Classement thématique série 1848–1945:
II. RELATIONS BILATÉRALES
1. Allemagne
1.7. Questions politiques générales
Abgedruckt in
Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 10, Dok. 59
volume linkBern 1982
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Archiv | Schweizerisches Bundesarchiv, Bern | |
▼ ▶ Signatur | CH-BAR#E2300#1000/716#116* | |
Alte Signatur | CH-BAR E 2300(-)1000/716 62 | |
Dossiertitel | Berlin, Politische Berichte und Briefe, Militärberichte, Band 32 (1931–1931) |
dodis.ch/45601
«Wenn Tausende von Volksgenossen auf die Strasse gelaufen wären, und wenn sie den französischen Gesandtschaften die Bude eingeschlagen hätten, so hätte der sogenannte Polenbesieger Curtius3 sich in Genf nicht mit so kläglichen Ergebnissen begnügen müssen.» Diese Worte stammen von dem bekannten nationalsozialistischen Parteiführer Dr. Goebbels, der vor einigen Tagen in einer öffentlichen Parteiversammlung in dieser Weise die aussenpolitischen Fragen erörterte.
Dr. Goebbels, der Chefredaktor des «Angriff», das Blatt, das vor kurzem auch den verdienten deutschen Gesandten4 in Bern anzugreifen sich bemüssigt fühlte, hat es verstanden, sich in kurzer Zeit zu den Spitzen der nationalsozialistischen Bewegung emporzuschwingen. In Berlin und in Norddeutschland überhaupt nimmt er in der Partei eine führende Stellung ein. Diesen Erfolg bei seinen doch sehr aufs Dekorative eingestellten Anhängern verdankt er nicht seiner äusseren Erscheinung. Von schmächtiger kleiner Statur, ist er mit einem Klumpfuss behaftet, der ihn einmal hindern wird, persönlich an dem von ihm herbeigewünschten Befreiungskriege teilzunehmen. Sein eigener Erfolg ist vielmehr auf seine propagandistischen Talente zurückzuführen. Mit einer angeborenen Rednergabe verbindet er eine raffinierte Redetechnik, so dass viele Anderseingestellte sich nicht die Sensation entgehen lassen, die nationalsozialistischen Versammlungen zu besuchen, an denen Dr. Goebbels gewissermassen die Star-Rolle spielt.
Die parteipolitischen Erfolge Goebbels’ und seiner Mitstreiter werden aber erst verständlich, wenn man das Auditorium ins Auge fasst, das solche Kraftstellen, wie die eingangs zitierte, mit tosendem Beifall begleitet und das naiv und überzeugt Zustimmung lächelt, wenn die Beseitigung des Friedensvertrages von Versailles als die selbstverständliche und nächstliegende Aufgabe der deutschen Aussenpolitik hingestellt wird. Es ist ein braves, kleinbürgerliches Publikum, das sogar Heiterkeit bekundet, wenn den sozialdemokratischen Führern ihre kleine Herkunft vorgehalten wird, und das einen kommunistischen Diskussionsredner durch Zwischenrufe korrigiert, der es unterlassen hatte, Herrn Goebbels mit dem Doktortitel zu beehren. Und doch sind diese jungen, sauberen und von patriotischem Feuer beseelten Leute, die den Kerntrupp der Bewegung bilden, nicht unsympathisch. Mögen auch viele Anhänger wegen der ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnisse die Reihen der Nationalsozialisten verstärken, * so ist es doch offenbar die nationale und vaterländische Idee, die den grossen Erfolg der Partei ermöglicht. Allerdings kommt dazu die unpolitische Einstellung weiter Volkskreise, die in echt deutscher Romantik die Verhältnisse nicht sehen will und kann, wie sie sind, sondern wie sie vor dem Kriege waren und wie sie herbeigewünscht werden. Um so tragischer muss man es empfinden, dass eine Bewegung, die nicht von einer materialistischen Auffassung getragen wird, zu einer nicht zu unterschätzenden Gefahr für den Staat zu werden droht.
