Abgedruckt in
Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 22, Dok. 44
volume linkZürich/Locarno/Genève 2009
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Archiv | Schweizerisches Bundesarchiv, Bern | |
▼ ▶ Signatur | CH-BAR#E2001E#1979/28#35* | |
Alte Signatur | CH-BAR E 2001(E)1979/28 8 | |
Dossiertitel | Verhältnisse nach der Wiederaufnahme der schweizerisch-russischen Beziehungen (1961–1963) | |
Aktenzeichen Archiv | B.15.11.2 • Zusatzkomponente: Russland |
dodis.ch/30154
Der schweizerische Botschafter in Moskau, M. Troendle, an den Vorsteher des Politischen Departements, F. T. Wahlen1
Für Departementschef und Integrationsbüro:
Ich hatte gestern auf eigene Initiative ein mehr als einstündiges Gespräch mit dem ersten Vizeaussenminister Kuznetsov.
1. Ich begann mit dem Ausdruck der Hoffnung auf Erhaltung des Friedens, wobei mein Gesprächspartner nach Darlegung der sowjetischen Koexistenztheorie der schweizerischen Neutralität spontan grosses Lob zollte. Alle sowjetischen Delegierten, welche unser Land besuchen, seien beeindruckt von der Hilfsbereitschaft der Behörden und von der schweizerischen Gastfreundschaft. Nachdem die Sowjetunion mit ihren Friedensbemühungen vielerorts Misstrauen begegne, wäre es begrüssenswert, wenn sich die Schweiz ihr internationales Vertrauen zu nutze machen würde, um für die Erhaltung des Weltfriedens zu wirken. Ich erwiderte, dass der Bundesrat stets bereit sei, seine guten Dienste zur Verfügung zu stellen, wenn dies von allen interessierten Parteien gewünscht werde, er sei indessen eher zurückhaltend, wenn es sich um Aktionen aus eigener Initiative handle, denn es liege der kleinen Schweiz nicht, sich als Vermittler im Streit der Grossen aufzuspielen, ohne hiezu ausdrücklich eingeladen worden zu sein.
2. Ich führte hierauf das Gespräch auf das Integrationsproblem, wobei ich zunächst auf die leider erfolglosen schweizerischen Bemühungen hinwies, im Rahmen der OECE eine gesamteuropäische Freihandelszone zu schaffen2. Die neutrale Schweiz sei nach wie vor gegen wirtschaftliche Blockbildungen in Europa und versuche nun, im Einvernehmen mit ihren EFTA-Partnern, einen Brückenschlag zu den Mächten des gemeinsamen Marktes, um auf wirtschaftlichem Gebiet nicht diskriminiert zu werden. Eine Vollmitgliedschaft bei der EWG falle indessen zum vorneherein ausser Betracht, weil sie eine teilweise Aufgabe der staatlichen Unabhängigkeit mit sich brächte.
Kuznetsov enthielt sich jeglicher Kritik im Zusammenhang mit unserem im vergangenen Dezember der EWG unterbreiteten Verhandlungsbegehren3 und wollte von mir im Einzelnen die Gründe wissen, welche einer Vollmitgliedschaft der Schweiz entgegenstehen. Dank der in Bern erhaltenen Aufschlüsse4 fiel es mir nicht schwer, erschöpfend Auskunft zu erteilen und Kuznetsov damit vor Augen zu führen, dass wir entschlossen sind, unabhängig zu bleiben, selbst auf die Gefahr hin, gewisse Nachteile wirtschaftlicher Natur in Kauf nehmen zu müssen.
Ich betonte auch unser enges Einvernehmen mit Schweden und Österreich, was Kuznetsov Anlass bot zu einer Kritik an der schwedischen Neutralitätspolitik im Zusammenhang mit der schwedischen Mitwirkung bei den UNO-Aktionen im Kongo. Er kam aber auch
3. auf die Einstellung einzelner schweizerischen Zeitungen zu sprechen, mit der Bemerkung: «the swiss machinery forming the public opinion brings distorted news about the Soviet Union». Ich konnte hierbei natürlich nicht eine gewisse Gereiztheit unserer öffentlichen Meinung der Sowjetunion gegenüber in Abrede stellen und gab Kuznetsov zu bedenken, dass die Sowjetregierung mit der Explosion der Megatonnenbombe unter anderem auch all denjenigen Schweizern eine schwere Enttäuschung bereitet habe, welche ihren Friedensbeteuerungen und dem propagandistisch ausgebeuteten unilateralen Verzicht auf weitere Kernwaffenversuche Glauben schenkten. Auf die Neutralitätspolitik des Bundesrates habe diese Stimmung der Bevölkerung, die sich mit der Zeit wieder beruhigen werde, keinerlei Einfluss. Ich verwies als Beispiel auf die Erklärungen BundesratSchaffners zur Osthandelsfrage5. Kuznetsov war vollkommen im Bild und sagte, diese klare Stellungnahme des Bundesrates sei in Moskau mit Genugtuung verzeichnet worden. Er verstehe auch bis zu einem gewissen Grad die schweizerische Reaktion auf den Atomversuch, selbst in der Sowjetunion selbst habe es enttäuschte Gemüter gegeben, welche die Gründe nicht erkennen konnten, welche die Sowjetregierung zu diesem demonstrativen Schritt nötigten.
Im Zusammenhang mit den sowjetophoben Kundgebungen in der Schweiz ist somit kein Wort der Kritik an die Adresse des Bundesrates gefallen, was verdient festgehalten zu werden, denn die Sowjetbehörden sind sonst nicht so duldsam. Die Vermutung drängt sich auf, dass zur Zeit Moskau besonderes Interesse an der Existenz neutraler Staaten in Europa hat, und daher bewusst über die unfreundliche Stimmung in der Schweiz hinwegsieht. Die Antwort des Bundesrates auf die Interpellation Reverdin in der Frühjahrssession6 wird hier sicher mit besonderer Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen werden und hoffentlich auch beitragen, dass es nicht zu unnötigen zwischenstaatlichen politischen Spannungen kommt, zumal wohl mit einer fortschreitenden Beruhigung der Gemüter in der Schweiz gerechnet werden darf.
- 1
- E 2001(E)1979/28/8.↩
- 2
- Vgl. DDS, Bd. 21, thematisches Verzeichnis: III.1.5: Die Schweiz und die europäische Freihandelszone.↩
- 3
- Vgl. DDS, Bd. 22, Dok. 34, dodis.ch/30143.↩
- 4
- Vgl. DDS, Bd. 22, Dok. 42, dodis.ch/30179.↩
- 5
- Vgl. die Antwort von H. Schaffner auf die Frage von Nationalrat A. Grendelmeier vom 21. Dezember 1961, E 1301(-)1960/51/452.↩
Tags
Neutralitätspolitik Russland (Allgemein) Ost-West-Handel (1945–1990)