Sprache: Deutsch
12.4.1927 (Dienstag)
Protokoll der Sitzung des Bundesrates vom 12.April 1927
Geheimes Bundesratsprotokoll (PVCF-S)
Nach Ansicht Rüfenachts verlegt sich die russische Regierung auf eine Taktik, die darauf hinzielt, alle bisherigen Ergebnisse in Frage zu stellen. Der schweizerische Gesandte hat Krestinski über die Annahme der Formel B als äusserstes Entgegenkommen der Schweiz orientiert. Keine Zustimmung zur neuen Formel durch Musy.

Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
III. BILATERALE BEZIEHUNGEN
22. Russland
22.1. Wiederaufnahme von Handelsbeziehungen
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Abgedruckt in

Walter Hofer, Beatrix Mesmer (Hg.)

Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 9, Dok. 295

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Bern 1980

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Aufbewahrungsort

dodis.ch/45312
Protokoll der Sitzung des Bundesrates vom 12. April. 19271

Beziehungen zu Sovietrussland

Der Vorsteher des politischen Departementes gibt Kenntnis von einem Bericht unseres Gesandten in Berlin vom 9. ds. Mts.2, woraus hervorgeht, dass nunmehr eine hinterhältige russische Taktik eingesetzt hat. Noch bevor Herr Rüfenacht im Besitze des bundesrätlichen Telegramms vom 8. ds.3 war, schlug der Botschafter eine Zusammenkunft für den 8. April vor, da er eine Mitteilung zu machen habe. Diese bestand darin, dass der Botschafter die telegraphische Instruktion erhalten habe, am russischen Vorschläge vom 23. März festzuhalten. Unser Gesandter verhehlte ihm sein Erstaunen nicht, dass, nachdem man nach wiederholten und weitgehenden Konzessionen an der Konferenz vom 4. ds. nahe am Ziele zu sein schien, durch die starre Haltung der Russischen Regierung nun alles wieder in Frage gestellt sei. Der Botschafter versuchte, seine früheren Erklärungen über seine persönliche Stellungnahme abzuschwächen und konnte im übrigen nur feststellen, dass er durch die erhaltenen Instruktionen gebunden sei. Auf eine Bemerkung unseres Gesandten, dass diese Instruktionen, wenn sie ultimativer Natur seien, die Sache zum Scheitern bringen werden, erwiderte er, dass in der telegraphischen Weisung noch ein Brief angekündigt sei, der wohl nähere Ausführungen enthalten und ihm vielleicht einen Spielraum gewähren werde.

Nach Empfang des bundesrätlichen Telegramms schlug Herr Rüfenacht eine nochmalige Zusammenkunft für den 9. ds. Mts. vor, in der er dem Botschafter mitteilte, dass er inzwischen die Zustimmung zur Formel B, aber nur zu dieser, erhalten habe. Herr Rüfenacht fügte jedoch bei, dass, da zwei unvereinbare Erklärungen der Regierungen sich gegenüberstehen, es Aufgabe der Unterhändler sein müsse, eine neue vermittelnde Formel zu suchen, und legte dem Botschafter eine Fassung in Form einer rein persönlichen Anregung und unter ausdrücklichem Vorbehalt der Stellungnahme des Bundesrates vor.

Gleichzeitig gab Herr Rüfenacht zu seinem individuellen Vorschläge mündlich folgenden Kommentar: 1. Die russische Einleitung wird grundsätzlich angenommen. Da jedoch die nachfolgende Erklärung des Bundesrates sich nicht als eine gegenseitige Vereinbarung darstellt, ist eine andere Redaktion zu wählen. 2. Die Bezeichnung des Herrn Worowski als russischer Regierungs-Vertreter ist angesichts der bezüglichen alten Streitfrage unannehmbar. Wenn die Russische Regierung Gewicht darauf legt, ihm eine amtliche Eigenschaft beizulegen, so kann er als damaliger russischer Delegierter in Italien bezeichnet werden. 3. Da es bekannt ist, dass Lausanne auf Schweizergebiet liegt, ist die Erwähnung von beiden ein Pleonasmus. 4. Die Erwähnung des Freispruchs, die auch in den früheren Formeln von 1926 nicht enthalten war, ist unannehmbar. 5. Dagegen wird als Grad des Bedaurens neben dem «durchaus» noch das «sehr» konzediert. 6. «Bei Beginn der Verhandlungen...» könnte darauf schliessen lassen, dass in erster Linie die Beihilfe vor allem anderen zu präzisieren sein wird. Herr Rüfenacht verlange deshalb seine Übersetzung der Formel vom 31. Januar 1926. Hiermit hat sich der Botschafter bereits einverstanden erklärt. 7. Zum Schluss der russischen Formel: Die russischen Sperrmassnahmen beziehen sich nicht nur auf schweizerische Staatsangehörige, sondern auch auf schweizerische Geschäftshäuser und Waren. Entweder sind letztere bei der Aufhebung auch zu erwähnen, oder es ist diese nur generell nach dem Vorschläge unseres Gesandten zu erklären. Auch hiermit hat sich der Botschafter einverstanden erklärt.

