Language: German
23.5.1922 (Tuesday)
CONSEIL FÉDÉRAL Procès-verbal de la séance du 23.5.1922
Secret minutes of the Federal Council (PVCF-S)
Motta complète les renseignements qu’il a donnés dans ses différents rapports sur les travaux de la Conférence de Gênes. Concertation avec les neutres. Abandon de la neutralité belge. Position de la Petite Entente. Pacte de non-agression.
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Printed in

Antoine Fleury, Gabriel Imboden (ed.)

Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 8, doc. 197

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Bern 1988

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dodis.ch/44839
CONSEIL FÉDÉRAL
Procès-verbal de la séance du 23 mai 19221

Konferenz von Genua

Mündlich

Der Vorsteher des politischen Departements ergänzt die von der Abordnung über ihre Tätigkeit an der Konferenz von Genua erstatteten Berichte2 durch folgende Ausführungen:

Was zunächst die Frage anbelangt, ob es gut war, an die Konferenz in Genua Mitglieder des Bundesrates zu entsenden, so ist sie entschieden zu bejahen. Mögen die Ergebnisse der Konferenz auch nicht allen Erwartungen entsprochen haben, die zu Recht oder zu Unrecht an sie geknüpft worden sind, so kann doch nicht bestritten werden, dass diese erste Konferenz, bei der Sieger und Besiegte, Kriegführende und Neutrale, sich gemeinsam an denselben Verhandlungstisch setzten, ein politisches Ereignis allerersten Ranges war, das die Annäherung der Völker untereinander ganz zweifellos gefördert und trotz mancher Zwischenfälle zu Ergebnissen geführt hat, die der Entwirrung der Lage Europas dienlich sein werden. Die Vereinbarung über das Unterlassen von Angriffen, die in Genua zustande kam, gewährt dem Osten Europas eine Atempause, deren er dringend bedarf, und wenn das russische Rätsel auch nicht gelöst wurde, so ist doch ein Weg beschritten worden, der zu seiner Lösung führen kann. Die weltpolitische Bedeutung der Konferenz rechtfertigte also unstreitig die Entsendung von Mitgliedern des Bundesrates als Vertreter der Schweiz und zwar umsomehr, als es der Schweiz inmitten all der Abordnungen, an deren Spitze Männer aus den Regierungen der übrigen Staaten standen, ohne eine solche Vertretung nicht möglich gewesen wäre, diejenige Stellung einzunehmen, die ihr an der Konferenz eingeräumt worden ist und die aufs Neue die hohe Achtung und das grosse Ansehen bezeugt, das die Schweiz in der Welt geniesst.

Unsere Abordnung, die innerlich stets einig war und der ihre Sachverständigen und ändern Mitarbeiter treffliche Dienste geleistet haben, wurde überall aufs Beste aufgenommen und hat mit den ändern Delegationen sehr gute Beziehungen unterhalten. Das gilt auch von den Beziehungen zu den übrigen Neutralen. Von diesen ist Spanien am wenigsten hervorgetreten. Der Minister van Karnebeek war mit am eifrigsten dabei, wenn es wünschbar schien, Besprechungen der Neutralen unter sich zu veranstalten, was mit seiner Haltung vor dem Zusammentritt der Konferenz bekanntlich nicht ganz übereinstimmt3, zum Teil aber sich daraus erklären mag, dass Holland in der politischen Unterkommission nicht vertreten war. Als Beweis für das Ansehen der Schweiz sei hervorgehoben, dass ihr an erster Stelle nach den einladenden Grossmächten, nach Deutschland und Russland in der Unterkommission der politischen Kommission eine Vertretung eingeräumt wurde. Erst nach ihr bekamen Polen, Rumänien und Schweden eine solche Vertretung.

Belgien und Frankreich. Der Sprechende hat in Genua den Eindruck gewonnen, Belgien verfolge zur Zeit keine gute Politik, indem es, ein doch kleiner Staat, Grossstaatenpolitik zu treiben suche. Seine enge Anlehnung an Frankreich erweckt auch dann den Anschein, es liege ganz am Schlepptau dieser Grossmacht, wenn es von sich aus eine Stellung bezieht (Frage des Privateigentums in Russland) und wenn ihm selbst dabei dieser Anschein des Bemuttertwerdens durch Frankreich wenig angenehm sein mag.

Aufgabe der belgischen Neutralität. Hierüber hat sich ein Mitglied der belgischen Delegation in einem Privatgespräch dahin geäussert, es handle sich im Grunde genommen, um ein Spiel mit Worten, wenn man von der Aufgabe der belgischen Neutralität spreche; denn Belgien schliesse einerseits eine Allianz mit Frankreich, anderseits eine Allianz mit England und werde durch dieses Anlehnen an zwei Grossmächte, zwischen denen noch starke innere Gegensätze bestehen, zu einer Gleichgewichtslage in der internationalen politischen Einstellung gelangen, die als Ersatz für die Neutralität betrachtet werden könne (!)

