Abgedruckt in
Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 12, Dok. 411
volume linkBern 1994
Mehr… |▼▶Aufbewahrungsort
Archiv | Schweizerisches Bundesarchiv, Bern | |
▼ ▶ Signatur | CH-BAR#E2001D#1000/1551#6034* | |
Alte Signatur | CH-BAR E 2001(D)1000/1551 196 | |
Dossiertitel | Deutschland - Tschechoslowakei, München (1938–1938) | |
Aktenzeichen Archiv | B.74.07 |
dodis.ch/46671
Im Anschluss an meinen Bericht vom 24. dieses Monats3 und in Fortsetzung meines Schreibens gestrigen Datums4, welches zum Zwecke der Versendung am Spätnachmittag abgebrochen wurde, beehre ich mich, folgendes zu Ihrer Kenntnis zu bringen.
Nach der historischen Nacht vom 29. auf den 30. September, die von der amerikanischen Presse als das grösste Ereignis seit dem Tage des Waffenstillstandes im Weltkrieg bezeichnet wird, ist in München wohltuende Ruhestimmung zu konstatieren. Der Tag steht unter der Devise, die Ministerpräsident Chamberlain geprägt hat: «München bringt Glück».
Die «Münchner Neuesten Nachrichten» veröffentlichen heute unter der Überschrift «Bern - München. Telephonischer Sonderdienst der Bundesregierung» den vom 29. September datierten nachstehenden Bericht ihres O. Sch. Korrespondenten:
«In der Schweiz folgt man mit der gespanntesten Aufmerksamkeit den einzelnen Phasen des grossen Treffens in der Hauptstadt der Bewegung. Die Blätter heben einheitlich den freudigen Empfang hervor, den die Bevölkerung von München nicht nur dem Duce, sondern auch Daladier und Chamberlain bereitete. Die Regierung hat, wie die ‘Basler Nachrichten’ melden, in Zusammenarbeit mit der Gesandtschaft in Berlin und dem Generalkonsulat in München einen telephonischen Spezialdienst mit München hergestellt. Besondere Bedeutung messen die ersten Kommentare und Berichte der Fühlungnahme zwischen dem Führer und Daladier zu, die, wie die Blätter unterstreichen, betont herzlich gewesen sei. Wie die Presse heute meldet, war die Schweiz am Mittwoch im Begriff, die Grenzschutzbrigaden zu mobilisieren, als die Meldung von dem Vier-Staatsmänner-Treffen eintraf, worauf die Absicht natürlich aufgegeben wurde. Im übrigen dankte im Zusammenhang mit einem Bericht von dem Nationalrat über die 18. Versammlung der Genfer Liga Bundesrat Motta allen, die der Schweiz geholfen hätten, die integrale Neutralität zurückzuerlangen, so u.a. den Regierungen Deutschlands, Italiens, Frankreichs und Grossbritanniens. Er gab abschliessend der Überzeugung Ausdruck, dass die Schweiz jederzeit auf die Respektierung ihrer Neutralität rechnen könne.»
Wenn man sich vergegenwärtigt, welch unheimlicher Druck auf dem Telefonnetz der bayerischen Hauptstadt gelegen ist, muss man sich wundern, wie verhältnismässig reibungslos die zahlreichen Verbindungen mit Berlin und mit Bern sowie die Fernanrufe in umgekehrter Richtung sich abgewickelt haben. Die Situation änderte sich oft in den allerkürzesten Zeitabständen, sodass in dem Moment, wo das verlangte Gespräch erhältlich war, die Lage sich wiederum gewandt hatte, oder die vor einigen Minuten erst erhaltene Aufklärung als überholt galt. Da eine Unmenge unkontrollierbare Gerüchte zirkulierten, die zum Teil von den Presseleuten gierig aufgenommen und weitergeleitet wurden, musste man aus naheliegenden Gründen sich bei der offiziellen Berichterstattung am Telefon bei der jeweiligen Skizzierung der Situation die nötige Reserve auferlegen. Seit Beginn der Konferenz bis zu ihrem Ende stand ich mit zwei kompetenten deutschen Stellen sowie, im Rahmen der Möglichkeit, mit Mitgliedern des Beamtenstabes der fremden Delegationen in fast ununterbrochenem Kontakt. Sonderbarerweise konnte bei diesem Anlass festgestellt werden, dass in Momenten, wo die Presseberichterstatter den grössten Optimismus verbreiteten, in den Reihen der deutschen und italienischen Herren eine Welle gegenteiliger Stimmungen zu beobachten war. Die Münchner Konferenz, die angetan ist, den Anfangspunkt einer Aera besseren Verständnisses in Europa darzustellen, kann mit Recht eine Zusammenkunft der «motorisierten Diplomatie» genannt werden. Das Generalkonsulat, das fünf Minuten neben dem Führerbau gelegen ist, war zeitweilig auf beiden Seiten durch SA, Polizeispalier und Volksmassen vollständig abgedichtet, sodass die Zirkulationsmöglichkeit zu dem zweihundert Schritte daneben gelegenen Hotel Continental, wo die italienische Delegation untergebracht war, oder dem unmittelbar daneben liegenden Hotel Regina, wo Herr Chamberlain und sein Stab wohnten, vollkommen unterbrochen war.
