Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 15, doc. 135
volume linkBern 1992
more… |▼▶Repository
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E4800.1#1967/111#319* | |
Old classification | CH-BAR E 4800.1(-)1967/111 72 | |
Dossier title | Verkehr mit verschiedenen Ländern: Amerika (1932–1954) | |
File reference archive | 1.04.27 |
dodis.ch/47739
ABENDESSEN BEI HERRN DULLES VON DER AMERIKANISCHEN GESANDSCHAFT, ZUSAMMEN MIT DEN HERREN MC CLELLAND, ATTACHÉ FÜR DIE FLÜCHTLINGSFRAGEN, UND V. GAEVERNITZ, HONORARATTACHÉ VON HERRN DULLES, VON FREITAG, DEN 12. MAI 1944.
Das Abendessen war arrangiert, um mir Gelegenheit zu geben, mich namentlich mit Herrn Mc Clelland darüber auszusprechen, was das «War Refugee Board» in der Flüchtlingsfrage für die Schweiz tun könnte.
Herr von Gaevernitz, ein Deutsch-Amerikaner, den ich seit mehreren Jahren als sehr aufgeschlossenen Menschen mit ausgesprochenen Neigungen für humanitäre Aufgaben kenne, hatte mich vor ca. 6 Monaten bereits einmal bei Herrn Dulles eingeführt, damit ich ihm unser Flüchtlingsproblem auseinandersetzen könne. Die gestrige Zusammenkunft hat er vorbereitet, da der Moment sehr günstig sei, unsere Anliegen anzubringen, weil der «War Refugee Board» dringend etwas Positives unternehmen wolle und müsse.
Das Gespräch begann nach dem Abendessen ganz allmählich und ungezwungen mit der Flüchtlingsfrage. Herr Mc Clelland, der ja auf meine Veranlassung, als Vertreter der Quäker-Organisation, als welcher er in Italien und dann in Frankreich in der Flüchtlingsfrage gearbeitet hatte, nach der Schweiz gekommen war, ist ein vollkommen natürlicher, einfacher und offener Mensch. Alles was er möchte, ist praktische Arbeit an der Lösung des Flüchtlingsproblems. Unsere Verhältnisse kennt er genau aus eigener Anschauung; unsere Grundauffassung im Flüchtlingsproblem ist ihm durch eine Reihe von Gesprächen mit mir ebenfalls geläufig.
Das Gespräch drehte sich zuerst um die Frage der Kinder. Ich verweise auf die in Abschrift beigeheftete Notiz von Herrn de Haller vom 30. März 1944 über eine Unterhaltung des amerikanischen Gesandten mit dem Vorsteher des Eidg. Politischen Departements, wonach die amerikanischen Konsulate vom Staatsdepartement ermächtigt worden sind, Einwanderungsvisa für die Vereinigten Staaten von Amerika an Flüchtlingskinder aus Frankreich die zwischen dem 1. Januar und 1. Juli 1944 in die Schweiz eingereist sind, bis zu diesem letzteren Tag und bis zu einer Gesamtzahl von 4000 zu erteilen. Das Datum vom 1. Juli 1944 kann eventuell durch besondere Verfügung des Staatsdepartements verlängert werden. Die Kinder dürfen noch nicht das Alter von 16 Jahren erreicht haben im Augenblick der Visumserteilung. Sie bleiben im Besitz der Visa, bis sie nach Amerika fahren können2.
Herr Mc Clelland bemerkte von sich aus, das Datum des 1. Januar 1944, von welchem an die Kinder in die Schweiz eingereist sein müssten, scheine ihm recht willkürlich zu sein; er verstehe nicht recht, weswegen es angesetzt worden sei, und könnte sich denken, dass es aufgehoben würde.
Ich bemerkte, wahrscheinlich habe man in Unkenntnis der Verhältnisse bei uns gedacht, das könne die Schweiz veranlassen, künftig noch mehr Kinder zuzulassen.
