dodis.ch/45060 BUNDESRAT Protokoll der Sitzung vom 8. Mai 19251 Österreich. Wirtschaftslage
Mündlich
Mit einer in jüngster Zeit an den Völkerbund gerichteten Note stellt Österreich das Gesuch, es sei seine wirtschaftliche Lage durch eine vom Völkerbund aus einer möglichst knappen Zahl wissenschaftlicher Fachleute zu bestellende Kommission zu untersuchen2. Österreich sucht in der Note darzutun, dass unter den gegenwärtigen Verhältnissen seine wirtschaftliche Gesundung und Entwicklung unmöglich sei, da ihm und namentlich seiner Industrie seit der Abtrennung von den übrigen früher mit ihm verbundenen Gebieten durch Aufrichtung von Zollschranken die nötigen Absatzgebiete fehlen. Nach einer Äusserung des Herrn Dr. Schüller, Sektionschef im österreichischen Bundeskanzleramt, beabsichtige Österreich auch alle seine Nachbarn auf die Unhaltbarkeit seiner Wirtschaftslage aufmerksam zu machen und ihnen den Abschluss einer Zollunion anzubieten. Zuverlässige Berichte bestätigen übrigens den schlechten Stand der österreichischen Volkswirtschaft3. Die Angelegenheit ist für die Schweiz von grosser Bedeutung, weil Österreich für sie, namentlich nach der starken Entwicklung der italienischen Industrie in der letzten Zeit, ein wichtiges Absatzgebiet für Industrieerzeugnisse bildet. Österreichs Bestreben geht auf die Rückkehr zum Freihandel. Das bringt für die Schweiz erhebliche Schwierigkeiten mit sich, da deren Zollpolitik durchaus auf dem Grundsatz der Meistbegünstigung beruht. Demzufolge würden Begünstigungen, die die Schweiz Österreich einräumt, sich sofort auch in ihren Handelsbeziehungen zu Deutschland, Frankreich, Italien usw. auswirken, was die Schweiz nicht zu ertragen vermöchte. Die Schweiz ist daher kaum in der Lage, Österreich eine Sonderstellung einzuräumen, was sie doch voraussichtlich tun müsste, wenn allenfalls den Nachbaren Österreichs vom Völkerbund empfohlen werden wollte, Österreich gewisse Erleichterungen zu gewähren, um seine wirtschaftliche Existenz zu ermöglichen4. Wie sehr die Sorge um sein Wirtschaftsleben Österreich bedrückt, geht auch aus den in letzter Zeit von massgebenden Persönlichkeiten Österreichs und Deutschlands gemachten Äusserungen über einen Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich hervor, dessen Verwirklichung für die Schweiz keineswegs erwünscht sein könnte. Alle diese Erwägungen lassen es geboten erscheinen, sich rechtzeitig darüber zu vergewissern, welche Folge der Völkerbund, der eingangs erwähnten Note Österreichs zu geben gedenkt. Wenn der Völkerbund eine Untersuchungskommission einsetzen will, so sollte sie doch nicht ausschliesslich aus Vertretern der Wissenschaft gebildet, es sollten darein auch praktisch erfahrene Volkswirtschaftler berufen werden.
Der Vorsteher des Volkswirtschaftsdepartements5 würde auf Grund der vorstehenden Erwägungen, sofern der Rat damit einverstanden ist, seine Anwesenheit in Genf anlässlich des Zusammentritts der internationalen Arbeitskonferenz dazu benützen, um in der vorliegenden Angelegenheit beim Generalsekretariat des Völkerbunds Erkundigungen über die Absichten des Völkerbunds einzuziehen.
Der Rat stimmt diesem Vorgehen zu.