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Documents Diplomatiques Suisses, vol. 26, doc. 18
volume linkZürich/Locarno/Genève 2018
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Archives | Archives fédérales suisses, Berne | |
▼ ▶ Cote d'archives | CH-BAR#E2001E-01#1987/78#1838* | |
Ancienne cote | CH-BAR E 2001(E)-01/1987/78 442 | |
Titre du dossier | Besuch BR Graber, Wien, 28./29.5.1973 (1973–1975) | |
Référence archives | B.15.21.(05) • Composant complémentaire: Oesterreich |
Archives | Archives fédérales suisses, Berne | |
▼ ▶ Cote d'archives | CH-BAR#E7113A#1988/157#357* | |
Ancienne cote | CH-BAR E 7113(A)1988/157 109 | |
Titre du dossier | Généralités (1973–1973) | |
Référence archives | 777.03.0 |
dodis.ch/40541 Notiz für den Vorsteher des Politischen Departements, P. Graber1 GESPRÄCH MIT AUSSENMINISTER KIRCHSCHLÄGER2: DIE NEUTRALEN UND DIE EG3
Das Thema, das Herr Minister Kirchschläger mit Ihnen besprechen möchte, ist natürlich ausserordentlich allgemein und zugleich vielschichtig. Es kann unmöglich in einer kurzen und kurzfristig verfassten Notiz erschöpfend behandelt werden. Wenn ich richtig informiert bin, machen sich die Österreicher Sorgen über ihre künftige Stellung gegenüber den EG. Sie befürchten, von den EG vor faits accomplis gestellt zu werden, kein Mitspracherecht zu haben, in Abhängigkeit zu geraten usf.
Hierzu ist grundsätzlich zweierlei zu sagen:
1. Österreich hat, genau wie die Schweiz, die Nicht-Mitgliedschaft bewusst gewählt4. Natürlich ist der Bewegungsspielraum Österreichs geringer als derjenige der Schweiz. Aber die Österreicher haben immerhin bisher ihre Neutralitätspolitik nicht als auferlegten Zwang dargestellt und empfunden, sondern sich aus eigener Überzeugung dazu bekannt. Es tönt daher etwas eigenartig, wenn sie sich nun gewissermassen als verhindertes Mitglied der EWG fühlen. Es gibt eine Anzahl Konsequenzen der Nicht-Mitgliedschaft, die die Neutralen nun einmal akzeptieren müssen.
Dies vorausgeschickt, wirft natürlich die Stellung der Neutralen Probleme auf, die sorgfältiger Prüfung bedürfen, die aber auch ausgesprochen langfristiger Natur sind. Mir scheint, es geht jetzt weniger darum, mit den Österreichern irgendwelche konkreten Schritte zu planen, als vielleicht in der längerfristigen Gedankenarbeit eine engere Zusammenarbeit zu begründen.
2. Die Befürchtungen der Österreicher – wie auch diejenigen der schweizerischen Europa-Föderalisten – gehen zum Teil von einem stereotypen und idealisierenden EG-Bild aus. In gläubiger Vorwegnahme wird die Gemeinschaft als konsolidiertes, mächtiges, handlungsfähiges und entscheidungsfreudiges Gebilde gesehen. Wäre dies der Fall, so wäre die Stellung der Neutralen in der Tat unvergleichlich viel prekärer und problematischer als sie heute und in absehbarer Zukunft tatsächlich ist und sein wird. In Wirklichkeit befindet sich die Gemeinschaft in einer Identitätskrise oder, sagen wir neutraler, in einer Phase des «Sich-suchens». Diese Phase ist vor allem durch vier Elemente gekennzeichnet: – die Erweiterung, genauer gesagt die Anpassung an die erhöhte Mitglie derzahl, – die Notwendigkeit, nach dem Abschluss der Übergangszeit des Rom-Vertrags die ersten konkreten Schritte in Richtung auf eine wirkliche Wirtschaftsunion hin zu tun, – die Infragestellung der gemeinsamen Agrarpolitik5, eines der Fundamente
der bisherigen EWG, – die Notwendigkeit, gegenüber der übrigen Welt eine gemeinsame Sprache
zu finden.
