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Documents Diplomatiques Suisses, vol. 8, doc. 76
volume linkBern 1988
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Archives | Archives fédérales suisses, Berne | |
▼ ▶ Cote d'archives | CH-BAR#E2001B#1000/1502#1446* | |
Ancienne cote | CH-BAR E 2001(B)1000/1502 58 | |
Titre du dossier | Politische Berichte Deutschland (1921–1921) | |
Référence archives | D.1 • Composant complémentaire: Deutschland |
dodis.ch/44718
Auf Grund von Besprechungen, die ich gestern mit Staatssekretär Boyé, Frassati und einem deutschen Journalisten hatte, telegraphierte ich Ihnen soeben2, dass man hier noch ohne jede Rückäusserung von amerikanischer Seite sei, aber die Lage mit wenig Optimismus beurteile und eine Entscheidung erst nach der Londoner Besprechung erwarte. Ich möchte diese telegraphische Meldung durch Nachstehendes ergänzen und erläutern.
Boyé bestätigte mir in der Tat, dass die deutsche Regierung bisher weder direkt noch indirekt zuverlässige Nachrichten erhalten habe über die Aufnahme ihrer Vorschläge in Washington. Nicht einmal eine Rückfrage sei erfolgt, woraus geschlossen werde, dass zunächst zwischen Washington und den Alliierten verhandelt werde, um festzustellen, ob die deutschen Vorschläge überhaupt als Verhandlungsgrundlage betrachtet werden wollen. Boyé nimmt an, dass darüber nicht in Washington, sondern in London entschieden werde, da nicht zu erwarten sei, dass Harding irgendwelchen Druck ausüben werde. Man glaubt zu wissen, dass Lloyd George den Wunsch hege zu neuen Verhandlungen zu kommen und dass er die deutsche Note als eine geeignete Grundlage für eine weitere Aussprache betrachte. Letztere Annahme bestätigte mir auch Frassati, der mir wörtlich sagte: Sie wissen, dass Lloyd George günstig ist. Er fügte bei: Natürlich wünschen auch wir eine Verständigung. Sowohl Boyé als Frassati sind aber der Ansicht, dass man absolut nicht darauf rechnen könne, dass Lloyd George an seiner Auffassung festhalten werde, wenn er sich der entschlossenen Opposition der Franzosen gegenüber sieht. