Classement thématique série 1848–1945:
V. AFFAIRES MILITAIRES ET FAITS DE GUERRE
1. Stratégie générale
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 13, doc. 35
volume linkBern 1991
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E27#1000/721#9617* | |
Old classification | CH-BAR E 27(-)1000/721 2049 | |
Dossier title | Politische und wirtschaftliche Berichte vom März 1939 aus Deutschland, u.a. Meldungen über die politische und militärische Bedrohung der Schweiz durch Deutschland (1939–1939) | |
File reference archive | 06.B.2.a.2.d |
dodis.ch/46792
Rapport sur la situation politique et militaire de la Suisse1
DIE SCHWEIZ IM ANGRIFFSFELD DER ACHSE BERLIN-ROM
I. Der Aktionsplan der Achse
1. Die Bedrohung Frankreichs von der Schweiz aus
Das Verhältnis innerhalb der Achse Berlin-Rom ist gegenwärtig solcherart, dass Italien nicht mehr länger gewillt ist nur Deutschland die Früchte der Achsenpolitik ernten zu lassen, sondern dass Italien nun auch «einkassieren» will. Die Deutschen sind zwar nicht sehr erfreut darüber, dass Italienschon jetzt seine Wechsel präsentiert, und es wäre ihnen lieber, die italienischen Forderungen noch hinausschieben zu können. Sie werden aber trotzdem, soweit es die allgemeine politische Situation erlaubt, die italienischen Forderungen propagandistisch und diplomatisch unterstützen, schon deshalb, weil sonst die Gefahr einer «Erlahmung des Dynamismus» der Achse bestände.
Dass es Frankreich ist, das die italienischen Wechsel bezahlen soll, ist ja inzwischen so offenkundig geworden, dass es nicht mehr besonders erwähnt zu werden braucht. Jedoch denkt niemand innerhalb der Achse an einen deutschitalienischen Krieg gegen Frankreich (jedenfalls nicht für das Jahr 1939), sondern an eine Politik der Einschüchterung, der Unterwühlung und der Kriegsdrohung, mit welchen Mitteln man hofft aus Frankreich die nötigen Konzessionen zugunsten Italiens herauszupressen. Die wichtigste Rolle in diesem Spiel ist dabei der Schweiz zugedacht.
Alle Vorbereitungen und Überlegungen der Achse zielen heute darauf hin, mit welchen Mitteln und Methoden und in welchem Tempo die Schweiz in das System der Achse Berlin-Rom eingegliedert werden kann. In Berlin und Rom wird es direkt als eine «Anormalität» betrachtet, dass es innerhalb der geographischen Lage der Achse überhaupt noch «so etwas Altmodisches» wie eine «freie Schweiz» gibt.
Die gegen die Schweiz geplante Aktion wird aber in einem ganz ändern Stil durchgeführt werden als die Aktionen gegen Österreich und die CSR, - d.h. die Achse wird dabei auf die propagandistische Vorbereitung von langer Dauer verzichten, um dafür ihre Aktion «schlagartig, blitzartig» zu führen. Denn die «Eingliederung» der Schweiz ist ja kein eigentliches «politisches Ziel» für die Achse, sondern nur ein Mittel für ein anderes Ziel: die Bedrohung Frankreich s. Dieses eigentliche Hauptziel bestimmt deshalb auch die Mittel und Methoden und das Tempo der gegen die Schweiz geplanten Aktion.
Für die Beurteilung der Strategie der Achse ist es wichtig zu wissen, dass die gegen die Schweiz geplante Aktion derart angelegt ist, um die in der Schweiz zu erobernde Position dann sofort als ein direktes Mittel der Bedrohung Frankreichs auszunützen. Sollte sich z. B. in den nächsten Wochen und Monaten die internationale politische Situation in einer Weise entwickeln, dass eine direkte Drohpolitik gegenüber Frankreich noch nicht zweckmässig oder noch zu riskant wäre, dann würde auch die gegen die Schweiz geplante Aktion solange aufgeschoben werden bis zur entsprechenden internationalen Situation, - denn die Achse will, in ihrer Schweizer Politik, ihre Karten nicht zu früh aufdecken.
