Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
II. WIRTSCHAFTS-, HANDELS- UND WÄHRUNGSPOLITIK
1. Bilaterale Verhandlungen
1.2. Der Handelsvertrag mit Deutschland
Pubblicato in
Documenti Diplomatici Svizzeri, vol. 3, doc. 299
volume linkBern 1986
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Archivio | Archivio federale svizzero, Berna | |
▼ ▶ Segnatura | CH-BAR#E13#1000/38#52* | |
Vecchia segnatura | CH-BAR E 13(-)1000/38 10 | |
Titolo dossier | Zusatzvertrag vom 11.11.1888 [AS, 10, 825] zum Handelsvertrag vom 23.05.1881 T. 1 Korrespondenz des Handels- und Landwirtschaftsdepartements mit der Schweizer Gesandtschaft in Berlin; Berichte des Vorortes des Handels- und Industrievereins und des Zentralvorstandes des Gewerbevereins an das HLD betr. den Handelsvertrag, seine Wirkungen und Kündigung des Vertrages; Anträge der Departemente an den Bundesrat; Abhaltung von Konferenzen in Bern (09/1886) und Berlin (11/1886); Bundesratsbeschlüsse (1884–1886) |
dodis.ch/42278
Da Sie, laut Ihrem geehrten Schreiben vom 24. d.Mts.2, vorziehen, dem Bundesrathe über die dermalige Situation betr. den deutsch-schweizerischen Handelsvertrag Bericht zu erstatten3, ohne vorher der Frage näher zu treten, ob und in welcher Form die deutsche Regierung über ihre Absichten betreffend eine eventuelle Revision des Vertrags auf Grundlage von Tarifconcessionen zu sondiren sei, so erachte ich es als angezeigt, Ihr Schreiben vom 15. d.Mts.4 zu beantworten ohne einen weitern Auftrag Ihrerseits abzuwarten.
Hiebei glaube ich jedoch auf eine einlässliche Berichterstattung verzichten und mich vielmehr auf folgende mehr allgemeine Gesichtspunkte concentriren zu sollen.
Mit der in Ihrem Schreiben vom 10. d.Mts.5 enthaltenen Wiedergabe der Quintessenz meines Berichtes vom 11. December 18846 bin ich im grossen Ganzen unbedingt einverstanden.
Nur einen Punkt finde ich darin zu wenig berücksichtigt, nämlich den Passus, in welchem ich mich gegen den Schluss des Berichtes hin, wie folgt ausgesprochen habe:
« Aber auch für den Fall eines in der Hauptsache vertragslosen Zustandes dürfte es sich für uns, im Hinblick auf die schon angedeuteten eventuellen Repressalien der Reichsregierung kaum empfehlen, dem Nachbarstaate Deutschland die bisherigen Vorteile der Meistbegünstigung ohne Weiteres zu entziehen. Ich nehme vielmehr an, dass man sich bei dieser Sachlage auf dem Wege des Notenaustausches die Behandlung der Meistbegünstigung wenigstens provisorisch (auf Zusehen hin) dennoch zusichern würde, und dass mithin nach dieser Richtung nur insofern eine Änderung gegenüber dem status quo eintreten dürfte, als die gedachte Begünstigung zu jeder Zeit widerruflich wäre.
Und weil ich betreffend die Eventualität eines vertragslosen Zustandes von dieser Auffassung ausgehe, möchte ich auch die Frage einer sorgfältigen Prüfung unterbreitet wissen, ob nicht vielleicht unsererseits, für den Fall, dass die Aussichten für die Revision des Vertrages im Laufe der Vorbesprechungen sich nicht bessern sollten, von einer Kündigung vorläufig abgesehen und vor der Hand eher eine stillschweigende Verlängerung des jezigen Vertragsverhältnisses von Jahr zu Jahr, nach Massgabe des Art. 12 des Vertrages7, ebenfalls ins Auge gefasst werden könnte und sollte.»
So, wie ich die dermalige Sachlage auffasse, gewinnt lezteres Auskunftsmittel immer mehr und mehr an Actualität.
Die Aussichten auf einen günstigen Tarif-Vertrag sind, wie ich in meinem Schreiben vom 20. d.Mts.8 ausgeführt habe, in Folge der Zolltarif-Novelle vom lezten Sommer insofern auf ein bedenkliches Minimum herabgesunken, als wir vor der Perspective stehen, dass Deutschland in der Hauptsache wohl höchstens auf die Ansäze des Generaltarifs vor Inkrafttreten der Novelle zurückgehen würde. Und andererseits scheint mir festzustehen, dass wir, wie ebenfalls schon erwähnt, Tarifconcessionen mit Gegen-Tarifconcessionen erkaufen müssten.