Der russische Botschafter hat den Vorschlag des Herrn Rüfenacht sofort telegraphisch nach Moskau übermittelt und erwartet eine telegraphische Antwort für Montag oder Dienstag. Herr Rüfenacht ersucht daher seinerseits um baldige, wenn möglich ebenfalls telegraphische, Mitteilung, ob der Bundesrat den Vorschlag im Falle der Annahme von russischer Seite genehmigt und ob er gegebenenfalls damit einverstanden ist, dass der Gesandte ihn vorerst als unser äusserstes Entgegenkommen bezeichne. [...]4 § Der persönliche Vorschlag des Herrn Rüfenacht vom 9. April 1927, den er nur unter Vorbehalt der Genehmigung durch den Bundesrat machte, hat folgenden Wortlaut:

«Im Hinblick auf das Bestreben der Regierungen der Union der S.S.R. und der Schweizerischen Eidgenossenschaft, den zwischen den beiden Staaten bestehenden Konflikt beizulegen, der infolge der Ermordung des Herrn Worowski während der Konferenz in Lausanne (oder auf schweizerischem Gebiet) und infolge des Attentats auf die Herren Arens und Diwilkowski entstanden ist, erklärt der Schweizerische Bundesrat erneut, dass er diese verbrecherischen Handlungen durchaus verurteilt und sehr bedauert. Er wird überdies im Geiste der Versöhnlichkeit bereit sein, wenn einmal Verhandlungen zwischen den Regierungen der Union der S.S.R. und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Gesamtheit der zwischen den beiden Ländern noch zu erledigenden Fragen eingeleitet werden, der Tochter des Herrn Worowski eine materielle Beihilfe zu gewähren, deren Art und Weise gleichzeitig mit diesen Fragen wird diskutiert werden können.

Damit erklären die beiden Regierungen den zwischen ihren Ländern bestehenden Konflikt als beigelegt und die gegenseitigen Sperrmassnahmen als aufgehoben.»

Der Vorsteher des politischen Departementes fügt bei, er habe erfahren, dass die Russische Botschaft in Berlin die deutsche Regierung über den Gang der Verhandlungen auf dem Laufenden halte. Er ist der Ansicht, dass der von Herrn Rüfenacht vorgeschlagenen neuen Formel unbedenklich zugestimmt werden könne; sie sei für uns annehmbar. Hingegen sei diese Formel als unser äusserstes Entgegenkommen zu bezeichnen; eine Erwähnung des Freispruchs oder die Anerkennung einer offiziellen Qualität Worowskis müsse unbedingt abgelehnt werden. Herr Motta beantragt daher Zustimmung zum Vorschläge Rüfenacht.

In der Beratung schliessen sich die Herren Schulthess, Scheurer und Chuard der Ansicht des Vorstehers des politischen Departementes an.

Herr Musy erklärt hingegen, der neuen Formel unseres Gesandten nicht zustimmen zu können. Er erinnert daran, dass er stets gegen eine Wiederaufnahme der Beziehungen mit Russland gewesen sei, da er dem gegenwärtigen Regime keine Achtung und kein Zutrauen entgegenbringen könne. Der heutige Stand der Verhandlungen beweise neuerdings, dass man es mit Leuten zu tun habe, die darauf ausgehen, uns zu täuschen und zu hintergehen. Die Wiederaufnahme der Beziehungen werde uns keinen Nutzen bringen. Herr Musy fügt bei, dass er letzthin den Anträgen des politischen Departementes und der sog. Formel «B» nur deshalb keinen Widerstand entgegengesetzt habe, weil er annahm, dass unter keinen Umständen nachträglich weiter gegangen werde. Der Russische Vorschlag vom März 1927 gehe aber viel weiter und müsse unbedingt verworfen werden. Und auch die neue Formel des Herrn Rüfenacht gehe über die Formel «B» hinaus und sei unannehmbar. Er müsse daher verlangen, dass sie abgelehnt werde.

Herr Motta erwidert, dass die Differenzen zwischen dem neuen Vorschläge des Herrn Rüfenacht und der Formel «B» sehr klein seien. Sie lägen nur in der Fassung des Ingresses und in der Einschaltung des Wörtchens «sehr» vor dem Zeitwort «bedauern». Wir könnten es vor der Öffentlichkeit nicht rechtfertigen, wegen dieser mehr redaktionellen Unterschiede die Verhandlungen zum Scheitern gebracht zu haben. Zu beachten sei ferner, dass Herr Rüfenacht seinen Vorschlag dem russischen Botschafter zuhanden seiner Regierung bereits bekanntgegeben habe.

Hierauf wird gemäss Antrag des politischen Departementes mit allen Stimmen gegen diejenige des Herrn Musybeschlossen:

Die von unserem Gesandten in Berlin zuletzt vorgeschlagene Formel wird genehmigt. Sie ist als das äusserste Entgegenkommen des Bundesrates zu bezeichnen. Eine Erwähnung des Freispruchs von Lausanne, sowie die Anerkennung einer offiziellen Qualität Worowskis in der Schweiz bleiben unannehmbar5.

1
E 1005 2/3. 1.Abwesend: Haab und Häberlin.
2
E 2001 (C) 12/1.
3
Vgl. Nr. 290, Anm. 5.
4
Es folgt der Text des russischen Vorschlages vom 23.3.1927. Als Annex zu Nr. 279 abgedruckt.
5
Im Anschluss an die Sitzung vom 12. April. 1927 übermittelte das Politische Departement Minister Rüfenacht folgendes Telegramm: Neun. Ihr Bericht 9. April. Bundesrat hat die von Ihnen zuletzt vorgeschlagene Formel genehmigt und ist damit einverstanden, dass sie als unser äusserstes Entgegenkommen bezeichnet werde. Erwähnung Freispruchs und Anerkennung einer offiziellen Qualität Worowskis in der Schweiz bleiben unannehmbar. Auswärtiges (E2001 (C) 12/1).