Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
III. SICHERHEITSPOLITIK
1. Internationale Lage und Kriegsgefahr
1.1. Die Lage in West- und Mitteleuropa
Imprimé dans
Documents Diplomatiques Suisses, vol. 3, doc. 308
volume linkBern 1986
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Archives | Archives fédérales suisses, Berne | |
▼ ▶ Cote d'archives | CH-BAR#E2#1000/44#1643* | |
Ancienne cote | CH-BAR E 2(-)1000/44 270 | |
Titre du dossier | Unterhandlungen mit Frankreich zur Regelung der Detailfragen für eine eventuelle Besetzung des neutralisierten Gebietes Nordsavoyens durch eidgenössische Truppen (1886–1887) | |
Référence archives | B.137.1 |
dodis.ch/42287 Streng confidentiell
Gestern Abend traf ich, wie alljährlich am 5. Januar, anlässlich eines Geburtstags-Festes in einem dem Feldmarschall Graf Moltke und mir näher befreundeten Hause mit ersterm zusammen.
Unsere Unterhaltung drehte sich bei diesem Anlasse indess ausschliesslich um Dinge, welche der Politik fernliegen. Erst bei der gegenseitigen Verabschiedung nahm der Graf Anlass, die Situation anzutönen, indem er mir zurief: «Rüsten Sie sich nur!»
Der Umstand, dass Moltke in diesem Momente sich bereits anschikte, die Gesellschaft zu verlassen, hinderte mich jedoch daran, ihn um nähere Auskunft zu bitten und so war ich denn in der unangenehmen Lage, seinen wenig tröstlich lautenden Nachtgruss bis auf Weiteres ohne jeden Commentar entgegennehmen zu müssen.
Heute war es aber mein Erstes, den Feldmarschall aufzusuchen und zwar um 11 Uhr Vormittags, welche Stunde er mir seiner Zeit als diejenige Tageszeit bezeichnete, zu welcher er mich immer empfangen werde. Ich darf wohl hinzufügen, dass ich den alten Herrn näher kenne, dass wir seit einer Reihe von Jahren gesellschaftlich miteinander verkehren und dass somit meine jeweiligen Besuche bei ihm sich eigentlich von selbst verstehen, d. h. für ihn durchaus nichts Auffälliges haben.
Ich führte mich heute mit dem Bemerken bei ihm ein, gestern Abend, nachdem er die gedachte Äusserung gethan, sei es mir leider nicht mehr möglich gewesen, ihn zu sprechen; er werde aber begreifen, dass ich grossen Werth darauf lege, von ihm vertraulich zu erfahren, wie ich die fraglichen Worte aufzufassen habe und wie er die Situation beurtheile.
Hierauf sprach sich dann Moltke wie folgt aus:
«Es ist zur Zeit sehr schwer, sich eine Meinung darüber zu bilden, was kommen wird. Alle Regierungen wünschen ja aufrichtig, den Frieden zu erhalten, und man muss auch hoffen, dass ihnen dies gelingen möge, denn giebt es jetzt Krieg, so wird es ein fürchterlicher Krieg sein, ein Krieg mit Sengen und Brennen. Auf die Friedensversicherungen aus Frankreich dürfen wir uns aber nicht zu sehr verlassen. Nur starke Regierungen können Vertrauen einflössen. Frankreich hat keine starke Regierung. Von heute auf morgen kann dort Alles in Frage gestellt sein; daher müssen wir für alle Eventualitäten gerüstet sein.
Die Schweiz hat von uns im Falle eines Krieges nichts zu befürchten. Wir werden nie daran denken, die Schweiz. Neutralität zu verletzen. Das wäre ja widersinnig. Dagegen könnte es allerdings den Franzosen eventuell einfallen, den Weg durch schweizerisches Gebiet zu nehmen, um in Süd-Deutschland einzufallen. Wenn die Schweiz aber gerüstet, wenn sie gewillt ist, fest für die Wahrung der Neutralität einzustehen und wenn man in Paris weiss, dass man bei einer derartigen Combination also vorerst mit dem Widerstand einer vorzüglich geschulten und ausgerüsteten Armee von 100,000 Mann zu rechnen haben würde, ehe man überhaupt an unsere Grenze gelangen könnte, so darf man doch als ziemlich sicher annehmen, dass die Schweiz auch von dort her nichts zu fürchten hat. Hierauf kann aber nur unter der Bedingung gezählt werden, dass man schweizerischerseits wirklich gerüstet ist und deutlich zu verstehen giebt, dass man fest entschlossen wäre, die Neutralität mit dem ganzen Aufwande der verfügbaren Kräfte zu vertheidigen. Das habe ich gestern Abend andeuten wollen.