2. Die Methoden für die «Eingliederung» der Schweiz
Eine militärische Besetzung der Schweiz durch die Achse wird in Berlin und Romnoch nicht beabsichtigt (oder höchstens für die Kantone Schaffhausen und Tessin), sondern dieses Mittel würde erst dann angewendet werden, wenn die anderen Methoden, das Schweizervolk «für die Achse zu gewinnen», versagen sollten. An eine militärische Besetzung denkt man auch deshalb nicht, weil man das Schweizervolk nicht bis zur «letzten Kraftanstrengung» des militärischen Widerstandes gegen die Achse provozieren will, denn immerhin besteht, nach Ansicht Berlins und Rom s, die Gefahr eines allgemeinen europäischen Krieges, falls die Schweiz zum militärischen Widerstand entschlossen wäre.
Die geplante Kapitulation der Schweiz will man mit «elastischeren» und wirksameren Mitteln erzielen. Der strategisch-politische Gedanke ist dabei der folgende: Durch eine Politik der Kriegsdrohung die moralische Existenz der Schweiz so stark zu erschüttern, dass diese «freiwillig» kapituliert, indem dem Schweizervolk dabei ganz handgreiflich vordemonstriert werden soll, dass es von seiten Frankreichs auf keine Hilfe rechnen kann, d.h. man hofft dabei in der Schweiz eine solche «Wut und Enttäuschung gegen den Westen» zu erzeugen, dass sich die Schweiz dann, aus dieser psychologischen Stimmung heraus, der antifranzösischen Politik der Achse «freiwillig» anschliessen werde.
(Dieselben psychologischen Wirkungen haben die Deutschen ja auch beim tschechischen Volk erprobt, wo es heute schon genug tschechische Nationalisten gibt, die - aus Wut, Enttäuschung und Verzweiflung - je eher, je lieber, mit den Deutschen gegen die Franzosen, Polen oder Russen marschieren möchten. Dasselbe Rezept soll auch in der Schweiz angewendet werden!)
Das Hauptziel, das die Achse bei ihrer gegen die Schweiz geplanten Aktion verfolgt, ist dieses: zu erreichen, nicht nur, dass die deutsche und italienische Armee durch die Schweiz hindurchmarschieren und an der schweizerisch-französischen Grenze aufmarschieren dürfen, sondern auch dieses, dass sich die Schweizer Armee dabei aktiv, als «Bundesgenosse» einer deutsch-italienischen Militärkoalition, beteiligt. Es ist zwar noch nicht geplant, nach einer politischen Kapitulation der Schweiz dann auch sofort mit einem militärischen Aufmarsch der deutschen und italienischen Armee in der Schweiz zu beginnen, sondern die Achse will nur diese Möglichkeit dann sofort, als politisches Druckund Drohmittel gegen Frankreich propagandistisch und diplomatisch ausspielen, um Frankreich derart einzuschüchtern, dass es die von Italien im Mittelmeer und in Nordafrika geforderten Konzessionen (samt der Rückgabe der deutschen Kolonien) bewilligt. Auch England hofft die Achse dabei so weit einschüchtern zu können, dass die englische Regierung die «Vermittlung» zu einer neuen «Konferenz à la München» übernehmen werde, auf welcher Konferenz eben dann die von Frankreich verlangten Konzessionen erpresst werden sollen. Der allgemeine europäische Friede würde dabei «gerettet» werden.
Zur Erzwingung der politischen Kapitulation sollen folgende Methoden angewendet werden: Hitler und Mussolini werden «plötzlich» Reden halten (und event, noch entsprechende diplomatische Noten in Bern abgeben), in welchen sie erklären werden, dass sie die Neutralität der Schweiz nicht mehr anerkennen können, weil das Schweizervolk, infolge seiner deutschfeindlichen und antiitalienischen Haltung, die «Neutralität» der Schweiz schon längst selbst vernichtet habe. Denn die Achse erkennt den Unterschied zwischen «völkerrechtlicher Neutralität» und «liberaler Meinungsfreiheit» nicht an, sondern verlangt eine «totale» Neutralität. Die Deutschen und Italien er wissen natürlich ganz genau, dass wenn die Schweiz das totale Neutralitätsprinzip anerkennen würde, dies einer totalen Verfassungsänderung gleichkäme, wobei die Schweiz zwangsweise in das totalitäre Diktatursystem hineingleiten würde. Aber die Forderung der «totalen» Neutralität ist von der Achse gar nicht ernst gemeint, sondern nur der «juristische» Vorwand, um die Schweiz in das Achsensystem einzugliedern.