In der Mittagspause, die gestern nachmittag um 3 Uhr eingesetzt wurde, war Herr Ministerpräsident Chamberlain, der sich direkt vom Flugzeug an die Konferenz begeben hatte, in sein Hotel zurückgekehrt, und der französische Regierungschef hatte sich mit seinen Herren ins Hotel Vier Jahreszeiten zurückgezogen, während der Reichskanzler mit Mussolini im Prinz Karl Palais das Frühstück einnahm.
Als vorgestern nachmittag die Nachricht in München eintraf, dass eine internationale Konferenz von derartigem Ausmass hier stattfinden würde, musste das bayerische Innenministerium, dem die Verantwortung für eine reibungslose Abwicklung Überbunden wurde, ununterbrochenen Dienst einschalten. Es fand denn auch eine Nachtsitzung statt, an welcher Herr Ministerpräsident Siebert und Herr Staatsminister Wagner teilnahmen. Die Hausverwaltung des Prinz Karl Palais hatte die Tapisserien, offenbar um sie vor Motten zu schützen, herunternehmen lassen, sodass in aller Eile fünfzig Tapezierer zusammengetrommelt werden mussten, die in der Nacht vom 28. auf 29. September innerhalb von vierzehn Stunden alles in Ordnung zu bringen hatten. Der überaus weitläufige Absperrdienst bildete für die Sicherheitsorgane keine einfache Aufgabe. Man wechselte vorsichtshalber das Auffahrtsprogramm mehrmals und liess die einzelnen Delegationen getrennt an- und abfahren, dies bis auf wenige Ausnahmen, so wenn zum Beispiel Herr Daladier mit Herrn Chamberlain engere Kontaktnahme suchte.
Im Laufe des Morgens hatten die Nachrichten über den Stand der Konferenz im Grunde genommen wenig zuversichtlich gelautet. Trotz des überaus herzlichen Empfanges, der den fremden Gästen auf Seiten der Münchner Bevölkerung geboten wurde, machten die Staatsmänner und ihr Gefolge ernste Gesichter. Im Laufe des Nachmittags schien es, dass man doch zu einer Einigung kommen würde, und als dann die Sitzung abends um 10 Uhr anberaumt wurde mit dem Bemerken, dass bis zum Ende durchgetagt werden sollte, fing man bestimmt zu hoffen an, dass die Sache zu einem guten Schlüsse gebracht werden würde. Immerhin soll es anlässlich der Abwicklung der Geschäfte an Spannungen nicht gefehlt haben, so zum Beispiel in einem Moment, als dem Herrn Reichskanzler der Bericht überreicht wurde, dass dreitausend Kopf sudetendeutsche Zivilbevölkerung von tschechischen Truppen in einem Wald umzingelt und festgehalten worden seien. Um 10 Uhr 45 erging der Befehl, dass der Sonderzug des Duce unter Dampf gesetzt werden solle und in die Bahnhofshalle einzufahren habe. Gleichzeitig packte das Gefolge der italienischen Delegation im Hotel Continental, wo sie sich mit der festen Absicht, drei Tage zu bleiben, niedergelassen hatte, Hals über Kopf zusammen und Sekretäre, Ordonnanzen und so weiter fuhren in grosser Eile zum Hauptbahnhof. Aus ihren Mienen und Bemerkungen war zu entnehmen, dass die Angelegenheit vielleicht nicht so gut stand, wie man es gerne gesehen hätte. In der Tat scheint es bei der endgültigen Redigierung des Abkommens noch zu Meinungsverschiedenheiten gekommen zu sein, indem der Reichskanzler, wie sich eine Sekretärin der italienischen Botschaft in Berlin äusserte, um jeden Satz kämpfen musste, wobei er vom italienischen Regierungschef kräftig sekundiert wurde. Italienische Kreise, die den Ministerpräsidenten gut kennen, befürchteten, dass durch einen Temperamentsausbruch Mussolinis, der nicht ein Freund des Widerspruches ist, die ganze Sache hätte auffliegen können, und man erinnerte sich, wenn man an den abfahrtsbereiten Zug dachte, der im Münchner Hauptbahnhof stand, an den Präsidenten Wilson, der seinerzeit anlässlich der Versailler Konferenz sein Dampfboot hatte startfertig machen lassen, um auf die übrigen Konferenzmitglieder einen moralischen Druck auszuüben. Nach 11 Uhr klangen die Nachrichten vom Führerhaus wiederum etwas zuversichtlicher, aber trotzdem konnten Leute, die der Sache sehr nahe standen, den Optimismus, der an gewissen ausländischen Radiosendern verbreitet wurde, nicht vollauf teilen. Um 12 Uhr 30 kam es dann zur Unterschrift, und ich konnte Ihnen im Anschluss an unsere so zahlreichen Telefongespräche um 1 Uhr 20, nachdem ich ziemlich lange auf die Verbindung gewartet hatte, in grossen Zügen die drei hauptsächlichsten Punkte des Schlussergebnisses bekannt geben, die darin bestehen, dass man deutscherseits am 1. Oktober partiell einmarschieren werde, dass fremde Truppen einen anderen Teil des Sudetenlandes vorläufig besetzen würden und dass die Abstimmungen noch vor Weihnachten zur Durchführung gelangen müssten. Mit grosser Mühe konnte ich später die Verbindung mit Bern hersteilen, um die aus sicherer Quelle eingeholte Information dort abzugeben. Der von mir in Aussicht gestellte weitere Anruf, um über die Modalitäten ausführlicher zu berichten, wurde hinfällig, da eine Stunde oder eineinhalb Stunden später der deutsche Rundfunk damit begann, die weiten Kreise über die glücklich zu Ende geführte Beratung zu unterrichten.
