Erwägungen in der Frage der Kreditgewährung an die Balkanstaaten.
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 16, doc. 38
volume linkZürich/Locarno/Genève 1997
more… |▼▶Repository
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2001E#1000/1571#3582* | |
Old classification | CH-BAR E 2001(E)1000/1571 321 | |
Dossier title | Schweiz. Anleihen an Regierungen, Gemeindewesen, Firmen etc. in Bulgarien (1945–1948) | |
File reference archive | C.41.152.0 • Additional component: Bulgarien |
dodis.ch/315
Politisches Departement1
AUSSPRACHE ÜBER DIE FRAGE DER KREDITGEWÄHRUNG AN DIE BALKANSTAATEN VOM 17. OKTOBER 1945, 08.00 UHR, IM BUREAU VON HERRN DIREKTOR HOTZ
[...] 2
Leg.rat Troendlereferiert über die gegenwärtige Lage. Allen Balkanstaaten ist gemeinsam, dass sie sich in einer ungefreuten politischen Lage befinden und dass die schweizerischen Investitionen gefährdet sind3. Er ist der Meinung, dass wir aber nicht abwarten können, mit der Aufnahme der Handelsbeziehungen bis sich die politische Lage geklärt hat. Der Balkan ist für uns zu bedeutend, vor allem jetzt, wo uns der deutsche Markt fehlt. Wir, wie auch die Balkanstaaten müssen einen Ersatz für Deutschland suchen, was nicht ungünstig für die zukünftigen gegenseitigen Handelsbeziehungen sein dürfte. Im Durchschnitt der 10 Vorkriegsjahre haben die Balkanstaaten jährlich für 200 Mio. Fr. Waren in die Schweiz geliefert, also ungefähr soviel wie Frankreich allein. (Tschechoslowakei 56 Mio., Rumänien 30 Mio., Frankreich4 38 Mio.). Gegenwärtig stehen verschiedene Hindernisse der Aufnahme der Beziehungen entgegen:
1. Die ungeklärte Lage zu Russland. Immerhin haben wir die Erfahrung gemacht, dass Russland in Bezug auf unsere Handelsbeziehungen zu den Balkanstaaten kein Veto einlegt. (Ein Lastwagen, der Schweizerwaren nach Budapest brachte, konnte auf der Rückfahrt ungarische Waren mitnehmen, ohne dass die Russen es verhindert hätten).
2. Auf grösseren Widerstand stossen wir bei den Angelsachsen. Ihre Haltung ist unverständlich. Österreich, Rumänien und Bulgarien werden noch als feindliche Länder betrachtet. Sie wollen uns am Handel mit dem Balkan hindern, um selbst zu liefern. Keine Schwierigkeiten werden sie dagegen bei Polen und Jugoslawien machen, da diese Länder ebenfalls Alliierte sind.
3. Verwüstungen, Transportschwierigkeiten, vor allem Fehlen von Rollmaterial. Alle Balkanstaaten wünschen eine Vorleistung der Schweiz. Sie wollen sofort Produktivgüter für den Wiederaufbau, um uns später Konsumgüter liefern zu können. Konkrete Begehren liegen erst von Jugoslawien und Polen vor. Später werden sicherlich Österreich und Ungarn dazukommen.
Leg. Troendlereferiert über die bisherigen Verhandlungen mit Jugoslawien5. Die Jugoslawen verlangten einen Kredit von 30 bis 50 Mio. Fr. Wir erklärten, nur mit einer Regierungsdelegation zu verhandeln, die kompetent ist, jugoslawische Gegenleistungen zuzusichern. Eventuell könnte der Kredit durch jugoslawisches Gold in New-York gesichert werden.
Polen6. Wir erhielten eine Einladung zu Verhandlungen nach Warschau. Dieser Tage konnte aber vereinbart werden, dass eine polnische Delegation in die Schweiz kommt. Bei Polen ist die Frage der Deckung für einen Kredit schwieriger. Dagegen kann uns Polen Kohlen liefern. Ausserdem ist Polen nach der Tschechoslowakei7 das interessanteste Land für uns, da es uns vor dem Kriege wichtige Waren lieferte.
Dir. Hotz: Wenn wir einem Staat einen Kredit einräumen, müssen wir verlangen, dass er die alten Schulden anerkennt, uns Garantien für die Rückzahlung geben kann und Gegenleistungen möglich sind. Im allgemeinen müssen wir ausserordentlich Mass halten. Polen gegenüber kann ein Kredit vor dem Volk eher vertreten werden, wenn er in Verbindung gesetzt wird mit Kohlenlieferungen.
