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Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 5, doc. 205
volume linkBern 1983
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2001A#1000/45#560* | |
Old classification | CH-BAR E 2001(A)1000/45 48 | |
Dossier title | Nr. 480. Schlussbericht der schweizerischen Delegation und Schlussbericht von Minister Carlin (1907–1907) | |
File reference archive | B.231-2 |
dodis.ch/43060
Der erste schweizerische Delegierte an der II. Friedenskonferenz in Den Haag, Minister Carlin, an den Vorsteher des Politischen Departements, Bundespräsident Müller
1
IIte Intern. Friedensconferenz2
Neben dem Gesamtbericht über die Arbeiten der IIten Internationalen Friedensconferenz,3 den Ihnen die Schweizerische Delegation,4 den erhaltenen Instructionen5 gemäss, dieser Tage zusendet, glaube ich, Ihnen meine Beobachtungen über gewisse Vorgänge politischer Natur, die an diesem denkwürdigen Congress in die Erscheinung traten, unterbreiten zu sollen. Für Einzelheiten beehre ich mich, auf unsere zahlreichen Mitteilungen während der Dauer der Conferenz zu verweisen.
Zunächst ist die blosse Tatsache, dass zum ersten Mal in der Geschichte eine diplomatische Versammlung von Delegirten aller Staaten der Erde zusammentrat, politisch bedeutsam. Sie ist ein neuer Beweis dafür, dass die internationale Politik der Jetztzeit namentlich seit dem Boxer-Aufstande in China6 und seit dem spanisch-amerikanischen Kriege,7 eine Weltpolitik ist und sein muss. Die Interessen der einzelnen Völker sind nicht mehr an die angrenzenden Länder, nicht mehr an den Weltteil, auf dem sie sich befinden, gebunden, sondern erstrecken sich über die ganze Erde und greifen in mannigfaltigster Weise ineinander über. Es lag in der natürlichen Entwicklung der Dinge, dass die IIte Friedensconferenz die Gesamtheit der civilisierten, souveränen Staaten umfasste, während die Iste nur eine Teilconferenz war.
Wie zu erwarten stand, wurde der erste russische Delegirte, Herr Nelidow, Kaiserlicher Botschafter in Paris, zum Präsidenten der Conferenz bezeichnet. Es entsprach dies dem Vorgange von 1899, obwohl dieses Mal die Conferenz im Grunde weit mehr auf die Anregung des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, Roosevelt’s, zusammengetreten war, als auf die des Czaren.8 Aber je mehr die Delegation der Vereinigten Staaten die Leitung der Conferenz an sich zu reissen und die Wünsche des Washingtoner Cabinets ihr aufzudrängen versuchte, desto energischer betonten gewisse europäische Staaten, namentlich Österreich-Ungarn, Rumänien und die Niederlande, die formellen Vorrechte, die Russland daraus erwüchsen, dass der Czar die Initiative zur Berufung der ersten Conferenz ergriffen hatte.
Wären nun die ersten Delegirten der Vereinigten Staaten, drei Männer mit Botschafterrang – Choate, Porter und Rose – diplomatisch geschickter vorgegangen und hätten Anlehnung an die kleineren, von russischer Beeinflussung freien Staaten Europas gesucht, so wäre es vielleicht gelungen, die künftigen Conferenzen von der russischen Vormundschaft zu befreien. Anlässlich der Besprechung der im «Acte final» vom 18. October 1907 aufgenommenen «Empfehlung» betreffend den Zusammentritt einer dritten Friedensconferenz, regte der Unterzeichnete an, es möchten die Signatarmächte durch den «Conseil administratif» zur geeignet scheinenden Zeit auf die Wünschbarkeit der Einberufung einer neuen Conferenz aufmerksam gemacht werden. Diese Anregung verfolgte einen doppelten Zweck: einmal die Initiative zur Einberufung neuer Conferenzen aus der Hand einer einzelnen Macht zu nehmen und der Gesamtheit der im Haag diplomatisch vertretenen Staaten anzuvertrauen; – sodann den Gefahren des in der erwähnten «Empfehlung» vorgesehenen «Comité préparatoire» vorzubeugen, in dem zweifellos die Grossmächte das Übergewicht haben werden, zum Nachteil der kleineren Staaten, die gerade aus dem Mangel einer vorgängigen Verständigung unter den Grossmächten ihren besten Nutzen zogen. Aber der Antrag des Unterzeichneten fand keine hinreichende Unterstützung und wurde namentlich von der Delegation der Vereinigten Staaten nicht verstanden. Und so kam es, dass nicht nur auch die zweite Conferenz unter die Auspizien des Czaren gestellt, sondern sogar ausgesprochen werden konnte, dass auch die künftigen Conferenzen vom Czaren einzuberufen seien und im Haag stattzufinden hätten.
