Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 23, doc. 174
volume linkZürich/Locarno/Genève 2011
more… |▼▶Repository
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2001E#1978/84#6930* | |
Old classification | CH-BAR E 2001(E)1978/84 759 | |
Dossier title | Situation der ungarischen politischen Flüchtlinge in der Schweiz nach der Oktoberrevolution 1956 (1964–1967) | |
File reference archive | B.41.21.0.1 • Additional component: Ungarn |
dodis.ch/31632 Notiz für den Vorsteher des Politischen Departements, W. Spühler1
Am 15. November empfange ich auf seinen Wunsch den ungarischen Botschafter3. Die Unterredung dauert 5 /4 Stunden und dreht sich um die Ungarn-Gedenkfeiern4 in der Schweiz bzw. die ungarischen Demarchen und Proteste dagegen5.
Herr Gyemant nimmt Bezug auf die UPI-Meldung, die am 11. November in verschiedenen Schweizerzeitungen erschien (z. B. in der NZZ unter dem Titel «Ungarischer Rüffel für die Schweiz») und die in der Folge zu scharfen Reaktionen in «DerBund» («Plumpe Einmischung», wo die ungarischen Reklamationen als unverschämt taxiert werden), im «Feuille d’avis de Lausanne», in der Solothurner Zeitung («Aussenpolitik ist kein Theater» vom 14. November) im «Volksrecht» («Budapester Rüffel» von Chefredaktor Ulrich Kägi am 14. November)6, Anlass gab. Was Herrn Gyemant besonders erbost hat, sind neben den Angriffen (wie er es nennt) auf seine Regierung und Botschafter Beck, die Ausführungen in der Solothurner Zeitung, die vom EPD verlangen, Budapest seine Abberufung nahezulegen (G[yemant liest mir den entsprechenden Passus selbst vor). Herr Gyemant erklärt, wegen der verschiedenen Publikationen auf weitere Demarchen verzichten zu wollen. Bezüglich der Artikel im Bund und in der Solothurner Zeitung möchte er jedoch wissen, ob sich das Politische Departement damit identifiziert. Er müsse selbstverständlich über die neueste Entwicklung rapportieren, möchte dies aber nicht tun, ohne uns angehört zu haben.
(Die Korrektheit, die aus dieser Bemerkung hervorgeht, ist m. E. nur eine scheinbare. Ich bin überzeugt, dass die ungarische Reaktion auf die Erinnerungsfeiern weitgehend auf die Berichterstattung Gyemants und seines neuen 1. Mitarbeiters Kapcsos zurückzuführen ist. Ich bin auch überzeugt, dass, wenn Botschaftsrat Rac noch hier gewesen wäre, Budapest anders orientiert worden wäre.)
Meine Erwiderung geht davon aus, dass der Ursprung der beanstandeten Pressereaktionen ausschliesslich auf den in der «ZürcherWoche» erschie nenen Artikel7, gezeichnet Georg Berner alias Albert Huber, zurückgeht. Ich bezeichne diesen Artikel als ekelhaft und, da ich feststellen muss, dass Gyemant ihn kannte, aber bewusst nicht erwähnte, füge ich bei, der Artikel enthalte die These Budapests. Nach Erscheinen des Zürcher Woche-Artikels habe die UPI bei uns angefragt. Unter den gegebenen Umständen, d. h. nachdem Herr Berner detaillierte Angaben über die Besprechung Beck/Fuchss8 kannte, wurde UPI eine Bestätigung gegeben unter Hinweis einerseits auf die schweizerischen Grundfreiheiten und anderseits auf den würdigen Ablauf der Feiern. Es sei zu erwarten gewesen, dass in der Folge scharfe Reaktionen erfolgten, wobei dem EPD vorgeworfen wurde, die Öffentlichkeit nicht vorher informiert zu haben. Wir hätten dies bewusst nicht getan, um nicht Öl ins Feuer zu giessen. Aber die ungarischen Interventionen, insbesondere diejenige von Herrn Beck, hätten bei uns Kopfschütteln hervorgerufen. Ich unterstreiche, dass auf alle Fälle von offizieller schweizerischer Seite nichts an die Öffentlichkeit gelangt sei. Es sei mir ein Rätsel, woher die Zürcher Woche ihre Informationen habe, sicher nicht von schweizerischen Stellen9. G[yemant könne sich denken, dass wir zuallerletzt der Zürcher Woche etwas mitteilen würden. (Leider muss ich es mir verkneifen, Gyemant ins Gesicht zu sagen, Herr Kapcsos sei bei der sowjetischen Revolutionsfeier zusammen mit Herrn Huber gesehen worden. Ich selbst bin überzeugt, dass Kapcsos die Hand im Spiele hat, ob aus persönlicher Blödheit oder auf höhere Instruktion, bleibe dahingestellt.)