Herr Mc Clelland erklärt, er beabsichtige in Washington zu beantragen, alle in der Schweiz anwesenden Flüchtlingskinder ohne Eltern in diese Visa einzubeziehen. Er habe bereits mit Frl. Hohermuth und Frau Dr. Sutro Fühlung genommen, um ihre Zahl festzustellen. Die Gesamtzahl der heute in der Schweiz anwesenden Flüchtlings- und Emigrantenkinder beträgt ungefähr 3500.
Herr von Gaevernitz hatte mir anlässlich einer Vorbesprechung unter vier Augen angedeutet, wir könnten vielleicht zu erreichen versuchen, dass diejenigen Emigranten und Flüchtlinge, die bereits einmal das Visum für Amerika besessen hatten, oder denen es schon zugesichert war, reaktiviert würden, damit die Einwanderungsquote 1944 mit ihnen belastet würde und die Quote 1945 frei bleibe. Das Gleiche hatte mir vorgestern Donnerstag, den 11. Mai, Herr Huddle, der Legationsrat der amerikanischen Gesandtschaft, den ich bei einem Mittagessen auf der polnischen Gesandtschaft traf, gesagt.
Dieser Punkt wurde aber nicht in dieser Weise aufgeworfen von Herrn Mc Clelland. Ich habe deshalb die Sache anders angepackt und habe folgende Frage gestellt:
Ist es nicht möglich, dass neben den Flüchtlingen (immer Flüchtlinge und Emigranten gemeint), die bereits Visa für Amerika hatten oder sich um solche bemühten, heute andere erstmalige Gesuche stellen können, die dann in aller Ruhe geprüft werden?
Darüber ergab sich eine sehr gelöste Aussprache. Zunächst über die Zahl der Juden, deren Auswanderung nach Amerika aus Europa noch in Frage kommen könnte. Herr Huddle hatte mir am Donnerstag klar die Frage gestellt, ob wir wüssten, wie gross die Zahl der in Deutschland und in den deutschbesetzten Ländern noch anwesenden Juden sei, er vermute, sie sei noch ziemlich gross. Ich hatte ihm geantwortet, wir hätten nur die Zahlen, die aus Flüchtlingskreisen kämen, ich sei aber überzeugt, dass die Nachrichten über die Vernichtung der Juden durch die Gestapo auf Richtigkeit beruhen, sodass eine sehr grosse Reduktion der Zahl der Juden eingetreten sein müsse.
Herr Mc Clelland äusserte sich gestern von sich aus im gleichen Sinne. Er erklärte ferner, er habe ständig Fühlung mit Frl. Hohermuth, die ihn über das Resultat der Erhebungen mit dem neuen Fragebogen, die versuchsweise bei etwa 500 Flüchtlingen durchgeführt werden, auf dem laufenden halte. Es bestehe heute schon der Eindruck, dass über 90 Prozent der österreichischen Juden nach Österreich zurückkehren möchten. Anders sei es mit den Deutschen. Ich bemerkte dazu, dass es wohl kaum möglich sei, über diesen Punkt sich heute schon ein klares Bild zu machen. Ich hätte auf jeden Fall zahlreiche deutsche Juden gesehen, die trotz aller Verfolgungen stark verbunden seien mit Deutschland. Die Rückkehrmöglichkeit bezw. der Rückkehrwille werde natürlich auch davon abhängen, ob den vertriebenen Juden ihr Hab und Gut wieder zurückgegeben werden müsse. Dazu bemerkte Herr Dulles, das werde kaum möglich sein, weil das Geld nicht mehr vorhanden sei. Ich wies auf die arisierten Betriebe hin, worauf Herr von Gaevernitz einwendete, er könne sich nicht gut vorstellen, dass ein jüdischer Industrieller sich nach dem Krieg wieder an die Spitze seines Unternehmens in Deutschland setzen könnte. Ich entgegnete, das scheine mir gar nicht ausgeschlossen zu sein, denn wir müssten doch erwarten, dass in Deutschland eine viel radikalere Abkehr vom Nationalsozialismus erfolgen werde als z. B. in Italien vom Fascismus, und dass namentlich in der Bevölkerung der starke Wille vorhanden sein würde, Schlimmes und Unwürdiges, was unter dem heutigen Regime geschehen sei, wieder gutzumachen. Für mich stelle sich die Frage vielmehr so, ob der deutsche Jude gezwungen werden könne zur Rückkehr, auch wenn er nicht wolle.
