Language: German
11.3.1927 (Friday)
Protokoll der Sitzung des Bundesrates vom 11.März 1927
Secret minutes of the Federal Council (PVCF-S)
Der Bundesrat bespricht die einzelnen Punkte der Richtlinien, von denen sich der schweizerische Unterhändler leiten lassen soll.

Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
III. BILATERALE BEZIEHUNGEN
22. Russland
22.1. Wiederaufnahme von Handelsbeziehungen
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Printed in

Walter Hofer, Beatrix Mesmer (ed.)

Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 9, doc. 268

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Bern 1980

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dodis.ch/45285
Protokoll der Sitzung des Bundesrates vom 11. März. 19271

Beziehungen zu Russland

Mündlich

Der Vorsteher des politischen Departements teilt unter Hinweis auf die letzten Beratungen und Beschlüsse des Bundesrates betreffend die Beziehungen zu Russland (siehe die Prot, vom 28. Januar und 14. Februar 1927)2 mit, dass die Delegation für Auswärtiges, bestehend aus den Herren Bundespräsident Motta, Bundesrat Scheurer, in Vertretung des verhinderten Hrn. Bundesrat Schulthess, und Bundesrat Häberlin, im Beisein des schweizer. Gesandten in Deutschland, Minister Rüfenacht, und des Chefs der Abteilung für Auswärtiges, Minister Dinichert, am 9. März die Frage der Wiederanbahnung von Beziehungen mit Russland, so wie sie sich dermalen zu stellen scheint, eingehend erörtert hatte3.

Es wurde allgemein anerkannt, dass die Beilegung des bestehenden Konfliktes zwischen der Schweiz und Sovietrussland aus verschiedenen Gründen, nicht zuletzt aus Rücksicht auf das Verhältnis Russlands zum Völkerbunde, höchst wünschenswert sei. Da anderseits der Zeitpunkt zu einer Wiederaufnahme von Verhandlungen nicht ungünstig erscheint, so war die Delegation übereinstimmend der Auffassung, dass direkte Verhandlungen zwischen dem schweizer. Gesandten und der Sovietbotschaft in Berlin ohne Verzug aufgenommen werden sollten. Im Verlaufe ihrer Beratungen hat sich die Delegation auch die Frage vorgelegt, ob die gegenwärtige Spannung zwischen England und Sovietrussland, sowie die Stellung Italiens zum bessarabischen Problem uns nicht veranlassen sollten, noch zuzuwarten. Die Delegation, wie auch die Herren Dinichert u. Rüfenacht, kamen aber zum Schlüsse, dass diese Umstände uns nicht hindern sollten, dasjenige zu tun, was in unserem Interesse zu liegen scheint. Russland, das gegenwärtig wohl ein gewisses Gefühl der Isolierung habe, sei vielleicht zur Beilegung des Konfliktes unter günstigeren Bedingungen geneigter als bisher.

Da Herr Rüfenacht sehr viele Beziehungen in Berlin hat, dürfte er wohl leicht eine Persönlichkeit finden, die ein Zusammentreffen des russischen Botschafters mit ihm herbeiführen könnte, bei welchem Anlasse ein erster Gedankenaustausch möglich wäre und dann das weitere Vorgehen vereinbart würde.

Herr Musyäussert sehr starke Bedenken gegen die Wiederaufnahme von Verhandlungen mit den Sovietbehörden. Er widersetzt sich entschieden jedem Schritt und jeglicher direkten oder indirekten Unterhandlung, die eine de jure Anerkennung von Sovietrussland, oder die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen oder auch nur die Gewährung irgend welcher Entschädigung oder Unterstützung an die Tochter Worowskis zum Zwecke oder zur Folge haben könnte. Er ist überzeugt, dass die gegenwärtigen Machthaber in Russland nach wie vor das grösste Misstrauen und die grösste Verachtung verdienen und dass unsere Industrie sich einer gewaltigen Täuschung hingibt, wenn sie glaubt, unter den gegenwärtigen Verhältnissen in Russland Geschäfte machen zu können.

Unter diesem ausdrücklichen Vorbehalt will immerhin Herr Musy der Wiederaufnahme von Verhandlungen kein Hindernis entgegensetzen, die ausschliesslich die Aufhebung des Boykotts bezwecken. Es darf aber unter keinen Umständen weitergegangen werden. Dieser eine Punkt, die Beseitigung des Boykotts, ist das alleinige Ziel, das wir verfolgen dürfen, und zwar lediglich um zu verhindern, dass der Schweiz vorgeworden werde, sie habe dem Völkerbund dadurch Schwierigkeiten bereitet, dass die Russen wegen ihr nicht nach Genf gekommen sind.

Herr Motta bemerkt, dass die Anerkennung de jure gar nicht in Frage stehe. Es soll gegenwärtig lediglich die Aufhebung des Boykotts und die Anbahnung von Handelsbeziehungen angestrebt werden.

Auch die übrigen Mitglieder des Rates erklären, dass es sich nach ihrer Ansicht zurzeit ausschliesslich darum handeln könne, durch Aufhebung des Boykotts der schweizer. Industrie die Möglichkeit zu verschaffen, direkt mit den Abnehmern in Russland zu verkehren.