In Bezug auf die von einigen Zeitungen geführte Sprache verweise ich einmal mehr auf unsere Pressefreiheit. Lediglich bezüglich der Anspielung in der Solothurner Zeitung auf die Unfähigkeit Gyemants distanziere ich mich in dem Sinne, dass es nicht Sache einer Zeitung sei, über die Abberufung zu entscheiden.
Herr Gyemant fühlt sich veranlasst, zu sagen, er habe von einem Kollegen (!) gehört, dass am 26. oder 27. Oktober in der Tageschronik am ungarischen Radio die Nachricht verbreitet wurde, dass Botschafter Fuchss zu Botschafter Beck gebeten wurde, der ihm die Beunruhigung der ungarischen Behörden bezüglich der Demonstrationen in der Schweiz bekanntgab unter Hinweis, dass den bilateralen Beziehungen dadurch kein guter Dienst erwiesen werde. (Damit gibt Gyemant auf alle Fälle zu, dass es die ungarische Seite war, die sich bemüssigt fühlte, die Öffentlichkeit zu orientieren.) G[yemant fährt dann fort zu lamentieren unter Berufung auf seine Besuche bei mir (21. September10) und bei Botschafter Micheli (18. Oktober11), wobei er die These des Generalsekretärs, es handle sich um eine menschliche Angelegenheit, nur beschränkt gelten lässt und einmal mehr in Wallung gerät über die Fotoausstellung von «Niemals vergessen»12, insbesondere über die bei der Eröffnung von Regierungsrat Bauder gehaltene Rede. Er ist der Meinung, wir seien in die kälteste Zeit des Kalten Krieges zurückgefallen. G[yemant wünscht von uns eine offizielle Erklärung, die darauf hinauslaufen würde, Budapest und ihm Satisfaktion zu erteilen, m. a. W. wir sollten unsere Presse desavouieren. Ich erwidere, wir hätten uns auch schon gefragt, ob eine offizielle Erklärung nicht am Platze sei. Wir hätten aber im Interesse unserer Beziehungen davon abgesehen. Wir könnten es aber tun, müssten dann aber das ganze Paket der offenen Fragen der Presse vorlegen, angefangen bei den abgebrochenen Vermögensverhandlungen13 … Darauf zieht es Gyemant vor, nicht zu insistieren. Dafür möchte er, dass wir den Redaktoren der von ihm beanstandeten Artikel nahelegen, sich zu mässigen. Ich erwidere, wir könnten das tun, aber gemäss ständiger Praxis nur im Sinne der Weiterleitung seiner Beschwerde uns gegenüber. Wenn ich ihm einen guten Rat geben dürfe, so soll er das von uns nicht verlangen, denn die Wirkungen wären unabsehbar, da nicht nur die anvisierten Zeitungen, sondern die ganze Öffentlichkeit noch schärfer reagieren würden. G[yemant versichert mir, dass im gegenteiligen Falle weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft in ungarischen Zeitungen derart unqualifizierte Ausdrücke stehen. Auch wir hätten bestimmt die Möglichkeit, Empfehlungen auszusprechen. Auch in einer Familie müsse der Vater manchmal die Angehörigen zur Ordnung rufen. Ich repliziere: mit der Familie einverstanden. Ich könne mir auch nicht vorstellen, dass ein ungarischer Chefredaktor eine Empfehlung (um mich gelinde auszudrücken) eines Ministeriums nicht beachten würde; aber bei uns sei das nun einmal anders, und es sei Zeit, sich damit abzufinden14. Gyemant dupliziert15, übrigens hätten auch wir reagiert anlässlich der Verhaftung Fittlers wegen eines Artikels in der Nepszabadsag16. Ich ewidere, die Affäre Fittler sei ein Skandal gewesen, und die ungarischen Behörden hätten sich damit kein Ruhmesblatt erworben. Gyemant sieht ein, dass er besser nicht insistiert. Er verzichtet auch auf seinen Wunsch, wir möchten den Redaktionen einen Brief schreiben. Schliesslich ringt er sich zu der Schlussfolgerung durch, wir sollten bisher Erzieltes nicht ruinieren lassen, aber dazu brauche man Atmosphäre17. Damit ist endlich der Punkt erreicht, wo ich ihm zustimmen kann, d. h. dass auch wir das bisher Erreichte nicht in Frage stellen wollen, und dass wir auf der offiziellen Ebene nie die Absicht hatten oder haben, eine Verschlechterung eintreten zu lassen.