Wenn ich von russischer Bevormundung gesprochen habe, so ist das bloss formell zu verstehen, wenigstens was diese zweite Conferenz anbelangt. Denn die russische Delegation trat materiell nirgends in den Vordergrund. Nelidow war als Präsident sehr nachgiebig, öfters mehr als gut; als Chef der russischen Delegation kam er, wegen seinen Präsidial-Funktionen, kaum in Frage und Martens, der zweite Delegirte, zeigte sich auf allen Gebieten als bedeutend unter der Höhe seines Rufes stehend. Auch ging ihm das so wertvolle Taktgefühl vollständig ab, so dass seine Anträge entweder verworfen oder von ihm selbst zurückgezogen werden mussten.
In erster Linie führend traten auf die Delegationen Deutschlands, der Vereinigten Staaten von Amerika und Frankreichs. Die britische Delegation verhielt sich zurückhaltender.
Schon von der ersten Sitzung an war es klar, dass Deutschland aus der 1899 beobachteten Reserve heraustreten werde, indem die deutsche Delegation, zugleich mit der britischen, die Errichtung eines internationalen Prisengerichtshofes in Vorschlag brachte.9 Überhaupt glaube ich nicht zu viel zu sagen, wenn ich bemerke, dass Baron Marschall von Bieberstein, der erste deutsche Delegirte, der zweiten Friedensconferenz ihr Gepräge gab, und zwar sowohl im positiven wie im negativen Sinne. Dank der Anstrengungen Marschalls und seines Mit-Delegirten Kriege wurde der Prisengerichtshof gesichert und wurden wesentliche Verbesserungen, namentlich zu Gunsten der Neutralen, an dem Reglement über den Landkrieg10 angebracht. Andererseits scheiterte das Zustandekommen eines Welt-Schiedsgerichtsvertrags mit unbedingt bindenden Schiedsfällen hauptsächlich am Widerstande der deutschen Delegation.
Was die Delegation der Vereinigten Staaten von Amerika anbelangt, so kam sie mit dem ausgedehntesten Programm nach dem Haag: 1) Unverletzlichkeit des Privat-Eigentums im Seekriege; 2) Welt-Schiedsgerichtsvertrag; 3) Ständiger Schiedsgerichtshof; 4) Anerbieten eines Schiedsgerichts vor der gewaltsamen Eintreibung von Geldschulden von einem schuldnerischen Staat. Sie konnte nur den letzten Punkt durchsetzen. Im Ganzen legte sie, wie gesagt, wenig diplomatisches Geschick an den Tag. Erst im Laufe der Verhandlungen kam sie zur Einsicht, dass man mit europäischen Staaten nicht umspringen kann, wie mit den Central- und Südamerikanischen Republiken.
Die französische Delegation, deren Führer Bourgeois war, trat, offenbar mit Rücksicht auf speziell französische Verhältnisse und unter dem Einflusse d’Estournelles de Constants, des zweiten Delegirten, mit wahrer Leidenschaftlichkeit für einen Welt-Schiedsgerichtsvertrag ein.
Und da kam die Politik mehr und mehr in den Vordergrund. Nachdem man übereingekommen war, im Einverständnisse mit der britischen Delegation, der heickligen Abrüstungsfrage die Form einer unverbindlichen Resolution zu geben, wurden die Arbeiten der Conferenz in den ersten zwei Monaten meist von sachlichen Erwägungen geleitet; später machten sich aber in stets erhöhtem Masse politische Einflüsse und Gegensätze geltend. Die Spannung stieg von Tag zu Tag: zwischen Deutschland und Frankreich wegen der an sich nicht sehr bedeutsamen Frage eines Welt-Schiedsgerichtsvertrages; zwischen Deutschland und Grossbritannien wegen den divergirenden Interessen im See-Kriegsrecht. Es war hohe Zeit abzubrechen und das Erreichte, so wenig es in gewissen Fällen sein mochte, unter das schützende Dach des «Acte final» zu bringen.
Im Grossen Ganzen war der Einfluss der zweiten sogenannten Friedensconferenz auf die Beziehungen der Vertreter der Grossstaaten unter einander kein günstiger: Diese Beziehungen waren zweifellos bessere bei Beginn als bei Schluss der Conferenz. Immerhin mag hervorgehoben werden, dass die russischen und japanischen Delegirten bei jeder Gelegenheit sich Liebenswürdigkeiten zu Händen ihrer Staaten sagten, unter dem Beifall der Versammlung. Und da von Japan die Rede ist, soll beigefügt werden, dass der unglückliche Versuch dreier Abgesandter des Kaisers von Corea,11 sich offiziellen Zutritt zur Conferenz zu verschaffen, Japan den Vorwand gab, sein Protektorat über Corea in eine noch zwingendere Form als bisher zu bringen.