Stellung der Kleinen Entente. Im Ganzen schien die Kleine Entente in Genua nicht sehr gut angeschrieben zu sein und das Ansehen des Herrn Benes war offensichtlich im Sinken begriffen. Scharf trat bei verschiedenen Gelegenheiten der Gegensatz zwischen Jugoslavien und Italien zu Tage und, wenn gleichwohl in allerletzter Zeit eine Einigung dieser Staaten über die Ausführung des Vertrages von Rapallo, einschliesslich der Fragen von Fiume und Baros, zu Stande gekommen ist, die auch das Gute hat, dem Bundespräsidenten das ihm zugedachte Schiedsrichteramt in der Barosfrage zu ersparen, so ist dies zweifellos dem Einfluss Lloyd Georges zuzuschreiben.

Italien und England. Sehr auffallend war die enge, bisweilen vielleicht sogar allzu enge Anlehnung Italiens an England.

Die Russische Frage. Der Sprechende erläutert diese Angelegenheit unter Beifügung von Einzelheiten über den Gang der Verhandlungen im gleichen Sinn, wie es Herr BR. Schulthess früher (vgl. Prot, vom 10. Mai 1922)4 getan hat. Seither hat sich die Lage insofern geändert, als die Antwort der Russen auf das an sie gerichtete Memorandum bekannt geworden ist. Hervorzuheben ist, dass dieses Memorandum nicht etwa die Unterschriften der Delegationen trug, es war eine nicht Unterzeichnete Zusammenfassung derjenigen Punkte, über die sich die politische Subkommission geeinigt hatte, wobei Belgien die Zustimmung zu der Ausführung über die Rückerstattung der Güter in Russland, die früher Ausländern gehörten, verweigerte und Frankreich sich in derselben Angelegenheit seine Stellungnahme vorbehielt. Hätten die Russen das Memorandum angenommen, so wäre zweifellos eine Einigung über den streitigen Punkt auch mit Belgien und Frankreich zustande gekommen. Die Russen haben nun aber das Memorandum im Grossen und Ganzen abgelehnt, gleichzeitig aber einen Vorschlag gemacht, der die Weiterführung der Verhandlungen über die russische Frage ermöglichen sollte. Allgemein war man an der Konferenz darüber einig, dass es von grosser Bedeutung wäre, wenn man mit Russland zu einer vernünftigen Einigung käme. Daher denn auch die Bestrebungen, die schliesslich zu dem Beschlüsse führten, zum weitern Studium der russischen Frage eine Konferenz nach dem Haag einzuberufen. Sie wird aus einer Sachverständigenvereinigung der übrigen Staaten und einem Sachverständigenrat der Russen bestehen. Jene würde sich zunächst allein über bestimmte Lösungen verständigen und hierauf erst mit den Russen hierüber verhandeln. Es ist ausserordentlich zu begrüssen, dass durch diese Massnahme der völlige Bruch mit den Russen verhütet und die weitere Prüfung der wichtigen, Russland betreffenden Fragen gesichert werden konnte.

Vereinbarung üb er Unterlassen von Angriffen (Pacte de non-agression). Diese Vereinbarung, die für die Zeit der Verhandlungen mit Russland, und vier Monate darüber hinaus die Staaten verpflichtet, Angriffe auf Russland, und Russland verpflichtet, Angriffe auf andere Staaten zu unterlassen, ist namentlich für Rumänien und Polen von grosser Wichtigkeit, die sich immer von Russland bedroht fühlen. Auf Grund eines Schrittes, den der Sprechende beim Kanzler des Deutschen Reichs, Dr. Wirth, unternahm, um festzustellen, dass die Teilnahme der Schweiz an diesem Pakt von Deutschland, das durch den Abschluss seines Sondervertrages mit Russland vom Pakt ausgeschlossen ist, nicht als unvereinbar mit unserer Neutralität angesehen werden könne, hat der Reichskanzler dies anerkannt und beigefügt, er sehe es gerne, wenn nicht nur die Schweiz, sondern alle neutralen Staaten der Vereinbarung beitreten, was ja in der Folge auch geschah.

(Die nun folgenden Ausführungen, im wesentlichen Schilderungen der Art und des Wesens einiger hervorragender Vertreter anderer Staaten an der Konferenz von Genua, werden im Einverständnis mit dem Sprechenden nicht im Protokoll festgehalten.)

Der Sprechende gibt endlich noch seiner Genugtuung Ausdruck über die Tätigkeit und Dienstfertigkeit des Schweiz. Konsuls Biaggi in Genua und über den Stand, die Betätigung und Gesinnung der Schweizerkolonien in Genua und Mailand.

Der Rat nimmt von diesen Mitteilungen in zustimmendem Sinne Kenntnis.

1
E 1005 2/2. Etaient absents: R. Haab, J.M. Musy.
2
Cf. no 181, note 2 et n‘" 183, 184, 188, 190, 193, 196.
3
Cf. no 170, 171.
4
Non reproduit, cf. E 1004 1/283, n“ 1296.