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«Unsere jungen Ambassadoren». Internationaler Jugendaustausch aus schweizerischer Perspektive 1950–1989, vol. 16, doc. 2
volume linkBern 2021
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E2200.53-05#1977/143#522* | |
Dossier title | Schüleraustausch (1955–1958) | |
File reference archive | VI.56/O.4 |
dodis.ch/54437
Die Abteilung für Schulkind und Fürsorge des Zentralsekretariats von Pro Juventute an den schweizerischen Gesandten in Wien, Reinhard Hohl1
Erlauben Sie, dass wir in einer etwas undurchsichtigen Sache an Sie gelangen. Im Herbst 1955 wandte sich die Schullandaktion des Stadtschulrates für Wien an das Solothurnische Erziehungsdepartement mit dem Vorschlag eines Schüleraustausches auf ziemlich grosser Basis.2 Unterschrieben war der Brief von Frau Grete Mrak und Herrn Edmund Endlicher. Die Angelegenheit kam dann an uns3 und wir antworteten, dass ein Austausch für Heime nicht in Frage komme, dass wir dagegen bei unseren Mitarbeitern, speziell in der französischen Schweiz,4 eine Umfrage veranstalten wollten, ob von Familie zu Familie ein solcher Austausch möglich wäre. Es ergab sich dann, dass in bescheidenem Rahmen (ca. 15 Schüler und Schülerinnen) eine solche Aktion durchgeführt werden könnte.
Wir wurden dann etwas stutzig als der Briefkopf des nächsten Schreibens aus Wien eine neue Firma trug:
Wiener Komitee für Internationale Schulverständigung und Schüleraustausch, Grassigasse 5, Wien XIV. (Unter dem Ehrenschutz des Präsidenten des Stadtschulrates für Wien, Herrn Nationalrat Dr. L. Zechner5.)
Wir fragten bei zwei uns bekannten Wiener Fürsorgestellen und erhielten die Auskunft, es handle sich um eine ziemlich einseitig politisch orientierte mehrheitlich private Angelegenheit. Die Bemerkungen wegen der Politik haben uns nicht erschüttert, denn der Unterzeichnete weiss aus seiner Arbeit als Wiener Delegierter der Schweizerspende6 gut genug, dass in Österreich die erste Frage immer nach dem Parteibuch geht.7
Heute nun aber wird uns ergänzend mitgeteilt, es stimme nicht, dass Nationalrat Dr. Zechner den Vorsitz übernommen habe. Er sei wohl ersucht worden, dieses Amt anzunehmen, habe aber abgelehnt.
Die geplante Austauschaktion werde von zwei Lehrern auf eigene Faust in die Wege geleitet.8
Wenn das wirklich so wäre, so hätten wir erhebliche Bedenken. Um eine solche Aktion durchzuführen braucht es doch einen festen Boden und vor allem ziemlich grosse Erfahrungen und Sachkenntnis, denn es können da auch Schwierigkeiten auftauchen.9
Ferner wäre es unsympathisch, wenn es sich um eine einseitig parteipolitisch orientierte Aktion handeln würde. Unsere Schweizerkinder kommen eben in der überwiegenden Mehrzahl aus bürgerlichen Familien und wissen überhaupt nichts von Politik.
Wir wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie auf irgendeinem Wege Licht in diese Angelegenheit bringen und uns entsprechenden Bericht geben könnten.
Da abgemacht ist, dass die Tauschofferten bis Ende April bereit liegen müssen, könnten wir jetzt noch unter irgendeinem Vorwand die Sache abblasen.10
Wir danken Ihnen zum voraus, wenn Sie sich dieser grossen Mühe unterziehen wollen und grüssen Sie hochachtungsvoll.
- 1
- Schreiben: CH-BAR#E2200.53-05#1977/143#522* (VI.56/O.4). Unterzeichnet von Alfred Siegfried, dodis.ch/P12025, von der Abteilung für Schulkind und Fürsorge des Zentralsekretariats von Pro Juventute.↩
- 2
- Der Stadtschulrat Wien hatte sich im September 1955 nicht nur an das solothurnische Erziehungsdepartement gewendet, sondern gleich an mehrere kantonale Erziehungsdirektionen. Vgl. Dok. 1, dodis.ch/54436, bes. Anm. 4.↩
- 3
- Pro Juventute hatte sich bereits in der Zwischenkriegszeit mit Schüleraustausch befasst. Dies belegt ein Schreiben des schweizerischen Konsuls in Mannheim vom 6. Juli 1931 an die Abteilung für Auswärtiges des EPD, worin Konsul Max Kunz seine Vermutung äussert, in der Schweiz existiere eine Vermittlungsstelle, welche sich mit Schüleraustausch beschäftige. Er bat die Abteilung für Auswärtiges, seine Anfrage an diese Stelle weiterzuleiten, dodis.ch/54504. Am 10. Juli 1931 leitete die Abteilung für Auswärtiges die Anfrage an das Sekretariat von Pro Juventute in Zürich weiter, CH-BAR#E2001C#1000/1547#987* (B.21.007). ↩
- 4