Denn welches werden die Folgen sein, wenn Hitler und Mussolini «schlagartig» die Schweizer Neutralität nicht mehr anerkennen? Nach der Meinung der Deutschen die folgende: Die Schweiz werde sofort in eine Wirtschaftskatastrophe von unvorstellbarer Grösse geraten, beginnend mit einer panikartigen Flucht des schweizerischen und ausländischen Kapitals nach Westeuropa und Amerika. Die Deutschen rechnen damit, dass die Schweiz damit in wenigen Tagen ihren ganzen Goldbestand verlieren werde, und dass der Run auf die Banken so gross sein werde, dass diese alle gezwungen werden würden, ihre Schalter zu schliessen.
Die Schweiz hätte natürlich die Möglichkeit, - so sagen die Deutschen - durch eine Devisenkontrolle und durch eine Kontrolle des Zahlungsverkehrs der Banken (Moratorium) diese Kapitalflucht und den Run auf die Banken zu vermeiden. Aber in diesem Falle würde die Schweiz, und zwar gerade durch diese Massnahme, in das «totalitäre System» hineingleiten, denn schwere Schädigungen in dem Kapital- und Handelsverkehr zwischen der Schweiz und dem Westen, sowie eine grosse wirtschaftliche Verwirrung innerhalb der Schweiz selber, wären die notwendigen Folgen einer Devisen- und Bankkontrolle.
Auf beiden Wegen also, sei es durch Kapitalflucht oder durch Devisenkontrolle, würde die Schweiz in kurzer Zeit «mürbe gemacht» werden können, um dem System der Achse beizutreten. Denn die Achse hätte dabei die Möglichkeit den Schweizer Kapitalmarkt unter ihre Kontrolle zu bringen und dabei den Aussenhandel der Schweiz derart neu zu organisieren, indem der Schweizer Industrie neue Absatzmärkte, sowohl bei der deutschen und italienischen Aufrüstung, wie auch bei der deutschen Expansion im Donau gebiet, gesichert werden können.
Aber neben diesen wirtschaftlichen Folgen erwarten die Deutschen noch viel bedeutendere politische Folgen bei der geplanten Drohpolitik. Sie rechnen damit, dass die Schweiz die Unterstützung und die Hilfe Frankreichs und Englands anrufen werde (in finanzieller, militärischer und diplomatischer Hinsicht) - wenn Hitler und Mussolini erklären, die Neutralität der Schweiz nicht mehr anerkennen zu wollen - und dass die Schweiz dabei von den Westmächten im Stich gelassen, bezw. mit platonischen Erklärungen abgespeist werden würde, was dann den erhofften Umschwung in der Stimmung des Schweizervolkes herbeiführen soll: d.h. die Zerstörung seines moralischen Widerstandswillens.
Die Deutschen rechnen damit, dass, am Anfang der Kampagne, im Schweizervolk ein «wilder Sturm der Entrüstung» gegen die Achse losbrechen werde, aber dass diese Stimmung dann rasch in Wut und Hass auf die Westmächte Umschlägen werde, sobald das Schweizervolk zu erfahren bekommen wird, dass es auf die Hilfe des Westens nicht rechnen kann.
Die einzige Möglichkeit, vor der die Deutschen und Italien er bei ihrer gegen die Schweiz geplanten Kampagne Angst haben, ist die, dass Frankreich und England plötzlich mobilisieren und dabei erklären würden, die Unabhängigkeit der Schweiz mit Waffengewalt veteidigen zu wollen. Die Deutschen meinen nun, dass ein solcher Akt von Seiten der Westmächte nicht zu erwarten sei, denn Frankreich würde vielleicht mobilisieren, um seine Grenzen zu schützen, aber Frankreich würde nie erklären, die Unabhängigkeit der Schweiz mit Waffengewalt schützen zu wollen, und zwar aus zwei Gründen:
1) weil die öffentliche Meinung Westeuropas einen baldigen politischen Angriff der Achse gegen die Schweiz gar nicht erwartet, und
2) weil Frankreich nur Krieg führen kann, wenn es die Unterstützung Englands dabei hat, und England an der Verteidigung der Schweizer Unabhängigkeit kein Interesse habe, denn die Schweiz habe für England nicht dieselbe Bedeutung wie Belgien und Holland. Deshalb hoffen auch Berlin und Rom, dass das von ihnen geplante Spiel gegen die Schweiz einen vollen Erfolg mit sich bringen werde.