Herr Mc Clelland schien meinen Überlegungen sehr zu folgen. Er scheint anzunehmen, dass aus Deutschland und den besetzten Ländern kaum eine wesentliche Auswanderung nach Übersee zu erwarten sei. Auf meinen Einwand, es sei für uns trotz aller Anstrengungen, auch mit der neuen Flüchtlingskommission, für Freizeitbeschäftigung, Schulung und Umschulung ausserordentlich schwer, die Flüchtlinge, die zum Teil schon recht lange hier seien, psychisch und physisch gesund durchzuhalten, ging er ebenfalls sofort ein und überlegte, dass der Umstand, dass die Flüchtlinge in grösserer Zahl ihren Blick auf ein Ziel richten könnten durch Vorbereitung der Auswanderung nach Übersee, sehr heilsam sein könnte. Ich bemerkte, wenn nur einige in einem Lager von 100 in dieser Lage wären, wäre die ganze Atmosphäre des Lagers eine bessere.
Herr Mc Clelland wies natürlich auch auf die besetzten Länder hin, aus denen Flüchtlinge nach der Schweiz gekommen sind. Ich teilte mit, die holländische Regierung habe eine Erklärung abgegeben, wonach alle Personen, die am 10. Mai 1940 in Holland gewohnt hätten, nach dem Krieg dorthin zurückkehren könnten, z. B. auch die polnischen Juden. Herr Mc Clelland hob hervor, wie notwendig es wäre, die Sache mit Holland genau zu fixieren und darauf zu drücken, dass auch die ändern Ländern, wie Belgien und Frankreich, solche Erklärungen abgeben. Italien wird als sicher angenommen für die Rückübernahme seiner Angehörigen, auch der Juden.
Hingegen betont Herr Mc Clelland, dass er bis jetzt überall habe feststellen müssen, dass die polnischen Juden, die auch nur eine Zeitlang in Westeuropa gelebt hätten, durchs Band nicht mehr nach Polen zurückkehren wollten.
Ich erklärte, es sei ja nicht nötig, dass alle, die noch auswandern müssten, nach den Vereinigten Staaten von Amerika zögen. Worauf Herr Dulles auf Australien hinwies, das wegen seiner viel zu geringen Bevölkerung heute von den Japanern besetzt wäre, wenn die Amerikaner es nicht davor bewahrt hätten. Es sei ja anzunehmen, dass sie etwas daraus gelernt hätten.
Ich fragte Herrn Mc Clelland, ob er nicht in nächster Zeit einmal bei mir vorbeikommen könnte. Wir könnten dann, zusammen mit Herrn Zwerner und Herrn Dr. Schürch die Statistik auseinandernehmen, um festzustellen, wie gross maximum die Zahl der Anwärter einer Auswanderung nach den Vereinigten Staaten sein könne. Herr Mc Clelland erklärte, es sei ja der Zweck des neuen Fragebogens, diese Feststellung zu machen, aber das gehe viel zu lange, worauf Herr Dulles einfiel und hervorhob, heute wolle der «War Refugee Board» etwas unternehmen und einen positiven Erfolg haben. Es sei deshalb nötig, bald zu berichten, was wir von ihm erwarteten.
Die Unterhaltung war vollkommen ungezwungen. Die Basis auf amerikanischer Seite war zweifellos die Anerkennung dessen, was die Schweiz getan hat für die Flüchtlinge, und die Überzeugung und der gute Wille, uns zu helfen für deren baldige Weiterreise, sobald sich eine Möglichkeit zeigt. Es war eigentlich eine Beratung über eine gemeinsame Sorge, ohne jeden Rückhalt.
