerstrittenheit der politischen Führer über die einzunehmende Haltung gegenüber der UdSSR: zum einen die europäische Integration und die "Dritte Kraft" stärken, zum andern den Bruch mit der UdSSR vermeiden.
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 17, doc. 49
volume linkZürich/Locarno/Genève 1999
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2001E#1968/78#10178* | |
Old classification | CH-BAR E 2001(E)1968/78 353 | |
Dossier title | Service de documentation, Band II (1946–1948) | |
File reference archive | B.58.12.GB • Additional component: Grossbritannien |
dodis.ch/4340
Ich hatte Gelegenheit, mit R. Crossman, M. P. für Coventry, ein längeres Gespräch über die britische Aussenpolitik zu führen.
Crossman, der Führer der Labour-Rebellen, die im November 1946 im Parlament die Politik Bevin’s kritisierten und dafür eintraten, dass Grossbritannien eine Mittelstellung zwischen Russland und Amerika einnehme3, hat, wie früher schon berichtet, in seinen aussenpolitischen Ansichten eine beträchtliche Veränderung durchgemacht. Er, wie auch seine Freunde, zu denen u. a. die Parlamentsabgeordneten Michael Foot und I. Mikardo gehören, sind heute der Überzeugung, dass die englische Politik nichts unternehmen kann, was die Einstellung Sowjetrusslands im einen oder andern Sinne beeinflussen könnte. Auch sie sind davon überzeugt, dass es notwendig sei, mit aller Entschiedenheit der russischen Penetration Westeuropas einen Riegel vorzuschieben. So billigen sie z. B. heute eine feste Haltung der britischen Politik in Griechenland4.
Auf der andern Seite – darin erblicken sie die Konstante der aussenpolitischen Einstellung ihrer Gruppe – befürworten sie eine stärkere Initiative Grossbritanniens bei der Unterstützung aller Bestrebungen, die auf die Stärkung der westeuropäischen Einheit hinzielen. Wenn sie sich auch bewusst sind, dass Grossbritannien wirtschaftlich nicht in der Lage ist, Westeuropa zu helfen, glauben sie doch, die englische Politik könnte auf dem psychologischen Sektor zur Beschleunigung der Entwicklung beitragen. Sie verlangen eine sichtbare moralische Unterstützung der Troisième Force in Frankreich durch das Foreign Office. Sie glauben, dass die französischen Widerstände gegen die enge Zusammenarbeit der Westmächte in Westdeutschland sich beseitigen liessen. England sollte ausdrücklich Westdeutschland als Bestandteil einer möglichen westeuropäischen Föderation bezeichnen. Auf dieser neuen Ebene liesse sich am besten das Verhältnis Frankreich-Deutschland neu gestalten5.
Unter der Führung Crossmans hat die Gruppe die Abfassung eines Briefes angeregt, der Mr. Bevin nahelegt, selbst die Führung der westeuropäischen Vereinigungspläne zu übernehmen. Der Brief, der gestern zugestellt worden ist, weist auch darauf hin, dass Churchill beabsichtigt, in der nächsten Zeit in seiner Eigenschaft als Präsident des Vereinigten Europa Komitees6 eine öffentliche Rede zu halten. Bevin jedoch sollte als offizieller Sprecher Englands diesem Plane des Leiters der Oppositionspartei zuvorkommen7. Der Brief trägt die Unterschrift der verschiedensten Labour-Parlamentarier, die ihrer politischen Einstellung nach sämtliche Gruppen der Partei, vom linken bis zum rechten Flügel, vertreten. Der Brief ist nicht für die Veröffentlichung bestimmt.
Crossman, der in dieser Woche einige Besprechungen mit Lord Pakenham hatte, gewann den Eindruck, dass das Foreign Office an seiner zurückhaltenden Politik gegenüber Russland festhalte.