- Die Idee, auf schweizerischer Seite könnten sich am ehesten Jugendliche aus der Romandie für einen Austausch mit Österreich interessieren, findet sich schon früher. Bereits 1951 war ein Vorstoss zur Einrichtung eines österreichisch-schweizerischen Jugendaustauschs erfolgt, wobei die Initiative von Rudolf Gönner, Landesjugendreferent von Niederösterreich, ausging. Der kontaktierte Vertreter von Pro Juventute wies darauf hin, in der Schweiz zeige sich «höchstens Interesse von franz. sprechenden Partnern». Möglicherweise würden nämlich die Eltern von jungen Romands es vorziehen, «ihr Kind in eine österreichische Familie in Austausch zu geben, in der nicht unbedingt richtigen Annahme, dass das Kind nur dort gutes Deutsch lernen könne». Vgl. das Schreiben des Dienstes Freizeit von Pro Juventute an die schweizerische Gesandtschaft in Wien vom 4. Mai 1951, CH-BAR#E3001B#1978/30#549* (08.4.06.4). Der 1922 in Wien geborene Rudolf Gönner war seit 1950 Landesjugendreferent für Niederösterreich. In dieser Funktion hatte er sich mit staatsbürgerlicher Erziehung, internationalen Jugendbegegnungen und kulturellen Jugendveranstaltungen zu befassen. Vgl. Wolfgang Brezinka: Pädagogik in Österreich. Die Geschichte des Faches an den Universitäten vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, Band 3, Wien 2008, S. 135–145, hier S. 136.↩
- 5
- Leopold Zechner (1884–1968), dodis.ch/P58515, Präsident des Wiener Stadtschulrates von 1945 bis 1960 sowie Nationalrat der SPÖ von 1945 bis 1956.↩
- 6
- Es handelt sich um die 1944 gegründete Schweizer Spende an die Kriegsgeschädigten. Unter den zahlreichen von der Schweizer Spende in der unmittelbaren Nachkriegszeit unterstützten Hilfsprojekten finden sich pädagogische Aktionen wie die folgende: «54 deutsche Seminaristen aus der französischen Zone verbrachten zwischen 1946 und 1948 drei- bis zwölfmonatige Studienaufenthalte an schweizerischen Seminarien». Vgl. Die Schweizer Spende. Tätigkeitsbericht 1944–1948, Bern 1949, S. 226. Unterlagen dazu finden sich im Archiv der Erziehungsdirektorenkonferenz im Staatsarchiv Luzern, CH-StALU A 1270/314, Internationale Bildungszusammenarbeit (1946–1947). ↩
- 7
- Zur Frage der parteipolitischen Patronage im österreichischen Bildungswesen der Nachkriegszeit vgl. Helmut Engelbrecht: Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Erziehung und Unterricht auf dem Boden Österreichs, Band 5. Von 1918 bis zur Gegenwart, Wien 1988, S. 5. Vgl. ferner die Korrespondenz zwischen Hans Rudolf Faerber, vom Verein schweizerischer Gymnasiallehrer, und dem schweizerischen Botschafter in Wien, Beat von Fischer. Faerber hatte in seinem Schreiben vom 23. März 1960 an die schweizerische Botschaft um Adressen österreichischer Organisationen von Mittelschullehrkräften gebeten. In seiner Antwort vom 29. März 1960 betont Botschafter von Fischer, neben einer sehr grossen Zahl von fachlich ausgerichteten Vereinen und Verbänden existiere in Österreich auch ein Zusammenschluss von Gymnasiallehrern nach beruflich-ständischen Interessen. Dieser Verband vereinige hauptsächlich Angehörige der Österreichischen Volkspartei sowie der Sozialistischen Partei, CH-BAR#2200.53-05#1977/143#522* (VI./0.9). ↩
- 8
- Vgl. das Schreiben von Landessschulinspektor Albert Krassnigg vom 3. November 1955 an Minister Reinhard Hohl, den schweizerischen Gesandten in Österreich. Darin teilte Krassnig mit, die Aktion trage offiziösen Charakter, sie sei rein pädagogischer Natur und sie werde vom Ministerium für soziale Verwaltung sowie der Stadt Wien finanziell unterstützt. Als Initiator wird Regierungsrat Raimund Fuhri genannt. Die Aktion sei förderungswürdig und seriös. Weil der Stadtschulrat aber nicht direkt in diese Aktivität eingebunden werden wollte, habe er Frau Mrak und Herrn Endlicher gebeten, ihr Austauschprojekt auf Vereinsbasis zu organisieren, CH-BAR#E2200.53-05#1977/143#522* (VI.56/O.4). Zu Albert Krassnig vgl. auch Richard Schrodt: Dokumente zur neueren Geschichte der deutschen Orthographie in Österreich, Hildesheim 2000. Daraus geht hervor, dass Krassnigg in der unmittelbaren Nachkriegszeit als ein besonders engagierter Verfechter der Rechtschreibreform in Österreich hervorgetreten war.↩
- 9
- Die interkulturellen Aktivitäten von Pro Juventute in den 1950er-Jahren waren eher auf die Vermittlung von Brieffreundschaften als auf Schüleraustausch ausgerichtet. Vgl. dazu den Jahresplan des Freizeitdienstes von Pro Juventute vom 31. Januar 1952, Abschnitt Jugendferiendienst, CH-SOZARCH, Pro Juventute PJ 08.03.014, S. 7. Dort wird ausgeführt: «Auf dem Austausch-Sektor bestehen vor allem Schwierigkeiten wegen dem Fehlen geeigneter Partner-Organisationen in Frankreich und England und in der Koordinierung der verschieden gerichteten Interessen der entsprechenden Bevölkerungen; es solle versucht werden, ‹wenigstens so viele Fäden in der Hand zu halten, dass wir der an und für sich kleinen Nachfrage schweizerischerseits genügen können›.» Im Vergleich dazu erreichte das Engagement von Pro Juventute im Bereich der Heimatferien für Auslandschweizerkinder ein wesentlich grösseres Ausmass. Vgl. dazu bspw. das Dossier CH-BAR#E2200.280A#1969/180#42* (L.11). ↩
- 10
- Vgl. Dok. 3, dodis.ch/54438.↩
Relations to other documents
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