Das Ergebnis ist folgendes:
Wir werden versuchen, ungefähr festzulegen, wir gross die Zahl der Anwärter für die Vereinigten Staaten von Amerika ist (Herr Mc Clelland hat beiläufig von 5-10-20000 gesprochen), und werden diese Zahl Herrn Mc Clelland übermitteln, der vom «War Refugee Board» verlangen wird, das Staatsdepartement dazu zu bringen, dass Gesuche um Visa sofort in Behandlung genommen werden, damit tunlichst die Einwanderungsquote 1944 noch belastet werden kann, auch wenn die Flüchtlinge erst später reisen können.
Ferner müssen wir an die ändern Länder, aus denen wir Flüchtlinge haben, besonders an Belgien, gelangen, um zu versuchen, eine bestimmte Erklärung für die Rückübernahme der von dort übergekommenen zu erhalten, Es dürfte sich offenbar auch lohnen, die Holländer noch einmal zu sondieren. Herr Mc Clelland hat verschiedene Male darauf hingewiesen, sodass ich annehmen muss, er habe Grund, der bereits abgegebenen Erklärung nicht ganz zu trauen. Mit Frankreich wird kaum etwas zu machen sein, wohl aber vielleicht mit gewissen Balkanländern.
Darüber dass unser ganzes grosses Interesse auf die Weiterwanderung der Flüchtlinge geht, besteht auf amerikanischer Seite kein Zweifel. Die Frage einer ändern Hilfe für uns, mit Geld, Nahrungsmitteln oder Textiliensendungen, wurde nur ganz kurz berührt. Herr Mc Clelland erklärte sofort, er sei ganz im Bilde. Herr Minister Bonna, dem er gestern seine Antrittsvisite3 gemacht hatte, scheint ihm darüber eine Bemerkung gemacht zu haben; übrigens weiss er es von mir von früher her. Als ich die Frage der Propaganda antönte, reagierte Herr Mc Clelland spontan und erklärte, Herr Minister Bonna habe ihm auseinandergesetzt, wie wenig üblich und unzweckmässig die Pressepropaganda über seine Ernennung zum Flüchtlingsattaché gewesen sei. Er will beim «War Refugee Board» ganz energisch abbremsen in dieser Richtung.
Ich hatte übrigens auch darauf aufmerksam gemacht, dass bereits eine Vorbereitung zur Auswanderung von arbeitslosen Schweizern nach dem Krieg verlangt wird von den schweizerischen Behörden und dass wir selbstverständlich nicht etwa Flüchtlinge hier belassen und Schweizer fortschicken könnten.
- 1
- (Copie): E 4800 (A) 1/5.↩
- 2
- En outre, Ed. de Haller écrit dans cette notice: L’octroi de ces visas ne doit pas être subordonné à la possibilité pour les enfants d’être transportés aux Etats-Unis; on ne se préoccupera ni de la religion, ni de la nationalité, ni encore du défaut de nationalité, la seule condition exigée étant que les enfants n’aient pas atteint l’âge de 16 ans au moment où le visa est délivré. Les visas ainsi octroyés restent soumis aux exigences légales régissant l’immigration aux Etats-Unis. Des mesures sont prévues afin que les enfants qui auront obtenu un visa dans ces conditions, restent au bénéfice dudit visa jusqu’à ce qu’ils puissent se rendre aux Etats-Unis; les cas de bénéficiaires, qui entre-temps auront atteint l’âge de 16 ans et qui désirent renouveler leur visa, devront être soumis au Département d’Etat. On a souligné que les dispositions qui précèdent ne valent que pour autant qu’elles demeurent compatibles avec les changements que pourrait subir la législation actuellement en vigueur en matière d’immigration aux Etats-Unis. Les autorités américaines sont en outre disposées à envisager des mesures analogues pour application après le 1er juillet 1944. Cf. E 2001 (D) 1968/74/15.↩
- 3
- Cf. E 2001 (D) 1968/74/13.↩
Tags
Internees and prisoners of war (1939–1946)