Language: German
21.1.1888 (Saturday)
Der schweizerische Gesandte in Wien, A. O.Aepli, an den Vorsteher des Departements des Auswärtigen, N. Droz
Report (R)
Ein militärischer Zusammenstoss zwischen Österreich und Russland wegen des Besitzes von Bulgarien scheint unausweichlich. Die Verbündeten Österreichs sind an der Frage desinteressiert. Ein Verzicht Österreichs zugunsten Russlands hätte einen Aufschwung des staatsgefährdenden Panslawismus in Österreich selbst zur Folge.

Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
III. SICHERHEITSPOLITIK
1. Internationale Lage und Kriegsgefahr
1.2. Die Orientalische Frage
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Printed in

Erwin Bucher, Peter Stalder (ed.)

Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 3, doc. 355

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Bern 1986

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dodis.ch/42334
Der schweizerische Gesandte in Wien, A. O. Aepli, an den Vorsteher des Departements des Auswärtigen, N. Droz1

Seit meinem letzten Berichte vom 31. v. Mts.2 haben sich in den thatsächlichen Verhältnissen keine bemerkenswerthen Veränderungen ergeben. Berichtigend mag erwähnt werden, dass von den in meinem Schreiben vom 18. Dezember3 genannten Truppen ausser zwei Bataillonen Genie, etwas Cavallerie und Befestigungsartillerie, keine anderen nach Galizien abgegangen, sondern dass sie nur auf den Kriegsfuss gestellt worden sind und marschbereit gehalten werden. Nicht uninteressant erscheint es, dass die hier garnisonirenden Offiziere strenge zur Erlernung der russischen Sprache angehalten werden. Im Offiziercorps betrachtet man die gegenwärtige Ruhe als die Stille vor dem Ausbruch des Gewitters.

Dass die Erörterungen in den öffentlichen Blättern über die Zeitlage und die mögliche Entwicklung der gespannten internationalen Verhältnisse auch zu Besprechungen darüber und zur Untersuchung der Frage über den wahrscheinlichen Verlauf der Dinge Veranlassung geben, mag nicht auffallen, müssen sich doch alle Regierungen und deren Vertreter dazu gedrängt fühlen, über die bevorstehenden Ereignisse womöglich zu einiger Klarheit zu gelangen, um sich desto besser auf dieselben vorzubereiten.

Wenn ich mir erlaube, Ihnen das Ergebniss meines eigenen Nachdenkens und die Ansichten von Collegen hierüber vorzulegen, so nehme ich es als selbstverständlich an, dass Sie diese Mittheilungen nur als für Sie gemacht betrachten werden.

Nachdem allem Anscheine nach in Frankreich durchaus keine kriegerische Stimmung herrscht, vielleicht auch mit Rücksicht auf die für das Jahr 1889 beabsichtigte Säcularfeier und die damit verbundene Ausstellung, liegt der Schwerpunct der internationalen Verwicklungen in Russland. Die Ängstlichkeit, mit der alle von da ausgehenden Symptome für Frieden oder Krieg von der Presse verfolgt werden, erscheint beinahe etwas lächerlich. Dass in den nächsten Paar Wochen ein Krieg nicht ausbrechen werde, dessen dürfte man, nach meinem Dafürhalten, sicher sein, aber ebenso sicher sollte man darauf gefasst sein, dass die ernstesten Verwicklungen nicht fehlen werden, wenn Russland nicht bis zu einem gewissen Grade befriedigt wird.

Als ich im November 1883 mit dem damaligen rumänischen Gesandten die Lage der Donau- und Balkanländer besprach, äusserte er sich ungefähr dahin: Er betrachte die Zukunft aller dieser Staaten noch als sehr ungewiss. Die Interessen Russlands und Österreichs bekämpfen sich in denselben und werden früher oder später unnachsichtlich zu einem Kriege führen, dessen Ausgang alsdann ergeben werde, ob jene Länder einer vorherrschenden Abhängigkeit von Russland, vielleicht einer Annexirung, verfallen, oder ob sie, unter dem vorherrschenden Einflüsse Österreichs, ihre Selbständigkeit bewahren werden.