Dieser Gefahr wird man sich heute nicht verschliessen dürfen. Allerdings hört man oft die Auffassung, dass mit der Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse auch die parteipolitische Konjunktur sich wieder ändern werde. Viele glauben auch, dass bei einem weiteren Ausbau des nationalsozialistischen Erfolges und bei einer Beteiligung an der Regierung die revolutionäre Tendenz der Bewegung wieder abebben werde. Mag auch die erste Auffassung eine gewisse Berechtigung haben, so kann man nur den Optimismus beneiden, der hoffen lässt, dass die Nationalsozialisten sich vor den Weimarer Staatswagen werden anspannen lassen. Die Gesandtschaft hat sich in einem ihrer Berichte5 über die programmatischen Erklärungen des Abgeordneten Feder6 im Reichstag dahin geäussert, dass eine gewisse Geneigtheit der nationalsozialistischen Parteileitung festzustellen sei, in einer antimarxistischen Koalition mitzuregieren; sie hat aber daraufhingewiesen, dass diese Bereitwilligkeit nur deshalb bestehe, um die Machtergreifung rascher und sicherer vorbereiten zu können. Die seitherige Entwicklung dürfte einen in dieser Ansicht bestärken. Die aufmunternde Rundfrage, die die «Deutsche Allgemeine Zeitung» über die Frage der Regierungsbeteiligung der Nationalsozialisten veranstaltete, führte zu einer höhnischen Absage aus dem nationalsozialistischen Lager. Einen ganz besonderen Korb holte sich der frühere Chef der Reichswehr, Generaloberst von Seeckt, der, der Volkspartei angehörend, sich mit allzu offenherziger Entschlossenheit für eine Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten ausgesprochen hatte. Aber auch die Stellungnahme des Zentrums der nationalsozialistischen Bewegung gegenüber gestattet gewisse Rückschlüsse auf die Beurteilung der nationalsozialistischen Ziele. Wie seinerzeit ausgeführt wurde, kann bei der gegenwärtigen Zusammensetzung des Reichstages eine nationalsozialistische Koalition nur mit der Unterstützung des Zentrums regieren. Wenn aber bereits nach den Wahlen vom 14. September7 das Zentrum wenig Neigung bekundete, seine ablehnende Haltung der nationalsozialistischen Partei gegenüber zu ändern, so hat sich seither die bereits bestehende Kluft noch erweitert. Die Rede, die Prälat Kaas, der Vorsitzende der Zentrumspartei, Mitte Januar in Kassel gehalten hatte, ist als deutliche Absage zu werten. Offenbar wäre eine Verständigung zwischen Zentrum und Nationalsozialisten an die Voraussetzung geknüpft, dass die gegenwärtige Koalition mit der Sozialdemokratie in Preussen aufgegeben wird und dass vorzeitig, d.h. vor 1932, neue Wahlen in Preussen stattfinden. Wenn nun das Zentrum, das nach den bisherigen Erfahrungen noch am wenigsten den Ausgang von Neuwahlen zu befürchten hat, es ablehnt, sich mit den Nationalsozialisten in das gleiche Boot zu setzen, so wird diese vorsichtige Haltung dadurch ohne weiteres verständlich, dass die Nationalsozialisten ja selbst die Absicht bekunden, auf offener See die Mitruderer ins Wasser zu werfen. Wenn Dr. Goebbels in seiner Rede, die er am letzten Freitag im Sportpalast gehalten hat, erklärte, die nationalsozialistische Partei werde loyal an die Macht kommen, aber was sie mit der Macht anfangen werde, das werde ihre Sache sein, so wird man kaum mehr daran zweifeln können, dass das erste Ziel nach Ergreifung der Macht die Beseitigung der Demokratie sein wird, von der Goebbels nie anders als von einer alten Tante spricht. Man möchte es fast als Professorenblindheit bezeichnen, wenn Herr Professor Hellpach8 in dem Artikel «Ethische Nothilfe», der in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 1. Februar erschienen ist, behaupten kann: «Nichts ist in Deutschland so wenig bedroht wie die Staatsform.»
Kann man sich somit nicht der Auffassung verschliessen, dass die nationalsozialistische Bewegung ernstlich auf eine Beseitigung der demokratischen Verfassungen in Deutschland hinzielt und auf der Grundlage der völkischen Diktatur das «Dritte Reich» zu errichten beabsichtigt, so muss man auch die Gefahren erkennen, die dadurch dem deutschen Staate drohen. Es ist kaum anzunehmen, dass die deutsche Arbeiterschaft sich ohne Gegenwehr diese Umwälzung gefallen lassen wird. Die Worte Hitlers «Köpfe werden rollen» könnten zur furchtbaren Wirklichkeit werden. Die Warnung des Zentrums, dass selbst die Reichseinheit in Frage gestellt wäre, ist nicht unbegründet und zeigt, dass auch diese Partei nicht die Absicht hat, das Schicksal der italienischen katholischen Volkspartei zu teilen. Der wirtschaftliche Zerfall müsste dem politischen zwangsläufig folgen, und der nationalsozialistische Traum vom deutschen Machtstaat, der die aussenpolitische Befreiung bringe, wäre bald ausgeträumt.