Wenn auch Bevin anerkenne, dass durch das Scheitern der Londoner-Konferenz8 ein Bruch vollzogen worden sei, ist er nicht geneigt, derjenige zu sein, der als erster seine Politik auf diesen Bruch abstellt. Seinem ganzen Temperament entsprechend weiche er jeder Ausnützung einer momentanen politischen Lage aus, da er von der Überzeugung getragen ist, dass sich die internationale politische Entwicklung langsam vollziehe und in keiner Weise überstürzt werden könne. Es müsse anerkannt werden, dass Bevin durch seine Abneigung gegen schnelles Handeln der britischen Aussenpolitik Konstanz verliehen habe, die bestimmt dazu beitrug, eine Zuspitzung der internationalen Politik zu verhindern. Crossman jedoch ist der Auffassung, dass namentlich im Hinblick auf die besorgniserregende Entwicklung in Italien eine britische Stellungnahme zugunsten Westeuropas notwendig sei, auch wenn diese eine Spitze gegen Russland tragen müsse. Wenn er noch vor einem Jahr Bevin eine allzu russlandfeindliche Politik vorgeworfen hatte, kritisiert er nun den britischen Aussenminister wegen seiner allzu grossen Rücksichtnahme auf mögliche russische Reaktionen.
Nichts kann besser den Einfluss der russischen Kominformpolitik auf die englische öffentliche Meinung darlegen, als diese von Crossman umschriebene Schwenkung der Rebellengruppe. Es ist bekannt, dass Bevin auf die Intellektuellen seiner Partei, die, da sich unter diesen bekannte Journalisten und Redaktoren befinden, die Möglichkeit besitzen, ihre Ansichten publizistisch zu vertreten, bei der Formulierung seiner Politik eine gewisse Rücksicht genommen hat. Es kann heute gesagt werden, dass die aussenpolitische Spaltung der Labour-Partei, die in verschiedenen Parlamentsdebatten offenkundig geworden war, nun beseitigt und durch eine geschlossene Einstellung in den grossen prinzipiellen Fragen der britischen Aussenpolitik ersetzt worden ist. Bevin, der grossen Wert auf einen engen Kontakt mit der Fraktion und den Parteimitgliedern legt, wird sich dieses Wandels bewusst sein. Er enthebt ihn der Furcht, bei aussenpolitischen Entscheidungen von einem Teil der Fraktion desavouiert zu werden.
- 1
- Die Notiz wurde von A. Lindt verfasst. A. Escher sandte sie als Beilage zu einem kommentierenden Schreiben vom 19. Januar 1948 an M. Petitpierre. Nicht abgedruckt.↩
- 2
- (Kopie): E 2001(E)1968/78/353.↩
- 3
- Vgl. den politischen Bericht Nr. 27 von P. Ruegger vom 19. November 1948, E 2300London/40.↩
- 4
- Vgl. DDS, Bd. 17, Dok. 116, dodis.ch/4080.↩
- 5
- Zu den britisch-französischen Beziehungen betreffend Westdeutschland vgl. die politischen Berichte der schweizerischen Gesandtschaft in London, E 2300London/42, E 2001(E)-/1/ 301, sowie E 2001(E)1972/33/526.Zur Haltung Grossbritanniens und Frankreichs gegenüber der deutschen Industrieproduktion im Rahmen des europäischen Wiederaufbaus vgl. das Schreiben von H. de Torrenté an A. Zehnder vom 23. Dezember 1948, E 2200.40(-)1968/ 124/7 (dodis.ch/5421).↩
- 6
- Es handelt sich um die United Europe Movement. Zu deren Bemühungen um finanzielle Unterstützung aus der Schweiz vgl. DDS, Bd. 17, Dok. 80, dodis.ch/4244. Zum Gespräch zwischen D. Sandys und M. Petitpierre über das Verhältnis der Schweiz zu den verschiedenen Organisationen, die sich für die europäische Integration einsetzten, vgl. die Gesprächsnotiz von M. Petitpierre vom 26. Januar 1948, E 2800(-)1990/106/19 (dodis.ch/5960).↩
- 7
- Am 22. Januar 1948 kündigte E. Bevin vor dem Unterhaus Verhandlungen über den wirtschaftlichen Zusammenschluss der britisch-amerikanischen Bizone mit der französischen Besatzungszone in Deutschland und den Plan für den Abschluss eines westeuropäischen Verteidigungspaktes an, vgl. den politischen Bericht Nr. 1 von A. Escher an M. Petitpierre vom 10. Februar 1948, E 2300London/42 (dodis.ch/4344).↩
- 8
- Aussenministerkonferenz vom 25. November bis 15. Dezember 1947, vgl. Nr. 57, Anm. 4.↩
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