3. Die für die Eingliederung der Schweiz notwendige internationale Situation
Die eine Bedingung wurde bereits genannt, nämlich: das völlige Desinteressement Englands an der Schweiz und damit der Zwang Frankreich s, sich defensiv verhalten zu müssen. Eine weitere Bedingung ist die völlige Entspannung der früheren italienisch-englischen Kampfstimmung, um England für die ihm zugedachte «Vermittler-Rolle» reif zu machen. Und die dritte Bedingung ist die Vollendung der «Einkreisung Frankreich s» von Spanien her, d.h. die Eroberung Barcelona’s durch die Truppen Franco’s und der mit ihm verbündeten italienischen Freikorps.
Die Bedrohung Italien s, die Frankreich von Corsika aus ausüben kann, soll kompensiert werden durch eine italienische Bedrohung Südfrankreichs von Barcelona aus. Die Italien er haben die feste Absicht, ihre Posten in Katalonien(die sie sich in den nächsten Wochen zu schaffen hoffen) nicht eher zu räumen, ehe sie nicht von Frankreich die notwendigen Konzessionen in Afrika erhalten haben. Die Italien er richten heute alle ihre Hoffnungen auf die Eroberung Kataloniens durch Franco, weil sie damit rechnen, dass eine Bedrohung Frankreichs von Katalonien aus für England kein Kriegsgrund sein werde, - was z.B. der Fall sein könnte, wenn Italien von Südspanien und Spanisch-Marokko aus die Strasse von Gibraltar bedrohen würde.
Katalonien und die Schweiz sind die beiden Aktionsfelder, auf denen gleichzeitig gespielt werden wird. Sollte sich die Eroberung Barcelona’s noch hinauszögern, so wird auch die Aktion gegen die Schweiz noch entsprechend hinausgezögert werden. Und sollte Italien es nicht wagen, infolge einer sehr energischen Haltung Englands (und nur dann!!) Frankreich von Katalonien aus offen zu bedrohen, dann wird die Aktion gegen die Schweiz ebenfalls aufgeschoben werden. Denn die Aktion gegen die Schweiz soll ja kein nur auf dieses Land beschränktes isoliertes Unternehmen werden (wie z.B. die Aktionen gegen Österreich und gegen die CSR), sondern die Aktion ist darauf angelegt, innerhalb eines grossen internationalen Manövers, den wichtigsten «Überraschungsstoss» gegen Frankreich zu bilden.
Zu dem gegen Frankreich gerichteten grossen internationalen Manöver gehört auch die Neutralisierung Polen s, wobei den Polen versprochen wird, dass sie bei der späteren Aufteilung des französischen (und später auch des englischen) Kolonialreiches mitbeteiligt werden sollen. Deshalb tun auch die Italien er alles, eine Verständigung zwischen Polen und Deutschland herbeizuführen, da sie befürchten, dass ein deutsch-polnischer Konflikt wegen Oberschlesien und des Weichsel korridors, die von Italien geplante Drohpolitik zum Scheitern bringen könnte. Denn die Deutschen sind, im Grunde genommen, «nur mit halbem Herzen» an der geplanten Drohpolitik gegen Frankreich beteiligt, bezw. will Deutschland eine solche Politik erst dann einleiten, wenn vorher Ungarn, Rumänien und die ehemaligen deutschen Gebiete Polens fest in den Händen Deutschlands sein werden. Hier ist auch heute noch der kritische Punkt in allen Operationsplänen der Achse.
Die Deutschen haben ein grosses Misstrauen gegen die Polen. Sie wissen natürlich, dass Polen «neutral» bleiben wird, wenn Frankreich bei der, via Schweiz und Katalonien geplanten, Drohpolitik, infolge einer «friedlichen» Haltung England s, zum Nachgeben gezwungen werden wird. Aber die Deutschen wissen ebenfalls, dass Polen auf die Seite der Westmächte umschwenken würde, wenn es zu einem Krieg zwischen der Achse und diesen Westmächten kommen sollte.