Dir. Reinhardtwirft einige bisher nicht berührte Punkte auf: Wir sollten eigentlich nur Kredite gewähren, wenn die Währung und die Rechtsordnung des Schuldnerstaates einigermassen geordnet sind. Es fragt sich, wie der Kredit gestaltet werden soll, ob der Staat oder die Banken im Vordergrund stehen. Troendleantwortet Dir. Reinhardt, dass nach seiner Erfahrung es unmöglich sei, mit den Balkanstaaten über den Kurs zu reden. Ein Warenaustausch ist nur möglich bei einer Fakturierung in Schweizerfranken. Ferner wird der Zahlungsverkehr sich im Rahmen eines Clearingabkommens abwickeln müssen. Was die Art des Kredites anbetrifft, scheint ihm nur ein reiner Warenkredit in Frage zu kommen, der in Form von Wartefristen, Exportrisikogarantie etc. gegeben werden kann. Es soll sich nicht um einen Finanzkredit handeln.
Was die alten Schulden anbetrifft, so sind im allgemeinen die Clearingrückstände der Balkanstaaten nicht bedeutend (Ungarn8 hat sogar einen Aktivsaldo von 20 Mio. Fr.). Dagegen sind die Finanzrückstände beträchtlich. Über die letzteren Forderungen soll natürlich ebenfalls verhandelt werden.
Dir. Homberger: Eine schweizerische Vorleistung ist notwendig. Sie ist von wirtschaftlicher und politischer Bedeutung. Die Kredite müssen aber wirtschaftlich fundiert sein. Sie müssen in Beziehung zur Warenkapazität der betreffenden Länder gestellt werden. Sie sollen das Mass geben, wobei individuell die Qualität der Warenangebote und die Raschheit der Liefermöglichkeiten berücksichtigt werden kann.
Mit Bezug auf die Form des Kredites erklärt er, dass er verstehe, wenn der Bund nicht den Kassier der ganzen Welt spielen wolle, sondern lieber die Wirtschaft im Vordergrund sähe. Es ist aber zu berücksichtigen, dass zum Beispiel durch die Exportrisikogarantie die Organisation viel komplizierter wird. Unsere Lieferungen würden deshalb nur langsam in Gang kommen. Wenn aber z. B. Polen rasch liefern soll, müssen auch wir rasch liefern. Das System der Wartefristen für die Auszahlung kommt nur in Frage, wenn die Zahlung vom Staate garantiert wird. Wir haben uns aber bereits anläßlich der Verhandlungen mit Italien9 entschlossen, diese Form nicht mehr anzuwenden. Sie ist für normale Verhältnisse bedenklich, da eigentlich kein Schuldner da ist. Wir haben nur Anspruch auf den Gegenwert in fremder Währung, resp. Warenlieferungen und haben nicht die Möglichkeit, eine andere Art der Tilgung zu verlangen. Sympathischer wäre eine bankenmässige Kreditgewährung mit Staatsgarantie. Ob aber die Banken gegenüber Polen und Jugoslawien das Risiko tragen wollen, wie bei Holland10, ist fraglich. Andererseits ist fraglich, ob diese Länder die hohen Zinsen zahlen wollen.
Zahlungsabkommen mit diesen Ländern kommen nicht in Frage. Die Währungsverhältnisse sind zu ungeordnet. Man sollte den Clearingvertrag, den wir mit Italien abgeschlossen haben, zum Vorbild nehmen.
Bei Polenist die Frage der Kriegsschäden wichtig. Die Enquête sollte endlich durchgeführt werden11.
Dir. Hotz: Den Vertretern des Politischen Departementes gegenüber drückt er den Wunsch aus, dass in Zukunft die Bestimmung von Ort und Zeit für Wirtschaftsverhandlungen der Handelsabteilung überlassen werden sollte. Ferner ersucht er das Politische Departement in der Frage von Krediten nichts zu präjudizieren. Wir müssen grösste Zurückhaltung üben, da die schweizerische Wirtschaft Hochkonjunktur hat. Die Kredithöhe muss auf den Warenverkehr basieren; maximal sollte sie einen Jahresimport betragen.
Leg. Zehnder: Es liegt dem Politischen Departement fern, einen Druck wegen der Frage der Kreditgewährung auszuüben. Es legt nur Gewicht darauf, dass auf möglichstes Gleichgewicht zwischen Ost und West gesehen wird. Ferner würde es das EPD begrüssen, wenn möglichst intensiv abgeklärt werden könnte, wieweit die Balkanstaaten selbständig sind. Dies geschieht natürlich am besten an Ort und Stelle, deshalb hätte das EPD es gerne gesehen, wenn die schweizerische Delegation nach Warschau gereist wäre. Ferner interessiert uns, ob die von der Schweiz gelieferten Produktionsgüter nach Russland weitergesandt werden.