Bei dieser Beurteilung der Sachlage kann man nur hoffen, dass es gelingt, rechtzeitig die nationalsozialistische Bewegung abzustoppen und zu verhindern, dass diese Partei an die Macht gelangt. Die Aussichten der Abwehr würden dann günstiger, wenn durch die Zeitumstände die wirtschaftliche Konjunktur sich bessern würde. Vor allem wird es aber darauf ankommen, ob diejenigen Parteien, die den jetzigen Staat verteidigen, namentlich das Zentrum, die Sozialdemokratie, die Staatspartei und in einem gewissen Abstand auch die Volkspartei die nötige Kraft und den erforderlichen Willen aufbringen, diesen Kampf durchzuführen. Im Gegensatz zu den Nationalsozialisten verfügen die Staatspartei und die Volkspartei nicht über eine Organisation, die es ermöglicht, direkt auf die grosse Masse des Volkes einzuwirken. Die katastrophalen Verluste dieser Parteien bei den letzten Wahlen müssen auf diesen Mangel zurückgeführt werden. Anders liegen die organisatorischen Verhältnisse beim Zentrum und auch bei der Sozialdemokratie, welch letztere aber mit der kommunistischen Konkurrenz zu kämpfen hat. Mit Beruhigung wird man feststellen, dass beim Zentrum und bei der Sozialdemokratie in letzter Zeit eine verstärkte agitatorische Tätigkeit zur Bekämpfung des Nationalsozialismus eingesetzt hat.
Auch das parlamentarische Schicksal des Kabinetts Brüning wird für die innenpolitische Entscheidung von grosser Bedeutung sein. Den Nationalsozialisten käme eine Auflösung des Reichstages gelegen, denn sie versprechen sich von Neuwahlen eine Verstärkung der Fraktion von 107 auf mindestens 200 Abgeordnete. Die Gefahr droht dem Kabinett nach den Genf er Erfolgen9 mehr von den inneren Fragen, insbesondere von der Behandlung des Etats. Die Leitung der Volkspartei hat in den Ausschussberatungen eine Einsparung von mindestens 300 Millionen10 verlangt. Die Tatsache, dass nicht näher präzisiert wurde, welche Einsparungen gemacht werden sollen, hat zu der Auffassung Anlass gegeben, dass nicht sachliche Gründe für diese Forderung beständen, sondern dass es die Partei vielmehr darauf abgesehen habe, der Regierung selbst Schwierigkeiten zu machen. Obwohl in den Kreisen der Volkspartei Strömungen bestehen, die nach dem nationalsozialistischen Kurs hinzielen, so wird man doch kaum annehmen dürfen, dass tatsächlich dieses Begehren in diesem Sinne auszulegen ist. Es spricht für letztere Beurteilung, wenn der Leiter der Volkspartei11 in Abrede gestellt hat, dass es sich um ultimative Forderungen handle.
Nicht ohne Einfluss auf die innenpolitische Entwicklung wird auch die Aussenpolitik sein, und zwar sowohl diejenige, die von seiten der deutschen Regierung eingeschlagen wird, als jene, welche seitens der Mächte Deutschland gegenüber Anwendung findet. In erster Hinsicht muss man es begrüssen, dass sich die Regierung nicht dazu hat drängen lassen, im gegenwärtigen Zeitpunkt weitgehende Revisionsforderungen anzumelden, deren Behandlung doch unter den heutigen Verhältnissen zu Enttäuschungen führen müsste und infolgedessen parteipolitisch gegen die Regierung ausgewertet würde. Die Genf er Erfolge in der Minderheitenfrage, die zu einer Festigung der Stellung des Aussenministers12 und damit des heute einzig möglichen Kabinetts Brüning führten, haben gezeigt, dass auch weniger sensationelle Ergebnisse eine gewisse innenpolitische Beruhigung herbeiführen können. Von grosser Wichtigkeit ist es aber, dass die anderen Mächte solche Erfolge dem gegenwärtigen deutschen Kabinett ermöglichen und nicht dazu übergehen, wofür aber keine Anhaltspunkte bestehen dürften, durch eine rein negative Politik die Krisis herbeizuführen. Wenn es dem Kabinett Brüning gelingen sollte, auch weiterhin die dringenden aussenpolitischen Interessen mit Erfolg zu wahren und insbesondere durch eine Erleichterung in der Reparationsfrage eine finanzielle Krisis zu vermeiden, so wird auch das deutsche Volk einsehen, dass die Methode Goebbels, der wie eingangs erwähnt, völkerrechtliche Delikte als politisches Druckmittel empfiehlt, nicht zu Deutschlands Vorteil ausschlagen kann.
- 2
- E 2300 Berlin, Archiv-Nr. 32.↩
- 3
- Ministre allemand des Affaires étrangères.↩
- 5
- Non reproduit.↩
- 6
- Député nazi au Reichstag.↩
- 7
- Cf. no 36.↩
- 8
- W. Hellpach.↩
- 9
- Notamment dans la question des minorités. Cf. Rapport du Conseil fédéral sur la XP Assemblée générale de la SdN (FF, 1931,1, pp. 182ss.).↩
- 10
- de RM.↩
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