Die Frage, ob wir bei unserer gegenwärtigen Situation überhaupt Tarif-Concessionen machen könnten, lasse ich vor der Hand unerörtert.
Auch darüber, ob Deutschland sich wirklich auf Verhandlungen über Tarif-Reductionen betr. industrielle Artikel, welche in das Gebiet der Schutzzoll-Politik fallen, einlassen würde, will ich mich für heute nicht näher aussprechen. Um hierauf eine bestimmte Antwort geben zu können, müsste ich, wie schon bemerkt, vorerst in die Lage versezt werden, dieses Thema an zuständiger Stelle in vernehmlicher Weise anzutönen.
Zur Zeit glaube ich, offen gestanden, eher an die Negative; denn nichts, gar nichts deutet daraufhin, dass der Reichskanzler geneigt wäre, an seinem principiell schutzzöllnerischen Standpunkte rütteln zu lassen.
Wenn in der Schweiz, z. B. in Basel, als günstiges Prognosticon füt eine Revision des Vertrags auf der Grundlage von Tarifconcessionen geltend gemacht wird, Deutschland habe ja Spanien und Italien bereits solche Concessionen zugestanden, so beruht dies auf einer irrtümlichen Auffassung.
Allerdings sind Spanien und Italien deutscherseits Tarifconcessionen gemacht worden. Dieselben betreffen aber sozusagen ausschliesslich Finanzartikel, und keine einzige industrielle Position, welche in den Rayon der Schutzzoll-Artikel gehört, ist hiebei preisgegeben worden.
Ich gienge indess entschieden zu weit, wenn ich von der Möglichkeit, für uns in der Folge von Deutschland dennoch einzelne Concessionen auf Schutzzoll-Artikeln zu erkämpfen, ganz absehen würde.
Es können ja, in mehr oder weniger ferner Zeit, Umstände eintreten, welche dem Fürsten Bismark auch auf handelspolitischem Gebiete ein von seiner bisherigen Politik abweichendes Experiment als opportun erscheinen lassen.
Und wer weiss, ob uns nicht das Jahr 1887 d.h. der unwiderrufliche Ablauf des deutsch-österreichischen Handelsvertrages eine solche Überraschung bringt.
Selbst in amtlichen Fachkreisen scheint man mir die Möglichkeit als nicht ausgeschlossen zu betrachten, dass sich der Reichskanzler eventuell doch herbeilassen könnte, eine Verständigung Österreich-Ungarn gegenüber mit Tarifconcessionen auf industriellen Artikeln zu erkaufen.
In den gleichen Kreisen vertritt man aber die Ansicht, dass gerade gestüzt auf diese Eventualität die deutsche Regierung bis zum Zeitpunkte der Unterhandlungen mit Wien sich schwerlich geneigt zeigen dürfte, mit uns über einen Tarifvertrag zu unterhandeln, denn wenn Deutschland wirklich geneigt sein sollte, auf Grundlage des «do ut des» Ostreich gegenüber einzelne Tarif-Concessionen zu machen, so könne es sich nicht durch vorher der Schweiz gemachte Concessionen die Operationsbasis verschlechtern lassen.
Damit habe ich, so gut als es uns zur Zeit möglich ist, Ihre Frage9 betr. das handelspolitische Programm Deutschlands gegenüber Östreich-Ungarn beantwortet. Im gegenwärtigen Momente scheint man hier dieser Frage noch keineswegs näher getreten zu sein.
Ich nehme also, was die Zeitfrage betrifft, an, dass Deutschland im besten Falle erst in dem Zeitpunkte mit uns über Tarif-Concessionen zu unterhandeln geneigt wäre, wo es seine diesbezüglichen Unterhandlungen mit Östreich-Ungarn aufnehmen will.
Bis dahin dürften uns demnach unsere Interessen direct auf den Ausweg verweisen, dass wir faute de mieux den bestehenden Vertrag stillschweigend weiter aufrecht erhalten.
Erlauben Sie mir zum Schlüsse noch einige allgemeine Bemerkungen betreffend das zur Zeit in der Schweiz in vielen Kreisen so populäre Programm der Kündigung des Vertrags10 à tout prix, mit dem Endzwecke, durch diese Kündigung Deutschland gegenüber auf handelspolitischem Gebiete tabula rasa zu erlangen und den deutschen Export an Stelle des Vertragstarifes mit Frankreich mit unserem Generaltarif zu belegen.
Es will mir scheinen, dass man in diesen Kreisen die muthmasslichen Folgen einer Kündigung quand même nicht mit der gewünschten Klarheit übersieht.