Für die Deutschen ist es deshalb ebenso wichtig, jede derartige polnische Aktionsmöglichkeit unmöglich zu machen. Vorerst noch nicht durch einen direkten Angriff oder durch eine direkte Angriffsdrohung gegen Polen, sondern durch eine «Einkreisung Polen s». Dazu gehört das geplante deutschlitauische Bündnis, wobei den Litauern versprochen wird, Wilna zu erhalten, wenn sie Memel an Deutschland verlieren werden. Ferner der Eintritt Ungarns in den «Anti-Komintern-Pakt» und die damit geplante Eroberung oder Revolutionierung Rumäniens durch Deutschland und Ungarn, sodass Polen (und speziell die polnische Ukraine) auch von der rumänischen Bukowina aus bedroht werden kann. Nach Vollendung dieser «Einkreisung Polen s» rechnen die Deutschen damit, dass Polen dann gezwungen sei, die ehemaligen preussischen Provinzen (oder mindestens den Weichsel korridor, das Netzegebiet und Oberschlesien) «ohne Schwertstreich» an Deutschland wieder zurückzugeben.
Wenn die deutsche Presse gegenwärtig die italienische Revisionspolitik im Mittelmeer unterstützt, so ist dies nur ein Manöver, darauf berechnet, Mussolini in «guter Stimmung» zu halten und den Widerstandswillen Englands abzutasten. In Wirklichkeit wäre es den Deutschen heute gar nicht unangenehm, wenn Englandsehr energisch gegen alle italienischen Revisionsforderungen Stellung nehmen würde, weil dann die Deutschen den Italien ern «beweisen» könnten, dass eine offene Drohpolitik gegen Westeuropa (und speziell gegen Frankreich) erst dann eingeleitet werden könne, wenn vorher ganz Ost-Europa (bis zur russischen Grenze) unter die deutsche Herrschaft gebracht sei. Nach den deutschen Absichten müsste Italien noch ein Jahr lang sich auf «Sekundantendienste» beschränken und müsste sich in der Zwischenzeit mit der propagandistischen Vertretung seiner Revisionsforderungen begnügen, sodass die bestehende Spannung zwischen Frankreich und Italien aufrecht erhalten bleibt. Obwohl die Deutschen der Ansicht sind, dass Frankreich auf jede aktive Politik in Osteuropa verzichtet habe, so halten sie es doch für notwendig, dass Frankreich auch jede Möglichkeit zu einer solchen aktiven Politik dadurch abgeschnitten werden muss, indem Frankreich von Italien aus in Schach gehalten wird.
Aber selbst wenn die (via Schweiz und Katalonien) gegen Frankreich geplante Drohpolitik in den nächsten Monaten glücken sollte, so rechnen die Deutschen nicht damit, dass Italien dabei «auf den ersten Hieb» hin von Frankreich grosse territoriale Konzessionen erhalten werde, da die englische «Vermittlung» dies verhindern würde. Die Deutschen meinen, es genüge, wenn Italien vorerst folgendes erhielte: den südlichen Teil von Tunis (südlich der befestigten Linie von Gabes), den nördlichen Teil von Djibouti, ferner einen Freihafen in der Stadt Djibouti, sowie die Hälfte der Aktien der Eisenbahn Djibouti-Addis-Abbeba und einen kleinen Anteil an den Aktien des Suez kanals. Dazu neue Rechte für die Italien er in ganz Tunis und eine erhöhte Einwandererquote für den nördlichen Teil von Tunis.
