Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
II. BILATERALE BEZIEHUNGEN
6. Deutsches Reich
6.1. Allgemeine Beziehungen
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 5, doc. 275
volume linkBern 1983
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2001A#1000/45#102* | |
Old classification | CH-BAR E 2001(A)1000/45 9 | |
Dossier title | Nr. 102. Staatsbesuch des Präsidenten Armand Fallières, 1910: Organisation Allgemeines (1910–1910) | |
File reference archive | B.121.21-06 |
dodis.ch/43130 Der schweizerische Geschäftsträger in Berlin, W. Deucher, an den Vorsteher des Politischen Departementes, R. Comtesse1
Der Besuch, den der Präsident der Französischen Republik am 15. und 16. ds. Mts. dem Schweizerischen Bundesrate in Bern abgestattet hat, ist deutscherseits sehr beachtet worden2. Die Zeitungen berichteten zum Teil ausführlich über den Verlauf des Ereignisses; manche gaben die zwischen Ihnen, Herr Bundespräsident, und Herrn Fallières gewechselten offiziellen Reden unverkürzt wieder; fast alle knüpften an ihre Meldungen über den Vorgang politische Betrachtungen. Eine etwas auffallende Ausnahme hievon macht, bis jetzt wenigstens, die offiziöse Norddeutsche Allgemeine Zeitung, die sich jeden Kommentars enthielt. Aus der grossen Zahl der von mir durchgesehenen deutschen Tagesblätter beehre ich mich, Ihnen beigeschlossen die einschlägigen Artikel der Kölnischen Zeitung (nationalliberal), der Frankfurter Zeitung (gemässigt demokratisch), des Berliner Tageblattes (freisinnig) und der Täglichen Rundschau (deutsch-national) zu übermitteln.
Der Staatsbesuch bot einigen Zeitungen (z.B. der Kölnischen) Gelegenheit, auf die politische Hinneigung der Schweiz zu Frankreich hinzuweisen und die wirtschaftlichen Beziehungen der beiden Länder in Kürze zu schildern. Übereinstimmend erblickten die Zeitungen in diesen Beziehungen wesentlich die Veranlassung zum Besuche. Nach verbreiteter deutscher Ansicht ist er aber nicht nur, wie Sie, Herr Bundespräsident, in Ihrer Rede betonten, die Weihe der Politik des guten Willens auf diesem Gebiete, sondern auch, für Frankreich zum mindesten, ein Mittel zur Anbahnung neuer kommerzieller Verbindungen (Frankfurter Zeitung). In Frankreich verspreche man sich von diesem Besuche die Belebung des wirtschaftlichen Verkehrs mit der Schweiz, und andere Wendungen dieser Art finden sich häufig. Gegenüber diesen Bestrebungen Frankreichs wird das Überwiegen unserer wirtschaftlichen Beziehungen zu Deutschland hervorgehoben (Berliner Tageblatt). Die Kölnische Zeitung erinnert auch an das starke gegenseitige Vertrauen, das lange Jahre zwischen der Schweiz und Deutschland herrschte. Des unser Verhältnis zu Deutschland ungünstig beeinflussenden Mehlstreites wird oft gedacht (Kölnische Zeitung, Berliner Tageblatt). Das Letztere meint, empfindliche Leute könnten in der Veranstaltung eine kleine Demonstration deswegen gegen Deutschland, wegen des Gotthards gegen Italien erblicken. Weiter geht aber keine Zeitung in der Richtung, dem Besuche eine Spitze gegen Deutschland zuzuschreiben. Selbst die zu Chauvinismus neigende Tägliche Rundschau anerkennt, dass die Reden bei allem Lob für die republikanische Staatsform frei von Ausfällen gegen «Andersgläubige» blieben. Das Tageblatt setzt voraus, die Schweiz bewerte die Freundschaft aller Nachbarn gleich. Ebenso erklären manche andere Zeitungen ihr Vertrauen in die absolute Korrektheit der Schweiz als neutralen Staates. Nichts ist in dem Berner Vorgang, was Deutschland anzufechten ein Recht hätte (Frankfurter Zeitung). In geradezu zuvorkommender Beurteilung des Besuches nennt ihn die Kölnische Zeitung ein neues Zeichen unserer Wertschätzung bei allen Nachbarmächten. Auch stärke und fördere er unser internationales Ansehn.
Wie Sie sehen, Herr Bundespräsident, in keiner dieser Kundgebungen der deutschen Presse ein unfreundliches Wort. Kein solches ist mir bis jetzt unter die Augen gekommen. Nur eine leichte Beunruhigung wegen Gefährdung wirtschaftlicher Interessen Deutschlands sickert da und dort durch. Wir könnten wünschen, dieses unbehagliche Gefühl in der Brust der Deutschen möchte noch stärker werden.
Im Auswärtigen Amte vernahm ich wegen der Begebenheit ebenfalls nichts Ungünstiges. Der neue Staatssekretär, Herrn von Kiderlen-Wächter, tat derselben bei der ersten Aufwartung, die ich ihm letzte Woche machte, nicht Erwähnung. Aus seinen Äusserungen schliesse ich, dass ihm die Schweiz vorläufig noch ferner liegt als der Orient, wo er lange Jahre verbrachte. Der Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amte, Herr Stemrich, und mit ihm eine andere massgebende Persönlichkeit desselben, meinte mit Bezug auf den Besuch: «Sehr recht, sehr nett, ganz in Ordnung».