Daraufhin werden die einzelnen Punkte der Richtlinien besprochen, von denen sich der schweizerische Unterhändler leiten lassen soll4.

Den Punkten 1-5 wird ohne weiteres zugestimmt. Sie lauten:

1. Die zu erstrebende Verständigungsformel kann durch einen Hinweis auf die aus dem bestehenden Konflikte für den Völkerbund sich ergebenden Schwierigkeiten eingeleitet werden.

2. Auf ein allfälliges Begehren der de jure Anerkennung der Sovietregierung ist unter keinen Umständen einzutreten.

3. In erster Linie ist zu versuchen, eine Regelung herbeizuführen, bei der der Fall Worowski überhaupt nicht mehr erwähnt wird.

4. Gelingt dies nicht, so ist als Ausgangspunkt der Verhandlungen der am 1. Dezember 1924 in Aussicht genommenen Formel der Vorzug zu geben gegenüber dem letzten schweizerischen Vorschläge vom Januar 1926.

5. Der in der Formel von 1924 enthaltene Protest des Bundesrates gegen die von der Sovietregierung erhobenen Anschuldigungen ist vorerst aufrecht zu erhalten, könnte aber in der Verhandlung fallen gelassen werden.

Die Ziffern 6 und 7 der Instruktion würden lauten:

6. Der in der Formel von 1924 enthaltene Ausdruck des Beileids (sogar eines lebhaften oder tiefen Beileids) an die Sovietregierung für den Tod Worowskis kann erneuert werden, unter Hinweis auf das der Familie Worowski bereits ausgesprochene Beileid des Bundesrates.

7. Gegebenenfalls kann, statt des Ausdruckes des Beileids, wie in der letzten Formel vom Januar 1926 unbedenklich bestätigt werden, dass der Bundesrat die Ermordung Worowskis stets verurteilt und bedauert habe. Dagegen ist ein ausdrückliches Bedauern gegenüber der Sovietregierung nach wie vor abzulehnen.

In der Formel laut Ziffer 6, ist nur von «Beileid» die Rede, und nicht auch von «Bedauern», wie in der letzten Formel vom Januar 1926. Gegenüber dem Einwande, dass die blosse Äusserung von «Beileid» jetzt, nach so langer Zeit kaum schicklich und angemessen wäre, da das Beileid ein spontaner Gefühlsausdruck sei, so dass man heute nur noch ein «Bedauern» kundgeben könne, wird in der Beratung bemerkt, dass der Anwendung der Formel von 1924 mit dem Ausdrucke «des Beileids» oder einer Erneuerung des Beileids nichts entgegenstehe, falls die Russen sich damit begnügen sollten. - Es wird beschlossen, dass nur das «Beileid» ausgedrückt werden solle, falls diese Formel den Russen genügt. Im ändern Falle würde das einfache oder ein «aufrichtiges Bedauern» (also nicht etwa ein «ausdrückliches» Bedauern) ausgesprochen, eventuell wenn nötig unter gleichzeitiger «Erneuerung des Beileids». Es darf aber unter keinen Umständen eine Formel gewährt werden, die irgendwie den Sinn einer Entschuldigung hätte.

Für Ziffer 8 ist folgender Wortlaut vorgeschlagen:

8. Die Erwähnung einer allfälligen Unterstützung an die Tochter Worowskis ist, wenn immer möglich, zu vermeiden. Nötigenfalls kann die Bereitwilligkeit erklärt werden, diese Frage bei Anlass späterer Verhandlungen über die gesamten zwischen den beiden Ländern zu erledigenden Fragen zu erörtern, oder überhaupt einer Formel im Sinne derjenigen vom Januar 1926 zugestimmt werden.

Herr Musy verlangt Streichung des zweiten Satzes. Seines Erachtens darf unter keinen Umständen von einer Entschädigung oder Unterstützung an die Tochter Worowskis die Rede sein. Die Schweiz trifft keine Verantwortung und zwar weder am Morde noch an der Freisprechung Conradis. Die Zuerkennung einer Entschädigung oder Unterstützung an die Tochter des Sovietagenten würde aber von den Russen als ein Geständnis unserer Schuld ausgelegt und ausgeschlachtet.

Hierauf wird erwidert, dass wir die Russen nicht daran hindern können, die Entschädigungsfrage aufzuwerfen. Sollten sie dies tun, so würden wir durch die Ziffer 8 lediglich die Möglichkeit einer Diskussion dieses Punktes in einer spätem Besprechung offen lassen, ohne jetzt schon endgültig Stellung zu nehmen oder den Grundsatz der Entschädigungsleistung anzuerkennen.

Diese ganze Ziffer 8 wird stillschweigend mehrheitlich angenommen.

Den Ziffern 9 und 10, lautend:

«9. Eine Verständigung soll die Aufhebung der beidseitig bestehenden Boykottmassnahmen unmittelbar zur Folge haben.

10. Für die Feststellung der Verständigung kann ein Notenaustausch in Aussicht genommen werden.» wird ohne weiteres zugestimmt.

1
E 1005 2/3.
2
Vgl. Nr. 255, Anm.2.
3
Handschriftliches Protokoll Rüfenachts in: E 2200 Berlin 2/2.
4
Eine Aufzeichnung des Politischen Departementes über diese Besprechung in: E2001 (C) 12/1.