Diese «vorläufigen Konzessionen» würden vor allem den «Appetit» Italiens stärken und Italien wäre nun gezwungen, ganz fest bei der Achse zu bleiben, d.h. alle weiteren Osteroberungen Deutschlands zu unterstüzzen, weil Italien ja erst dann an neue Erwerbungen in Afrika denken könne, wenn die deutsche Hegemonie über Ost- und Mitteleuropa gesichert wäre. Nur weil die Deutschen wissen, dass eine «vorläufige Abfindung» Italiens auf Kosten Frankreich s, die italienisch-französischen Beziehungen nicht verbessern, sondern verschlechtern wird, nur deshalb sind die Deutschen auch bereit, schon im Frühjahr 1939 an einer italienischen Drohpolitik gegen Frankreich mitzumachen und dabei die Verwirklichung der deutschen Ostpläne erst nach der französischen Kampagne in Angriff zu nehmen. Die Verwirklichung dieser Ostpläne wird aber von den Deutschen immer dann in den Vordergrund gerückt werden, sobald sie damit rechnen müssen, dass eine deutsch-italienische Drohpolitik gegen Frankreich zu einem Krieg mit Frankreich und England führen könnte.Das bei aller Rücksichtslosigkeit doch vorsichtige Operieren der Achse zeigt schon jetzt, dass alle gegen Frankreich gerichteten Anschläge durch eine entschlossene und sehr energische Politik Frankreichs (und England s) pariert werden können. Auch wenn sich England weigern sollte (was wahrscheinlich ist), der Schweiz gegenüber irgendwelche Verpflichtungen einzugehen, so darf sich Frankreich dabei nicht beirren lassen, sondern es muss seine eigene Linie einschlagen und England zwingen, auf diesem Weg mitzumachen. D[as]h[eisst jede Bedrohung Frankreichs von der Schweiz aus muss, im geeigneten Moment, mit dem Angebot eines Militärbündnisses Frankreichs an die Schweiz beantwortet werden. Denn jede Bedrohung der Schweiz durch die Achse Berlin-Rom bedroht auch direkt die westeuropäische und afrikanische Basis Frankreichs und England wird deshalb immer gezwungen sein, sich hinter Frankreich zu stellen, wenn Frankreich erklären würde, eine Eingliederung der Schweiz in die Achse müsse von Frankreich mit militärischen Mitteln abgewehrt werden. Gerade eine solche entschlossene Haltung Frankreichs wird, aller Wahrscheinlichkeit nach, zu keinem Krieg führen, denn eine solche entschlossene Haltung Frankreichs (obwohl sie von der Achse nicht für wahrscheinlich gehalten wird) ist ja das einzige Risiko, mit welchem die Achse auch heute noch bei ihren gegen die Schweiz gerichteten Plänen rechnet und deshalb beabsichtigt die Achse ja auch keinen direkten militärischen Angriff gegen die Schweiz, sondern eine Kombination aus Drohung, Bluff, Verwirrung, wirtschaftlicher Erschütterung, moralischer Zersetzung usw.
II. Die Gegenaktion der Schweiz
Es besteht heute kein Zweifel daran, dass das Schweizer Volk fest entschlossen ist, jeden militärischen Angriff der Achse Berlin-Rom mit Waffengewalt abzulehnen. Dabei besteht in der Masse des Volkes die Überzeugung, dass Frankreich der Schweiz dabei zu Hilfe kommen werde. Aber weder das Schweizer Volk noch seine Regierung, ist schon heute genügend darauf vorbereitet und eingerichtet, wie ein Angriff abgewehrt werden soll und kann, von der Art wie er von der Achse geplant ist.
Selbst wenn im Fall einer zweideutigen und unentschlossenen Haltung Frankreich s, das Schweizer Volk in seinen Sympathien für Westeuropa enttäuscht werden sollte, so kann man aber auch in diesem Fall damit rechnen, dass die Masse des Volkes und die militärisch denkenden bürgerlichen Kreise entschlossen sein werden die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit des Landes zu verteidigen. Aber bei den überwiegend kapitalistisch denkenden Bürgern wird eine wirtschaftliche Panikstimmung (wie sie von der Achse geplant ist) Unterwerfungsgefühle hervorrufen, in dem bekannten Sinn «das kleinere Übel zu wählen», und «zu retten, was noch zu retten ist».
Es steht nun zu befürchten, dass diese kapitalistischen Angst- und Sicherheitsgefühle bei einer «schlagartig» einsetzenden politischen und wirtschaftlichen Krisis leicht die Oberhand gewinnen können gegenüber einer alle Risiken eingehenden militärischen und politischen Abwehrbereitschaft, die z. B. im hohen Offizierskorps fast durchweg vorhanden ist.
In den letzten Wochen wurde in der Schweiz viel darüber diskutiert, ob die für den Kriegsfall vorgesehene oberste Armeeleitung schon in Friedenszeiten konstituiert und mit den dafür vorgesehenen militärischen Führern besetzt werden soll. Auf Grund der bisherigen Verfassung wird die oberste Armeeleitung erst im Mobilmachungsfall gewählt und besetzt werden. Die neuartige Strategie, wie sie speziell von der Achse praktiziert wird, verlangt aber - nach Ansicht fast aller höhern Schweizer Offiziere - eine Armeeleitung, die schon in Friedenszeiten permanent besetzt ist, damit von dieser Seite aus schon vor Kriegsbeginn alle Massnahmen getroffen werden können, wie sie gegenüber der «militärisch-revolutionären» Strategie der Achse besonders notwendig sind. Damit wäre zugleich auch ein politisches Willenszentrum vorhanden, das in die Politik eingreifen, bzw. die Führung der Politik in die Hand nehmen könnte, wenn, bei einer allgemeinen Panikstimmung, das Parlament und die von ihm abhängige Regierung versagen oder ratlos werden sollte.