Die Gemeinschaft kann an diesen Aufgaben zerbrechen oder in eine Art Dauerkrise verfallen. Eine seriöse Prognose ist nicht möglich. Auf jeden Fall werden wir wohl bis ca. 1980 warten müssen, um eine klare Tendenz zu erkennen. Der Entscheidungsdruck ist unter den heutigen Umständen nicht gross genug, um eine rasche Klärung zu erzwingen.
Zum Problem der Satellisierung vielleicht noch dies:
Jedes Land unterliegt heute unzähligen Sachzwängen. Seine Autonomie engt sich in zunehmenden Umfang ein (Beispiel: Energiekrise6, Währungskrise7, usf.). Die schweizerische Politik wird immer stärker komplementär zu externen Umständen und Einflüssen. Wir sind durch «die Welt» bereits in starkem Masse satellisiert und empfinden diesen Zustand dennoch als erträglich. Wir können ihn in bescheidenem Umfang mildern durch eine aktive internationale Kooperationspolitik, durch den Versuch, überall, wo dies möglich und sinnvoll erscheint, mitzureden, eigene Beiträge zu leisten.
Im Gegensatz zum Pluralismus der modernen Völkergemeinschaft mit ihren überaus zahlreichen internationalen Organisationen und Kooperationsformen könnte eine künftige EG-Wirtschafts- und Währungsunion8 dagegen sehr viel kompakter sein. Die für das Endstadium typische Konzentration der Befugnisse auf die Brüsseler Organe, die Exklusivität des Beschlussfassungsmechanismus, die Unterordnung der gesamten Tätigkeit unter eine integrationspolitische Gesamtkonzeption sind es, die die Stellung der kleinen neutralen Nachbarstaaten als besonders kritisch und die fehlenden Mitsprache- und Einflussmöglichkeiten als frustrierend erscheinen lassen.
Für die Schweiz – und wohl auch für Österreich – gibt es für die nächsten Jahre meines Erachtens nur eine sinnvolle Politik:9
- Ausschöpfung aller bestehenden Möglichkeiten der europäischen Zusammenarbeit in allen ihren Varianten10 (bilaterale Abmachungen zu den EG, multilaterale Zusammenarbeit in Europarat11 und EFTA12 usf.)
- Gegenüber den EG: unermüdliche Suche nach Mitteln und Wegen, im konkreten Einzelfall Diskriminierungen zu vermeiden oder zu beseitigen, (z. B. auf dem Gebiet des Niederlassungsrechts), aktive Beteiligung an «offenen» Projekten (z. B. «COST», Patentkonvention13 usf.), Einschaltung in den intellektuellen Prozess der Problemanalyse (z. B. auf dem Gebiet der Forschungspolitik14, der Währungspolitik15), Ausnützung unserer Stellung als Transitland inmitten des EG-Raums (Besonders wichtig im Bereich der Verkehrspolitik16; Österreich ist in der gleichen Lage), Ergreifen von sich bietenden Konsultationsmöglichkeiten, (z. B. im Rahmen der OECD17), wiederholte Hinweise auf die Gegenseitigkeit der Interessen (die Neutralen sind für die EG keine quantité négligeable) usf.