An der Bahn wartete man ungeduldig auf die Ankunft des italienischen Regierungschefs, die sich bis gegen 2 Uhr verzögerte. Zur gleichen Zeit wie Herr Reichskanzler Hitler Herrn Mussolini an die Bahn begleitete, fuhr auch Herr Chamberlain in sein Hotel zurück. Auf der Eisenbahnlinie vom Brenner bis nach München war die ganze Strecke durch ein Aufgebot von vielen tausend Mann gesichert.
Als ich mich heute morgen in die bayerische Staatskanzlei begab, war ich Zeuge der rührenden Szene, die sich vor dem Hotel des britischen Premiers abspielte, wo eine nach hunderten zählende Menge, grösstenteils Frauen, durch lautes Rufen des Namens Chamberlain immer und immer wieder verlangte, den britischen Regierungschef am Fenster zu sehen. Viele Augen waren dabei vor Rührung und Dankbarkeit feucht.
Als Beobachter der tschechoslowakischen Republik, die laut den in den frühen Nachmittagsstunden heute erhaltenen Nachrichten dem Viermächteabkommen zustimmte, hat der tschechoslowakische Gesandte in Berlin, Mastny, fungiert. Die Anwesenheit naher Mitarbeiter von Lord Runciman hat, wie rühmend erwähnt wird, zur Verständigung in grossem Masse mitgewirkt.
Heute sind die Hallen der grossen Hotels noch mit Personal der Delegationen und Journalisten überfüllt, welch letztere nach durchwachter Nacht zum Teil aussehen, wie knock out geschlagene Boxer. Der italienische Botschafter flog heute früh nach Berlin zurück, während sein Personal die Reise mit dem Zug angetreten hat. Vom deutschen Beamtenapparat waren von Berlin all diejenigen nach München gekommen, deren Namen Klang und Bedeutung im Reiche besitzen. Auch das Auswärtige Amt war in voller Besetzung aufgefahren.
Zur gestrigen Konferenz bot München einen wunderbar blauen Himmel, während heute Regen eingesetzt hat, sodass die am Standort der Delegationen gehissten Fahnen schwer an ihren Masten hängen.
Die amerikanischen und englischen Journalisten vertreiben sich zum Teil damit die Zeit, auszurechnen, was die Teilmobilisationen, die im Zusammenhang mit dem tschechoslowakischen Problem vorgenommen werden mussten, gekostet haben und sind dabei zu dem Schlüsse gelangt, dass die Sache immerhin noch billiger gekommen ist, wie ein Tag Krieg gewesen wäre. Scherzenshalber fragte jemand, was nun die Regierungen mit dem vielen Geld machen wollten, welches sie infolge des friedlichen Abschlusses der denkwürdigen Münchner Konferenz haben ersparen können. Generalfeldmarschall Goering, der mit den französischen Herren und einem grossen Teil der französischen Presse im Hotel Vier Jahreszeiten unter einem Dach wohnt, soll nach Aussage der französischen Journalisten Herrn Daladier und seine Mitarbeiter allen Ernstes nach Abschluss der Konferenz in der Hotelhalle zu einem Besuch des Oktoberfestes aufgefordert haben, der, wie er sagte, die unbedingt notwendige Abrundung jedes Münchner Aufenthaltes zur Herbstzeit bilden würde.
Während ich diese Zeilen diktiere, erhalte ich soeben die Nachricht, dass der Münchner Rundfunk vor einigen Minuten, um 4 Uhr 10 nachmittags, die Meldung durchgegeben hat, dass zwischen dem deutschen Reichskanzler und dem britischen Premierminister heute ein Abkommen unterzeichnet worden ist, das einen zukünftigen Krieg zwischen Grossbritannien und Deutschland ausschliesst und dahin tendiert, sämtliche Zwistigkeiten zwischen den beiden grossen Nationen von jetzt ab auf dem Verhandlungswege aus der Welt zu schaffen. München, «die erste Stadt Deutschlands», scheint in der Tat Glück zu bringen!
Tags
Sudetenkrise und Münchner Abkommen (1938)