Nun haben gerade das Parlament und die Regierung diese Vorschläge abgelehnt, wenn sie auch einige Verbesserungen gegenüber den bisherigen Zuständen eingeführt haben. Der Grund liegt darin, dass das Parlament Angst hat, das Offizierskorps könnte eine selbständige Politik treiben, eine Angst, die von rein kapitalistisch denkenden Bürgern, wie auch von der durch antimilitarische Parolen irregeführten sozialistischen Arbeiterschaft genährt wird.
Trotzdem kommt heute alles darauf an, möglichst vorsichtig und unauffällig, die Position des Offizierskorps zu verstärken, da dies die einzige solide Basis ist, von der aus die Schweiz ihren politischen Existenzkampf führen kann. Auch kann nur das Militär das Auseinanderfallen der Schweiz in verschiedene nationale Teile verhindern. Und die Deutschen rechnen sehr stark auf ein solches Auseinanderfallen. Die deutsche Propaganda ist bemüht, in der romanischen Schweiz die Vorstellung zu erwecken, dass dieser Teil der Schweiz, auf Grund des «Selbstbestimmungsrechtes», an Frankreich fallen würde, wenn sich die deutsche Schweiz an Deutschland angliedern müsse. Natürlich denken die Deutschen nicht im geringsten daran, solche Versprechungen zu verwirklichen. Sondern der Zweck dieser Propaganda ist der, in der deutschen Schweiz eine anti-französische Stimmung zu erwecken, mit dem Ziel, bei der Gefahr eines Auseinanderfallens der Schweiz, die romanische Schweiz, von der deutschen Schweiz her, erobern zu lassen und die Erweiterung eines solchen Eroberungsdranges nach Frankreich hin.
Alle solchen Tendenzen (kapitalistische Angst, Antimilitarismus der Sozialisten, Gefahr der Teilung der Schweiz, usw.) können nur dadurch überwunden werden, dass in der gegenwärtigen Zeit, die militärische Führung einen immer stärkeren Einfluss auf die Politik erhält. Dazu gehört aber auch die immer enger zu gestaltende wirtschaftliche Verflechtung (speziell in Hinsicht der Rüstungs- und Kriegswirtschaft) zwischen der Schweiz und Frankreich-England und eine solide Untermauerung des schweizer Kredit- und Bankwesens von Westeuropa her. Denn gerade auf die wirtschaftliche Verwirrung zielt ja der erste Stoss der Achse. Je schwieriger dies der Achse gemacht werden wird, desto besser wird die Schweizer Wirtschaft auch die geplante Panik aushalten können, und desto geringer wird auch die dabei zu erwartende politische Verwirrung sein.
Ferner ist zu beachten und zu unterstützen: die Oppositionsstimmung der katholischen und sonstigen mehr konservativ gesinnten Kantone gegen die defaitistischen Tendenzen der Berner Zentralregierung und gewisser Freimaurerzirkel. Im Schweizer Katholizismus herrscht heute, nach den üblen Erfahrungen mit Österreich, eine sehr starke antifaschistische antinationalsozialistische, und auch eine gegen die Politik des Vatikans gerichtete Stimmung, die im Ausland fast kaum beachtet wird, obwohl sich hier genügend Möglichkeiten bieten, auf den süddeutschen und österreichischen Katholizismus einzuwirken. Je mehr es nun gelingt, diese militärischen, konservativen und katholischen Kreise zu stärken desto eher wird gerade von hier aus die allgemeine Politik der Bundesregierung dirigiert werden können.
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- Rapport (Copie): E 27/9617. Ce rapport non signé se trouve dans les archives du Service de l’Etat-Major Général du Département militaire. Il n’est pas possible d’en préciser l’auteur et la date de rédaction. Selon une annotation au crayon, il daterait de mars 1939. On y trouve des allusions à la capitulation des républicains à Barcelone (annoncée le 26 janvier 1939), à la fin de la résistance en Catalogne (constatée le 9 février) et à l’occupation de la Tchécoslovaquie par Hitler (survenue le 16 mars).↩
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