Wenn die seit Jahren beobachtete und mit Zähigkeit festgehaltene Politik Russlands im Orient in Betracht gezogen wird, sowie die Geduld, mit der Russland den richtigen Moment zu erwarten weiss, in dem es in Action treten soll, wenn man berücksichtigt, dass in die Situation durch die so starke militärische Besetzung der Grenze gegen Deutschland und Österreich ein höchst bedeutungsvolles Moment eingetreten ist und dass trotz aller Friedensversicherungen eine Änderung dieses factischen Zustandes nicht stattfindet, so darf man mit aller Sicherheit darauf zählen, dass Russland in nicht zu ferner Zeit mit allem Nachdrucke die Wiederherstellung oder vielleicht richtiger gesagt, die Gewinnung seines unbedingt prädominirenden Einflusses im Oriente Europa’s zu erlangen bestrebt ist. Es ist selbstverständlich, dass die Situation um so mehr verdüstert ist, als Österreich-Ungarn heute noch als auf dem Standpunct stehend betrachtet werden muss, der im Spätjahr 1886 in den Delegationen präcisirt worden ist, und denen damals zu entnehmen war, dass es als eine Verletzung der vitalsten Interessen des Reichs betrachtet würde, wenn Russland Bulgarien besetzen und die Regierung dieses Fürstenthums seinem ausschliesslichen Einflüsse unterwerfen würde. Geht nun die Absicht Russlands dahin, dieses letztere ganz an sich zu reissen, so muss angenommen werden, dass Deutschland, von dem man längst weiss, dass es Bulgarien als in die Machtsphäre Russlands gehörend betrachtet, keine ernstliche Opposition erheben werde, von Frankreich hat Russland eine Opposition nicht zu befürchten, mit England, mit welchem Russland schon ein Mal theilen wollte und das ja ohnehin die bereits im tiefsten Verfall befindliche Türkei nicht mehr als Grossmacht aufrechterhalten könnte, wird man sich durch Compensationen abzufinden suchen, Italien wird sich, trotz aller Sympathien für Bulgarien, zu Gunsten des allein wesentlich betheiligten Österreich-Ungarns in keinen ernsten Conflict mit Russland einlassen, sofern es nicht etwa zu möglichst geringem Preise einen möglichst grossen Vortheil für sich gewinnen kann, die Türkei fällt überhaupt nicht mehr in Berechnung und so bleibt nur Österreich-Ungarn übrig, mit dem sich Russland ernstlich und schliesslich auseinander zu setzen hat.

Es ist nicht uninteressant bei dieser Gelegenheit einen Blick auf die Stellung Russlands zu der Türkei in den letzten fünfzig Jahren zurückzuwerfen, um in der Überzeugung bestärkt zu werden, dass in der gegenwärtigen Situation ein tiefer Ernst liegt, und dass es dabei viel weniger auf die persönlichen Eigenschaften und Neigungen des Czaren ankömmt, auf welche man in Deutschland stetsfort so grosses Gewicht zu legen scheint, als dass es sich um Vollziehung eines historischen Vorgangs handelt, in welchem der Czar nur das zu vollenden haben wird, was sein Grossvater begonnen und sein Vater fortgesetzt hat.

Schon im Jahre 1844 hatte der Czar Nicolaus die Geschichte von dem «kranken Mann» aufgebracht und sich über die Liquidation der Hinterlassenschaft desselben mit England zu verständigen gesucht. Im Jahr 1853 wurde dieser Gedanke wieder angeregt, England Ägypten und Kandia angeboten, wogegen der Czar uneigennützig (!) nur die Erhebung der damals noch der türkischen Herrschaft unterworfenen Provinzen Bosnien, Bulgarien und Serbien zu selbständigen Staaten forderte. England, welches die Türkei nicht preisgeben wollte, ging auf diess Anerbieten nicht ein, und da der Czar nun einmal entschlossen war, mit der Türkei anzubinden, so konnte sich aus dem von ihm an die letztere gestellten Begehren, das Protectorat Russlands über alle griechischen Christen anzuerkennen, ein casus belli entwickeln, der im Juli 1853 zum Einmärsche der Russen in die Moldau und sodann zum Krimkriege führte, in welchem Russland allerdings den verbundenen Waffen Frankreichs, Englands, Sardiniens und der Türkei unterlag.