Im übrigen anerkennt das EPD das Primat der wirtschaftlichen Überlegungen. Es hat an den Balkanstaaten eigentlich nur ein vorübergehendes Interesse, solange die Beziehungen mit Russland noch nicht aufgenommen sind12.
Schliesslich weist er darauf hin, dass man bei der Kreditgewährung verlangen sollte, dass der Schweizerbesitz garantiert wird. Später kann dann allenfalls die Entschädigungsfrage aufgeworfen werden.
Leg. Troendleverspricht allgemein, und speziell bei den Verhandlungen mit Polen, mit Bezug auf die Verstaatlichung für schweizerische Interessen die Meistbegünstigung und angemessene Entschädigung zu verlangen.
- 1
- (Kopie): E 2001 (E) 1/321. Paraphe: AR.↩
- 2
- An der Sitzung sind anwesend: M. Troendle, Delegierter des BR für Handelsverträge; J. Hotz und F. Bauer, Handelsabteilung EVD; H. Homberger, Vorort; R. Hohl, A. Zehnder und H. Hess (Protokoll), EPD; E. Reinhardt und L. Jacot, EFZD.↩
- 3
- Zu den schweizerischen Investitionen und den Nationalisierungen in den Balkanstaaten siehe E 9500.2/1970/228, 229, 230. Vgl. auch die Notiz über die durch Verstaatlichungsmassnahmen betroffenen bzw. bedrohten schweizerischen Interessen in den Balkanstaaten des EPD vom 16. April 1947, dodis.ch/1756.↩
- 4
- Es handelt sich hier sehr wahrscheinlich um Jugoslawien.↩
- 5
- Zu den Wirtschaftsverhandlungen der Schweiz mit Jugoslawien siehe E 2001 (E) 2/633 sowie E 7110/1967/32/821Jugoslawien.↩
- 6
- Zu den Wirtschaftsverhandlungen der Schweiz mit Polen siehe E 2001 (E) 2/633 sowie E 7110/1973/119/36 und E 7110/1967/32/821Polen. Vgl. auch Thematisches Verzeichnis in diesem Band: Polen – Wirtschaftsbeziehungen.↩
- 7
- Zu den Wirtschaftsverhandlungen der Schweiz mit der Tschechoslowakei siehe E 2001 (E) 2/634 sowie E 7110/1967/32/821Tschechoslowakei. Vgl. auch Thematisches Verzeichnis in diesem Band: Tschechoslowakei – Wirtschaftsbeziehungen.↩
- 8
- Zu den Wirtschaftsverhandlungen der Schweiz mit Ungarn siehe E 2001 (E) 2/616 sowie E 7110/1973/119/41 und E 7110/1976/16/61.Vgl. auch Thematisches Verzeichnis in diesem Band: Ungarn – Wirtschaftsbeziehungen.↩
- 9
- Zu den Wirtschaftsverhandlungen der Schweiz mit Italien siehe E 2001 (E) 2/631 sowie E 7110/1967/32/821Italien. Vgl. auch Thematisches Verzeichnis in diesem Band: Italien – Wirtschaftsbeziehungen.↩
- 10
- Zur Frage der schweizerischen Kreditgewährung an die Niederlande vgl. das BR-Prot. Nr. 219 vom 30. Januar 1945, E 1004.1 1/453 und E 2001 (E) 2/630.Vgl. auch DDS, Bd. 15, Thematisches Verzeichnis: II.19. Niederlande↩
- 11
- Zur Frage der Kriegsschäden und einer Enquête über schweizerische Interessen in Polen siehe E 2001 (E) 2/633.↩
- 12
- Zur Frage der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der Schweiz und der UdSSR vgl. DDS, Bd. 16, Dok. 14, dodis.ch/1914, Dok. 15, dodis.ch/132, Dok. 64, dodis.ch/50 und Thematisches Verzeichnis in diesem Band: UdSSR – Politische Beziehungen.↩
Relations to other documents
http://dodis.ch/315 | is the completion to | http://dodis.ch/50 |
http://dodis.ch/315 | is the completion to | http://dodis.ch/132 |
http://dodis.ch/315 | is the completion to | http://dodis.ch/1756 |
http://dodis.ch/315 | is the completion to | http://dodis.ch/1914 |
http://dodis.ch/1962 | is the completion to | http://dodis.ch/315 |
Tags
Yugoslavia (Economy) Russia (Economy) Czechoslovakia (Economy) Italy (Economy) Poland (Economy) Bulgaria (Economy) Netherlands (the) (Economy) Hungary (Economy) Export Risk Guarantee (ERG)