Hospitalisierung von Kindern aus deutschen Konzentrationslagern in der Schweiz. Hilfeleistungen der Schweizer Spende.A ce sujet, cf. Aussi les documents dodis.ch/13, dodis.ch/2182 et dodis.ch/2183.
Abgedruckt in
Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 16, Dok. 5
volume linkZürich/Locarno/Genève 1997
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Archiv | Schweizerisches Bundesarchiv, Bern | |
▼ ▶ Signatur | CH-BAR#E2001D#1000/1553#7800* | |
Alte Signatur | CH-BAR E 2001(D)1000/1553 484 | |
Dossiertitel | Schweizerspende, Organisation (1945–1945) | |
Aktenzeichen Archiv | B.55.42.33 |
dodis.ch/1714
AKTION 2000 KINDER
Wie mir Herr de Haller, Delegierter des Bundesrates für internationale Hilfswerke, berichtet hat, hat Herr BundesratPetitpierre in der Bundesratssitzung vom letzten Donnerstag davon gesprochen, es werden eine Aktion zur Hospitalisierung von 1000 bis 2000 Kindern aus deutschen Konzentrationslagern geplant3. Die Diskussion im Bundesrat soll dann vertagt worden sein, weil der Zusammenhang mit der Aktion von Frau Sternbuch zuerst abzuklären sei4. Da ich annehme, der Bundesrat werde auf die Sache neuerdings zu sprechen kommen und da ohnehin ein Entscheid des Bundesrates notwendig sein wird, gestatte ich mir, über die Sache folgendes darzulegen:
Die Schweizerspende hat (im Anschluss an Besprechungen des Herrn Olgiati mit dem SHAEF und der UNRRA in Paris) die Prüfung der Frage aufgenommen, ob 1000 bis 2000 Kinder einige Zeit in der Schweiz aufgenommen werden könnten. Die Besprechungen hatten folgendes Ergebnis: Das Schweizerische Rote Kreuz ist bereit, die Durchführung der Aktion zu übernehmen, d. h. für Unterbringung, Pflege und Betreuung in der Schweiz zu sorgen. Die Abteilung für Territorialdienst des Armeekommandos stellt dem Schweizerischen Roten Kreuz zu diesem Zweck die notwendigen Hotels zur Verfügung. Die Finanzierung wird von der Schweizerspende übernommen. Gedacht ist an einen Aufenthalt von etwa einem Jahr.
Nach dem beigehefteten Bericht des Bureaus der Schweizerspende5 handelt es sich «vorwiegend um Kinder polnischer und jugoslawischer Nationalität oder um Kinder, deren Nationalität unbekannt ist. Der Gesundheitszustand ist zwar nicht gut, aber doch nicht so schlecht, wie erwartet. Die meisten sind Waisen. Alter 3 bis 16, jedoch nur wenige unter 6. Ein Drittel sind geistig und moralisch schwer geschädigt und in einem Masse verwildert, dass sie sich wie Tiere benehmen. Mehrheitlich handelt es sich um Juden. Die Kinder sind bereits desinfiziert und haben eine Quarantäne hinter sich.»
Es wird somit eine ausgesprochen humanitäre Rettungsaktion an Kindern geplant. Eine solche Aktion muss grundsätzlich unsere Unterstützung finden. Und doch glaube ich, dass schweizerischerseits der Aktion nicht ohne gewisse Bedenken oder ev. Einschränkungen zugestimmt werden kann.
In erster Linie scheint mir das angegebene Alter der in Betracht kommenden Kinder zu Bedenken Anlass zu geben. Wenn die Kinder wenigstens ein Jahr oder noch mehr in der Schweiz bleiben müssten, werden aus den 15und 16jährigen schon 16- und 17jährige Kinder geworden sein. Wenn der zitierte Bericht davon spricht, diese Kinder seien vollkommen verwildert und benähmen sich wie Tiere, müssen wir bei zunehmendem Alter mit ganz besonderen Schwierigkeiten rechnen. Dies wäre unter Umständen besonders schlimm, wenn nicht nur Knaben, sondern auch Mädchen in die Aktion einbezogen werden.
Ich frage mich deshalb, ob nicht allenfalls eine Beschränkung in dem Sinne verfügt werden sollte, dass wir bloss Kinder bis zum 12. Altersjahr im Rahmen der Aktion aufnehmen würden. So bedauerlich es wäre, dass wir einen Teil dieser Kinder auf diese Weise unsere Hilfe versagen würden, glaube ich doch darauf aufmerksam machen zu müssen, dass unserer schweizerischen Bevölkerung nicht besondere Unannehmlichkeiten verursacht werden sollten (Sexualaffären, Diebstähle, usw.).
Ein wesentlicher Punkt ist die Frage, ob und wohin die aufgenommenen Kinder nach Beendigung des Aufenhaltes in der Schweiz wieder werden gehen können. In den ersten Besprechungen haben wir darauf hingewiesen, es sollte wenn möglich vor Beginn der Aktion eine Übernahmezusicherung anderer Staaten beschafft werden, z. B. von Amerika oder von den Heimatstaaten. Es zeigt sich jedoch, dass die Verhandlungen zur Erlangung solcher Garantien sich so lange hinzögern würden, dass dadurch die ganze Aktion verunmöglicht würde. Dieses Hindernis errichtet zu haben, könnte ich nicht verantworten.