Trotz dieses für Russland höchst nachtheiligen Ausgangs des Krieges, auf welchen der Pariser Congress von 1856 folgte, durch den u.a. die Unverletzlichkeit des türkischen Gebietes von allen Mächten verbürgt wurde, begannen zwanzig Jahre nachher unter russischem Einflüsse die kriegerischen, zwar wenig erfolgreichen Bewegungen in Montenegro und Serbien gegen die Pforte und die revolutionäre, aber blutig niedergeworfene Erhebung in Bulgarien, wodurch die europäischen Mächte zum Einschreiten und schliesslich Russland zum Beginne eines neuen Krieges gegen die Türkei veranlasst wurde. War es diesmal auch siegreich, so entsprachen die Früchte des Krieges doch offenbar den ungeheuern Opfern an Geld und Menschenleben nicht, welche es erheischt hatte. Nachdem der zwischen Russland und der Türkei im März 1877 abgeschlossene Vertrag von San Stefano in Folge Einsprache von England und Österreich hinfällig wurde, folgte ihm der Berliner Vertrag von 1878, der zwar den bisherigen Vasallenstaaten, Serbien und Rumänien, die Unabhängigkeit brachte, Bosnien und die Herzegowina der türkischen Verwaltung gänzlich entzog, Bulgarien zu einem autonomen Fürstenthum unter türkischer Suzeranität erhob, Russland selbst aber nur unbedeutende, directe Vortheile einräumte, während es ursprünglich doch ohne Zweifel hauptsächlich auf weit grössere abgesehen war. Für Russland verschlimmerten sich die Verhältnisse in der Folge noch um so mehr, als sich Bulgarien trotz aller Wühlereien unter der Regierung des Fürsten Alexander und auch nachher mehr und mehr dem russischen Einflüsse entzog, während sich Serbien ganz dem österreichischen hingab und Österreich die ihm blos zur Verwaltung übergebenen Provinzen Bosnien und Herzegowina den übrigen Theilen des Reiches mehr und mehr assimilirt, in dessen Zollverband sie auch längst aufgenommen sind.

Wenn nun offizielle Verhandlungen zwischen Russland und den übrigen Mächten bis zur Stunde nicht stattgefunden zu haben scheinen, so darf doch als sicher angenommen werden, dass es insbesondere zwischen Deutschland und Österreich an freundschaftlichen Besprechungen über die Lage nicht fehlt, in welcher Weise Russland wenigstens so weit Satisfaction gegeben werden könnte, um es zu veranlassen, von weiterm kriegerischen Vorgehen abzustehen. Und hier wird es nun wesentlich nur darauf ankommen, ob Österreich von seinem im Nov. 1886 eingenommenen Standpuncte zurücktreten und Russland Bulgarien Preis geben oder ob es auf demselben verharren wird. Im letztem Falle dürfte der Ausbruch des Krieges unvermeidlich sein. Österreich wird zunächst gezwungen sein, eine beträchtliche Armée an der russischen Grenze in Galizien aufzustellen, während Russland im Einverständniss mit Rumänien oder ohne dasselbe Bulgarien militärisch besetzt, um dort diejenigen Einrichtungen zu treffen, welche seinen Interessen angemessen scheinen. Dann wird Österreich an seiner galizischen Grenze Russland angreifen oder im Einverständniss mit Serbien auch seinerseits einen Theil von Bulgarien besetzen müssen, in welchem Falle dort der Krieg zum Ausbruch kommen dürfte. Die Preisgebung Bulgariens wäre allerdings auch denkbar, wenn vielleicht unter der Einwirkung Deutschlands Österreich vom seinem Standpunkt von 1886 zurücktreten würde. Eine Verständigung auf dieser Grundlage müsste aber ähnliche Wirkungen wie die gewaltsam erzwungene Besitzergreifung Bulgariens durch Russland nach sich ziehen. Die panslawistischen Tendenzen, von welchen auch die österreichisch-ungarischen Provinzen unterwühlt sind, würden dadurch nicht eingeschränkt, sondern viel eher ermuthigt und die Gefahren für Österreich erhöht werden.

Österreich-Ungarn befindet sich daher unzweifelhaft in einer äusserst klemmen Lage. Ich halte dafür, dass ihm in derselben die Trippelallianz nur von geringem Werthe ist, namentlich wenn es sich veranlasst sehen sollte, selbst anzugreifen. Nur wenn es Gefahr laufen würde, durch Russland ganz niedergeworfen und zu Friedensbedingungen gezwungen zu werden, welche seine Machtstellung wesentlich erschütterten, dürfte es auf die Hülfe Deutschlands zählen.

Bei der Stellung, die Russland eingenommen, scheint mir daher ein Krieg zwischen dem Czar und der österreichisch-ungarischen Monarchie unvermeidlich, ob nun die letztere der angegriffene oder der angreifende Theil ist. Was sich daraus weiter entwickeln wird, wer kann es voraussehen! Man denkt dabei unwillkürlich an die nach 1815 in Europa vorwaltende Metternich’sche Politik zurück, welche, bei allen ihren Schattenseiten, doch eine wahrhaft conservative war und auch den kleinern Staaten Garantien für ihren Fortbestand gewährte. Wohin werden wir aber heute kommen, wenn die Grossmächte unter sich in Krieg gerathen und dabei eine jede nur auf Erweiterung ihrer Macht bedacht ist!

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Bericht: E 2300 Wien 24.
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