Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
III. BILATERALE BEZIEHUNGEN
12. Italien
12.1. Allgemeine Beziehungen
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 9, doc. 490
volume linkBern 1980
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E1004.1#1000/9#12463* | |
Dossier title | Beschlussprotokoll(-e) 06.07.-10.07.1929 (1929–1929) |
dodis.ch/45507
Protokoll der Sitzung des Bundesrates vom 10. Juli 19291
1243. Rede des italienischen Gesandten
Bekanntlich hielt der italienische Gesandte in Bern, Herr Graf Pignatti, vor einigen Tagen anlässlich einer Versammlung des Rates der italienischen Handelskammern in der Schweiz eine Rede über die jüngsten Zwischenfälle zwischen Fascisten und Antifascisten in einzelnen Kantonen, die im Mailänder «Corriere della Sera» veröffentlicht wurde und in unserem Lande berechtigtes Aufsehen erregte. Herr Pignatti behauptete u.a. die Beziehungen zwischen der Schweiz und Italien seien gegenwärtig getrübt; es werde auf die Fascisten Jagd gemacht und diese Jagd werde noch durch die Drohung der Boykottierung der fascistischen Kleinhändler und Kaufleute verschlimmert; die antifascistische Bewegung sei in gewissen Kantonen von den Behörden unterstützt worden; einige Politiker, die in den kantonalen Regierungen bedeutende Ämter versehen, würden leider bei jeder Gelegenheit ihre antifascistische Gesinnung an den Tag legen und unter jedem Vorwand ihre Gefühle zeigen; wenn auch die Schweiz natürlich für ihre Mitbürger das Recht Vorbehalten müsse, ihre Meinung in voller Freiheit zum Ausdruck bringen zu können, so sei immerhin zu bemerken, dass die Freiheit der Einzelpersonen wie diejenigen ganzer Völker Grenzen hat und dass diese Grenzen durch die Rechte anderer Personen und anderer Völker bestimmt werden, Rechte, die weder verletzt noch angegriffen werden dürfen; nun seien im Kanton Tessin und in einigen anderen Schweiz. Kantonen die Beleidigungen dieses Grundgesetzes und die Einmischung in die innern Angelegenheiten Italiens klar erwiesen.
Der Bundesrat hatte in seiner vorletzten Sitzung sein Missfallen über diese Rede bekundet und den Vorsteher des Politischen Departements beauftragt, Herrn Pignatti zu sich kommen zu lassen, um ihn auf das Ungebührliche seines Vorgehens aufmerksam zu machen und ihm das Befremden des Bundesrates auszudrücken.
Herr Pignatti war nun vorgestern beim Vorsteher des Politischen Departements. Die Aussprache dauerte beinahe anderthalb Stunden. Herr Motta gab dem Gesandten in unmissverständlicher Weise zu verstehen, dass sein Vorgehen einen sehr peinlichen Eindruck gemacht habe und eine Unfreundlichkeit der Schweiz gegenüber bedeute. Pignatti anerkannte, dass er entgegen den bisherigen diplomatischen Gepflogenheiten gehandelt habe, er sei aber durch verschiedene Umstände gezwungen gewesen, einmal in dieser Weise aufzutreten; seine Ausführungen und Vorhalte gründeten sich auf eine Reihe bestimmter Vorkommnisse, die leider nicht bestritten werden können. Am Schlüsse der Unterredung versicherte der Gesandte Herrn Motta, er sei stets ein aufrichtiger und warmer Freund der Schweiz gewesen und werde es auch in Zukunft bleiben, und er bedaure lebhaft, dass seine Rede, entgegen seinen Absichten, dem Bundesrate Verdruss bereitet habe.
Der Vorsteher des Politischen Departements ist der Ansicht, dass die Angelegenheit für einmal als erledigt zu betrachten wäre. Allerdings sei es nicht ausgeschlossen, dass im Parlament eine Interpellation eingereicht werden wird. Die Antwort hierauf könne aber erst später festgesetzt werden.
Immerhin beabsichtigt der Vorsteher des Politischen Departements, Herrn Wagnière zu beauftragen, vor seiner Abreise in die Ferien eine Audienz bei Ministerpräsident Mussolini nachzusuchen, um ihm namens des Bundesrates folgende Erklärungen abzugeben: die Behauptung, dass die Schweizerischen Behörden gegenüber den fascistischen Italienern das Postgeheimnis verletzen, ist unwahr; es sind verschiedene gerichtliche und administrative Untersuchungen gegen die Urheber von Zwischenfällen aus der letzten Zeit im Gange; die tessinischen Behörden haben die vom Bundesrate verlangten Zusicherungen gegeben, übrigens sind die gemeldeten Fälle von Gewalttätigkeit in Tat und Wahrheit ganz geringfügiger Natur, und einzelne davon wurden in der italienischen Presse stark übertrieben; wenn der Bundesrat einerseits die Sprache gewisser linksstehender schweizerischer Zeitungen bedauert, so bedauert er anderseits ebenfalls sehr die Sprache, die beinahe die gesamte Presse Italiens in letzter Zeit gegenüber unserem Land geführt hat, und die geeignet ist, bei uns ein Gefühl des Missbehagens zu verbreiten.
Der Rat nimmt von diesen Ausführungen in zustimmendem Sinne Kenntnis.