Übrigens setzen wir das nöthige Vertrauen in die Schweiz. Wir sind überzeugt, dass man sich dort rechtzeitig vorsieht und auch den festen Willen hat, die Neutralität unter allen Umständen zu wahren.
Weniger zweifellos erscheint uns die eventuelle Haltung Belgien’s. Wären wohl dort die Regierung und die Kammern geneigt und stark genug, sich bei einem Kriege zwischen Frankreich und Deutschland einem Durchmarsche der französischen Armee zu widersetzen? Es herrscht in Belgien eben immer ein gewisses Misstrauen gegen Deutschland, wegen dessen angeblicher Annexionsgelüste.
Auch ein Einbruch im Norden, auf dem Wege über Belgien, erscheint mir indess kaum wahrscheinlich. Ich muss vielmehr annehmen, dass die Franzosen versuchen würden, uns direkt zu fassen und zwar in Elsass-Lothringen und da wären Strassburg und Metz ihre Hauptangriffsobjekte. Für Alles sind wir gerüstet. Wir sind auch gerüstet, um nach zwei Seiten hin Front zu machen. Der Kaiser Alexander ist unbestritten ein sehr friedliebender Herr. Wird er aber gegenüber der slavischen Gegenströmung Stand halten können? Auch der verstorbene Czar war friedliebend. Als derselbe sich seiner Zeit nach Moskau begab, hatte man eben doch den Krieg.
Sollte Russland jetzt zum Kriege kommen, so würde es sich zweifellos in erster Linie gegen Ostreich wenden, welches ihm den Weg nach Konstantinopel versperrt. In diesem Falle müsste es seine Armee in Warschau concentriren. Warschau aber liegt hart an unserer Grenze. Mithin wären wir gezwungen, zur Dekung der Grenze einen Theil unserer Armee der Verwendung im Westen zu entziehen.
Kein Staat in Europa ist so schlecht situirt, wie Deutschland. Frankreich hat im Rüken Dekung durch die Pyrenäen, Russland ist gedekt durch wilde Völkerschaften, welche ihm, weil zersplittert, nie gefährlich werden dürften. Wir aber befinden uns im Osten und Westen ohne Dekung und wer weiss, ob nicht auch Dänemark zweifelhaft wäre. Nur wenn wir ein starkes Heer haben, können wir allen diesen Gefahren dreist ins Auge sehen. Nur dann kann Deutschland und mit ihm Europa auf die Erhaltung des Friedens hoffen. Und trotz dieser für Jedermann feststehenden Thatsache haben wir eine solche Mühe, unsere Vorlage betreffend Erhöhung der Friedenspräsenzziffer der deutschen Armee im Reichstage durchzubringen. Wir Deutschen sind unglaublich. Während die Franzosen per acclamation für ihre Heeresorganisation hunderte von Millionen votiren, müssen wir uns Wochen hindurch mit der Volksvertretung herumzanken, um das für die Erhaltung des Reichs absolut Nothwendige am Ende doch nicht zu erhalten.
Das wird sich indess nun bald entscheiden. Giebt uns der Reichstag nicht, was wir bedürfen, so wird er eben aufgelöst, und erlangen wir trotzdem vom Reiche nicht, was wir haben müssen, so lassen wir das Reich Reich sein und verlassen uns auf das alte Preussen, welches uns nicht im Stiche lassen wird.»
Auf meine Bemerkung, ich wolle nunmehr seine kostbare Zeit nicht weiter in Anspruch nehmen, antwortete der Feldmarschall in übrigens sehr verbindlicher Form, Arbeit liege allerdings in Hülle und Fülle vor, denn man habe betreffend die gedachte Vorlage Alles für beide Eventualitäten, für die Annahme und für die Verwerfung, vorbereiten müssen. Auch diese Arbeiten seien jedoch in der Hauptsache durchgeführt.
Sie gestatten mir wohl, Herr Bundespräsident, dass ich es Ihnen überlasse, das Facit aus obigen Mittheilungen zu ziehen. Relata refero. Ich habe die Empfindung, dass diese «Gegenprobe» die von mir bis anhin vertretene Anschauung über die Situation in der Hauptsache keinesweg widerlegt hat.
- 1
- Bericht: E 2/1643.↩
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