In Ihrem Schreiben B. 1.21.6. vom 18. November2 ersuchen Sie uns um Instruktionen über Ihr Verhalten bei einer allfälligen Anfrage von österreichischer oder deutscher Seite über die Stellungnahme der schweizerischen Regierung zu der Frage eines eventuellen Anschlusses Österreichs an das deutsche Reich.
Wie es Ihnen bekannt sein dürfte, ist von massgebender Stelle aus stets unzweideutig erklärt worden, dass ein Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich den schweizerischen Interessen nicht entspreche.
Ein deutsches Österreich oder schon allein ein deutsches Vorarlberg würde die Schweiz in einer für ihre politische und wirtschaftliche Existenz höchst bedrohlichen Weise an der Ostgrenze umklammern und sie vom freien Verkehr über den Arlberg nach Osteuropa und dem Balkan abschneiden und uns in dieser Richtung von unserem mächtigsten Konkurrenten abhängig machen. Schon Herr Bundesrat Calonder hat am 22. November 1919 im Ständerat darauf hingewiesen, dass die Schweiz mit allen Mitteln trachten müsse, diese Umklammerung zu verhindern, da vitale Interessen für uns in Frage stünden. Der Unterzeichnete hat ebenfalls keine Gelegenheit Vorbeigehen lassen, um diesen Standpunkt mit aller Entschiedenheit zu vertreten.
Was die von Ihnen berührte Vorarlberger-Frage anbetrifft, wünscht der Bundesrat auch heute aufrichtig, dass Österreich, wie es aus dem Friedensvertrag hervorgegangen ist, lebe und sich entwickle. Unsere Politik wird sich auch in Zukunft an diese Linie halten. Sollte Österreich, wider Erwarten und gegen den Wunsch und das Interesse der Schweiz, sich auflösen, dann müsste die Schweiz das freie Entschliessungsrecht für Vorarlberg verlangen. Das war und ist der Standpunkt des Bundesrates, und die schweizerische Delegation hat ihn auch anlässlich der ersten Völkerbundsversammlung in Genf vertreten. Der Bundesrat wird auch fernerhin diese Politik der Reserve und der Sympathie, in Übereinstimmung mit der grossen Mehrheit des Schweizervolkes, aufrechterhalten.
Wir verfolgen die Vorgänge an der Ostgrenze unseres Landes mit der grössten Aufmerksamkeit, aber auch mit der Zurückhaltung, die durch die Umstände geboten erscheint, und wir ersuchen Sie und Ihre Mitarbeiter, sich in Ihren allfälligen Äusserungen zu den aufgeworfenen Fragen an diese Richtlinien zu halten.