Was nun spezieller die Schweizerischen Interessen betrifft, so mag zunächst gesagt werden, dass die Stellung der europäischen Kleinstaaten in einer internationalen Conferenz durch das Hinzutreten von zwanzig Central- und Südamerikanischen Republiken nicht verbessert wurde. Die Bedeutung der einzelnen kleinen Staaten wird durch deren vermehrte Zahl nicht vergrössert, sondern vermindert, insbesondere wenn sie sich untereinander nicht verständigen können, was mit fast allen Central- und Südamerikanischen Republiken, nicht nur wegen ihrer ganz specifischen Interessensphaere, nicht wohl möglich, sondern auch, mit Rücksicht auf ihr mangelndes Ansehen und auf ihre Institutionen, geradezu unerwünscht erscheint. Diese Staaten haben allerdings in Folge ihrer Zulassung zu der zweiten Friedensconferenz gewonnen. Sie sind feierlich als mit den alten Culturnationen Europas gleichberechtigt in das Völkerconzert aufgenommen worden. Sie haben darauf sehr gepocht, haben sich jeweilen selbst als die Staaten der Zukunft, die kommenden Mächte, gepriesen, dem «veralteten» Europa gegenüber. Ja, Brasilien ist es sogar gelungen, sich auf der Conferenz eine Art Grossmacht-Stellung zu verschaffen. Wenigstens hat der erste Delegirte der Vereinigten Staaten von Amerika, Botschafter Choate, Brasilien zu drei Malen eine Grossmacht genannt, um den brasilianischen Bevollmächtigten Barbosa zu besänftigen, der über den Rang, der seinem Lande im Prisengericht und im Entwurf eines ständigen Schiedsgerichtshofs zuerkannt wurde, entrüstet war. Man darf sich füglich fragen, wie europäische Staaten dazu kommen, gewissermassen Compensationsobjecte zu bilden für Bestrebungen und Ziele rein amerikanischer Politik! Eine europäische Monroe-Doctrin wäre hier nicht übel angebracht.
Unter diesen Umständen schiene es, wenn einmal die Einberufung einer dritten Conferenz in Aussicht steht, für uns angezeigt:
1) Zu nützlicher Zeit, d. h. schon vor Zusammentritt der Conferenz, möglichst innige Fühlung zu sichern mit den anderen Kleinstaaten Europas, namentlich mit Schweden, Norwegen, Dänemark, Belgien, Luxemburg und Rumänien. Auf die Niederlande ist nicht zu rechnen, weil sie als nun feststehender Sitz zukünftiger Conferenzen und des projectirten ständigen Schiedsgerichtshofs die erforderliche Unbefangenheit nicht besitzen. Eine solche vorgängige Verständigung wäre um so notwendiger, als das oben erwähnte «Comité préparatoire» einer dritten Conferenz sicherlich ein vorgängiges Einvernehmen der Grossmächte zur Folge haben wird.12
2) Zur Einreichung auf der Conferenz gewisse programmmässig ausgearbeitete Vorschläge bereit zu halten, denn nur dadurch können wir bestimmt auf eine Vertretung in den Comités zählen, uns ein nützliches Eingreifen in die Arbeiten der Conferenz sichern und dem Vorwurfe entgehen, uns über Gebühr ablehnend und negativ zu verhalten.
- 1
- CH-BAR#E2001A#1000/45#560* (B.231-2), DDS, Bd. 5, Dok. 205. Dieses Schreiben wurde vom ersten schweizerischen Delegierten an der II. Friedenskonferenz in Den Haag von 1907, Minister Gaston Carlin, verfasst und unterzeichnet. Das Schreiben richtete sich an den Vorsteher des Politischen Departements, Bundespräsident Eduard Müller.↩
- 2
- Vgl. dazu die thematische Zusammenstellung Haager Friedenskonferenzen (1899 und 1907), dodis.ch/T1503.↩
- 3
- Schlussbericht der schweizerischen Delegation an der II. Friedenskonferenz in Den Haag vom November 1907, dodis.ch/65103.↩
- 4
- Bestehend aus Minister Carlin und den Professoren Eugen Borel und Max Huber, vgl. das BR-Prot. Nr. 2164 vom 30. April 1907, dodis.ch/63160.↩
- 5
- Vgl. dodis.ch/63157.↩
- 6
- Vgl. dazu den Politischen Bericht des schweizerischen Gesandten in Paris, Minister Charles Lardy, an den Vorsteher des Politischen Departements, Bundespräsident Walter Hauser, vom 4. Juli 1900, dodis.ch/42753.↩
- 7
- Vgl. dazu die thematische Zusammenstellung Spanisch-Amerikanischer Krieg (1898), dodis.ch/T1455.↩
- 9
- Vgl. dazu DDS, Bd. 5, Dok. 181, dodis.ch/43036.↩
- 10
- Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs mit «Ordnung der Gesetze und Gebräuche des Landkriegs» vom 18. Oktober 1907, dodis.ch/8403.↩
- 11
- Kaiser Gojong.↩
- 12
- Vgl. dazu auch QdD 13, Dok. 39, dodis.ch/63162.↩
Tags
Hague Peace Conferences (1899 and 1907)