Es wäre wirklich zu hoffen, dass Budapest nun endlich abtackelt. Als Gyemant vorsprach18, wusste er noch nicht, dass am gleichen Nachmittag Herr Bundesrat von Moos eine Delegation der ungarischen Flüchtlinge empfing, die ihren Dank für das gewährte Asyl überbrachten19. Eine neuerliche ungarische Intervention in dieser Frage müssten wir entschieden als Einmischung in die schweizerische Flüchtlingspolitik zurückweisen. Im übrigen gilt es abzuwarten. Es hat im Moment wenig Sinn, zu versuchen, die Atmosphäre wieder aufzuhellen. Wir haben nichts wieder gutzumachen …
- 1
- Notiz: E 2001(E) 1978/84 Bd. 759 (B.41.21). Verfasst und unterzeichnet von A. Janner. Visiert von W. Spühler. Kopie an die schweizerische Botschaft in Budapest.↩
- 2
- Die Unterredung fand am 15. November statt. Das genaue Datum der Notiz ist nicht bekannt. Eine Kopie wurde jedoch am 17. November 1966 an die schweizerische Botschaft in Budapest versandt, E 2001(E) 1978/84 Bd. 757 (B.15.21).↩
- 3
- A. Gyémánt.↩
- 4
- Zur schweizerischen Reaktion auf den Aufstand vom Oktober 1956 in Ungarn und zur Aufnahme ungarischer Flüchtlinge vgl. DDS, Bd. 23, Dok. 166, dodis.ch/30805, Anm. 3.↩
- 5
- Vgl. dazu das Schreiben von W. Fuchss an P. Micheli vom 27. Oktober 1966, dodis.ch/31636.↩
- 6
- Alle erwähnten Presseberichte befinden sich im Doss. wie Anm. 1.↩
- 7
- Vgl. Doss. wie Anm. 1.↩
- 8
- Vgl. Anm. 5.↩
- 9
- Handschriftliche Korrektur aus: Quellen.↩
- 10
- Notiz von A. Janner vom 31. Oktober 1966, dodis.ch/31635.↩
- 11
- Notiz von P. Micheli an W. Spühler vom 18. Oktober 1966, dodis.ch/31634. Die Vorsprache wurde auch in der Bundesratssitzung diskutiert, vgl. das BR-Verhandlungsprot. der 65. Sitzung vom 18. Oktober 1966, E 1003(-) 1994/26 Bd. 4, S. 7.↩
- 12
- Vgl. Doss. wie Anm. 1.↩
- 13
- Zu den Verhandlungen zwischen der Schweiz und Ungarn zu den noch offenen vermögensrechtlichen Fragen vgl. DDS, Bd. 23, Dok. 21, dodis.ch/31540, Anm. 2. Vgl. auch DDS, Bd. 23, Dok. 166, dodis.ch/30805.↩
- 14
- Zur Frage der Pressefreiheit und den Klagen Ungarns über die negative Presseberichterstattung in der Schweiz vgl. auch DDS, Bd. 23, Dok. 166, dodis.ch/30805.↩
- 15
- Handschriftlich ergänzt.↩
- 16
- Vgl. dazu die Notiz von A. Janner vom 15. Februar 1966, dodis.ch/31690 und das Schreiben von W. Fuchss an W. Spühler vom 26. Mai 1966, dodis.ch/31637. Zum Einfluss von Einzelschicksalen auf den Verlauf von Verhandlungen vgl. auch DDS, Bd. 23, Dok. 34, dodis.ch/31565 und Dok. 34, dodis.ch/31565.↩
- 17
- Handschriftliche Korrektur aus: braucht man aber atmosphäre.↩
- 18
- Handschriftliche Korrektur aus: vorspricht.↩
- 19
- Vgl. die Mitteilung des Justiz- und Polizeidepartements vom 15. November 1966, Doss. wie Anm. 1 und das BR-Verhandlungsprot. der 74. Sitzung vom 18. November 1966, E 1003(-) 1994/26 Bd. 4, S. 3.↩
Tags
Press and media Hungary (General)