- Gleichzeitig aber auch: Pflege des eigenen «Profils», z. B. durch eine aktive Rolle in der Nixon-Runde18. Damit erreichen wir nicht nur, dass uns die aussereuropäische Länder nicht in einen Topf mit den EG werfen, sondern wir werden auch für die EG ein interessanterer Gesprächspartner.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass wir dem österreichischen Kleinmut eine Dosis Selbstvertrauen entgegensetzen sollten. Bei näherem Hinsehen sind die Aktionsmöglichkeiten zahlreicher, realer und für alle Beteiligten interessanter als gemeinhin angenommen wird. Die Chance liegt hier im Detail …
- 2
- Zu den Gesprächen in Wien vom 28.–29. Mai 1973 vgl. das Protokoll von I. Hofer und P.-Y. Simonin vom 18. Juni 1973, dodis.ch/40566.↩
- 3
- Zu den Beziehungen der Schweiz mit den Europäischen Gemeinschaften vgl. DDS, Bd. 26, Dok. 173, dodis.ch/39512. Zur Zusammenarbeit der Neutralen vgl. DDS, Bd. 25, Dok. 95, dodis.ch/35590, bes. Anm. 6; die Notiz des Integrationsbüros vom 16. Januar 1973, dodis.ch/39735; die Notiz von P.-A. Ramseyer vom 17. Januar 1973, dodis.ch/39727; das Protkoll von C. Caratsch vom 12. September 1974, dodis.ch/39742, bes. S. 5–7; die Notiz von C. Caratsch vom 6. März 1975, dodis.ch/39732 sowie das Protokoll vom P.-Y. Simonin vom 20. Oktober 1975, dodis.ch/40570.↩
- 4
- Vgl. dazu DDS, Bd. 25, Dok. 25, dodis.ch/35772. Zum Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vgl. DDS, Bd. 25, Dok. 182, dodis.ch/35776, bes. Anm. 3 sowie DDS, Bd. 26, Dok. 145, dodis.ch/39510.↩
- 5
- Vgl. dazu DDS, Bd. 24, Dok. 105, dodis.ch/32176, Anm. 12.↩
- 6
- Vgl. dazu DDS, Bd. 26, Dok. 49, dodis.ch/39686, Anm. 4.↩
- 7
- Vgl. dazu DDS, Bd. 26, Dok. 3, dodis.ch/39503; Dok. 7, dodis.ch/39504 sowie DDS, Bd. 26, Dok. 36, dodis.ch/37657.↩
- 8
- Zur europäischen Währungsschlange vgl. DDS, Bd. 26, Dok. 36, dodis.ch/37657, bes. Anm. 13; Dok. 141, dodis.ch/39506; Dok. 161, dodis.ch/39509 sowie DDS, Bd. 26, Dok. 170, dodis.ch/39508.↩
- 9
- Fussnote im Originaltext: Längerfristig könnte nach meiner persönlichen Auffassung unter ganz bestimmten Voraussetzungen, die hier nicht näher erläutert werden können, für die Schweiz ein Beitritt zu den EG trotz allem aktuell werden. Diese ferne und unsichere Perspektive ändert indessen nichts an den kurzfristigen Möglichkeiten und Erfordernissen.↩
- 10
- Fussnote im Originaltext: Vgl. hierzu die besondere Studie des Integrationsbüros über «Europäische Zusammenarbeit – bilateral oder multilateral?». Vgl. Doss. CH-BAR#E2001E-01#1987/78#1338* (B.15.21.(25)).↩
- 11
- Vgl. dazu den Schlussbericht von A. Dominicé an A. Janner vom 27. Juli 1973, dodis.ch/39394 sowie die Notiz von C. Caratsch vom 16. November 1973, dodis.ch/39397.↩
- 12
- Vgl. dazu DDS, Bd. 26, Dok. 105, dodis.ch/39407.↩
- 13
- Vgl. dazu das BR-Prot. Nr. 1411 vom 29. August 1973, dodis.ch/38428 sowie das BR-Prot. Nr. 2161 vom 19. November 1975, dodis.ch/39884.↩
- 14
- Vgl. dazu DDS, Bd. 26, Dok. 29, dodis.ch/39408.↩
- 15
- Vgl. Anm. 8.↩
- 16
- Vgl. dazu die Notiz von F. Blankart an W. Ritschard vom 10. Mai 1974, dodis.ch/39879.↩
- 17
- Zur Rolle der Schweiz in der OECD vgl. DDS, Bd. 26, Dok. 5, dodis.ch/39496 sowie DDS, Bd. 26, Dok. 140, dodis.ch/39498.↩
- 18
- Zur Rolle der Schweiz in den Verhandlungsrunden des GATT vgl. DDS, Bd. 26, Dok. 114, dodis.ch/38593, bes. Anm. 2.↩