Man vergisst nämlich, mit der von mir früher schon besprochenen Eventualität zu rechnen, dass Deutschland uns in diesem Falle mit der Anwendung des § 6 des deutschen Zolltarifgesezes, d.h. mit den 50% Zuschlag antworten könnte, davon gar nicht zu reden, dass wir alsdann, als Zugabe zu diesem Zollkriege en miniature, den Veredlungsverkehr ganz verlieren würden.
Darüber, wer einen solchen Zollkrieg länger aushalten könnte, ob wir oder Deutschland, mögen sich die Vertreter unserer Industrie, des Gewerbes und der Landwirthschaft ins Klare sezen. Mir liegt vor der Hand nur die Aufgabe ob, auf diese Eventualität aufmerksam zu machen.
Ich bin der Ansicht, dass, so lange wir Tarifverträge mit ändern Staaten haben, die Kündigung des Vertrags mit Deutschland in der Absicht, ein vacuum herbeizuführen, aus obigen Gründen unter allen Umständen ein sehr gewagtes Experiment wäre, und dass die zur Zeit viel gepriesene Unabhängigkeit der Schweiz auf zollpolitischem Gebiete jedenfalls erst für den Zeitpunkt ins Auge gefasst werden könnte, wo wir durch den Ablauf unseres Vertrages mit Frankreich wirklich tabula rasa haben werden.
Gehen wir vorher diesem oder jenem Staate gegenüber puncto Kündigung isolirt vor, so haben wir, wie gesagt, mit der Eventualität eines Zollkrieges zu rechnen.
Die ganze Frage will nach allen Richtungen mit kaltem Blute geprüft sein. Im Allgemeinen mögen diejenigen, welche der Kündigung das Wort reden, auch den Factor mit in Rechnung bringen, dass, nachdem mit einem Staate alle vertraglichen Beziehungen abgebrochen, Verhandlungen behufs neuer Regelung der Handels- und Verkehrsbeziehungen erfahrungsgemäss wesentlich grössere Hindernisse entgegenstehen, und dass die Chancen betreffend des zu erreichenden empfindlich ungünstiger sind, als wenn man bei solchen Unterhandlungen im gegebenen Momente sich an ein besseres Vertragsverhältniss anlehnen kann, und nicht mit Verstimmungen zu rechnen hat, welche die Kündigung eines Vertrages in der Absicht, einen vertragslosen Zustand herbeizuführen, immer nach sich ziehen.
- 1
- Bericht: E 13 (B)/154.↩
- 2
- Nicht ermittelt.↩
- 3
- Droz legte seinen Antrag am 29. 4.1886dem Bundesrat vor. Darin führte er aus: [...] Der jetzige Vertrag beschränkt sich, was die Zölle betrifft, im Wesentlichen auf die Klausel der meistbegünstigten Nation. Deutschland hat bis jetzt nur Griechenland, Italien und Spanien einige wenige Tarifbegünstigungen eingeräumt, worunter nur diejenige für Chocolade der Schweiz einigen Vortheil gewährt. Die Meistbegünstigungsklausel hatte daher für die Schweiz bis jetzt wenig praktischen Werth. [...] Der jetzige Vertrag gibt im Falle seiner Fortdauer Deutschland auch für weitere Zollerhöhungen, z. B. für Käse, oder für die theilweise Aufhebung des Vered- lungsverkehrs, der für die Baumwollspinnerei, -Zwirnerei und - Weberei eine fast vitale Bedeutung hat, völlig freie Hand. [...] . Das Verlangen der betheiligten schweizerischen Industriekreise tendirt unter diesen Umständen sehr entschieden nach einer Kündung des Vertrages, [...] . Angesichts der dringenden Wünschbarkeit irgendwelcher Massregeln gegen die bereits eingetretenen und noch zu befürchtenden Verschlechterungen der schweiz.-deutschen Exportbedingungen wäre das Unterzeichnete Departement unter dem Vorbehalt eines günstigen Gutachtens des Zolldepartements über die Tariffrage im Falle, die Kündung des Vertrages mit Deutschland und gleichzeitige Anbahnung eines neuen Vertrages auf noch näher zu bestimmender Grundlage zu befürworten (E 13 (B)/154).↩
- 4
- Nicht ermittelt.↩
- 5
- Nicht abgedruckt.↩
- 6
- Nicht abgedruckt.↩
- 7
- AS 1880-1881, 5, S. 465.↩
- 8
- Nicht ab gedruckt.↩
- 9
- Vgl. das Schreiben des Handels- und Landwirtschaftsdepartements an die Gesandtschaft in Berlin vom 10. 4.1886 (E 13 (B)/154).↩
- 10
- Vgl. Nr. 293 und Nr. 300, Anm. 4.↩
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