Herr Dr. Rothmund hat sich mit dem Intergouvernementalen Komitee in London in Verbindung gesetzt und uns in dessen Namen die Erklärung abgegeben, dass das Komitee bereit sei, Länder zur definitiven Ansiedlung für die Kinder, die keine Heimat haben, in die sie sich begeben könnten, ausfindig zu machen. Herr Dr. Rothmund gibt seiner Überzeugung Ausdruck, dass das Komitee seinerzeit alle nötigen Schritte unternehmen und in der Lage sein werde, für Abnahme der Kinder zu sorgen. Trotzdem haben wir hier natürlich nicht eine verbindliche Übernahmeerklärung, auf die wir uns in einem Jahr werden berufen können; wir haben lediglich die Zusicherung, dass uns das Komitee mit seinem ganzen Gewicht unterstützen werde6.
Herr de Haller und die Schweizerspende sehen noch eine andere Möglichkeit vor: Sie möchten danach trachten, dass in die Aktion vorwiegend Kinder mit einer bestimmten Staatsangehörigkeit (also nicht staatenlose) einbezogen werden, so dass man damit rechnen könnte, diese Kinder könnten nach Beendigung des Aufenthalts in der Schweiz dann in ihre Heimatstaaten zurückkehren7. Ob der Vertreter der Schweizerspende mit dieser Forderung durchdringen kann, ohne die ganze Aktion zum Scheitern zu bringen, kann ich nicht beurteilen.
Der Vertreter der Schweizerspende, Herr Kesselring, sollte am Mittwoch, 30. 5. 45, zur Fortführung der Besprechungen nach Paris verreisen. Es wäre deshalb dringend wünschenswert, dass der Bundesrat wenn möglich in seiner morgigen Sitzung zur Angelegenheit Stellung nehmen könnte, damit Herr Kesselring die erforderlichen Instruktionen mitnehmen kann8.
Vollständigkeitshalber möchte ich noch folgendes beifügen: Die erste Aktion, die von Herrn Saly Braunschweig eingeleitet worden ist und darauf gerichtet war, 400 Kinder aus dem Lager Buchenwald nach der Schweiz zu bringen, ist, wenn ich richtig orientiert worden bin, «im Sande verlaufen», d. h. in der neuen Aktion für 1000 bis 2000 Kinder aufgegangen. Wenn auch die neue Aktion durch das Schweizerische Rote Kreuz übernommen wird, wird dieses die jüdischen Organisationen in einem gewissen Umfange zur Mitwirkung heranziehen. Anscheinend ist ja nur ein kleiner Teil der Kinder jüdischer Konfession. Die meisten Kinder eignen sich wegen ihrer derzeitigen Verwahrlosung nicht zur Unterbringung in einer Familie. Soweit aber Familienunterbringung für jüdische Kinder in Frage kommt, wird das Schweizerische Rote Kreuz die Organisation des Herrn Saly Braunschweig zur Mitwirkung heranziehen.
Die Aktion von Frau Sternbuch ist von der neu geplanten Aktion unabhängig. Frau Sternbuch beabsichtigt, eine jüdische orthodoxe Schule für polnische Flüchtlingskinder zu errichten, für die neben neu in die Schweiz kommenden Kindern hauptsächlich die bereits anwesenden Flüchtlingskinder in Frage kämen. Der Plan der Frau Sternbuch berührt somit die hier geschilderte Hilfsaktion nicht. [...]9
- 1
- Die Notiz ist unterzeichnet von R. Jezler und richtet sich an E. von Steiger. Eine Kopie geht an E. von Haller.↩
- 2
- (Kopie): E 2001 (D) 3/484.↩
- 3
- Es sind keine Aufzeichnungen über diese Diskussion im BR auffindbar.↩
- 4
- Frau R. Sternbuch war Mitarbeiterin bei der Union of Orthodox Rabbis of the United States and Canada und als solche zuständig für den Verkehr mit dem Roten Kreuz und den Behörden. Vgl. dazu E 4800 (A) 1967/111/42.↩
- 5
- Nicht abgedruckt.↩
- 6
- Vgl. das Schreiben von H. Rothmund an E. de Haller vom 25. Mai 1945; nicht abgedruckt.↩
- 7
- Vgl. die nicht abgedruckte Notiz von E. de Haller an M. Petitpierre vom 28. Mai 1945, dodis.ch/13. In dieser Notiz wendet sich E. de Haller an M. Petitpierre, um die Bedenken von H. Rothmund aufzugreifen. Für letzteren scheinen die Wiederausreise der Buchenwald-Kinder und deren endgültige Repatriierung die entscheidenden Fragen dieses Unternehmens gewesen zu sein. De Haller schreibt in diesem Zusammenhang: Il ne faut pas perdre de vue l’intérêt moral que nous avons à recevoir ces enfants, même au risque d’éprouver d’ici six mois ou un an quelques difficultés à nous débarrasser de certains d’entre eux. Diese Fragen bleiben bis zur Ankunft der ersten 350 Buchenwald-Kinder brisant; vgl. das Schreiben von E. de Haller an R. Tyler vom 20. Juni 1945, dodis.ch/2182.↩
- 8
- Zur Stellungnahme von M. Petitpierre und zu dessen Instruktionen für A. B. Kesselring-Loo vgl. das Schreiben von E. de Haller an den Departementssekretär des EJPD, F. Stierlin, vom 30. Mai 1945, dodis.ch/2183.↩
Verknüpfungen mit anderen Dokumenten
http://dodis.ch/1714 | nimmt Bezug auf | http://dodis.ch/13 |
http://dodis.ch/2183 | ist Fortsetzung von | http://dodis.ch/1714 |
http://dodis.ch/2182 | ist Fortsetzung von | http://dodis.ch/1714 |
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Humanitäre Hilfe Haltungen gegenüber Verfolgungen Beziehungen zum IKRK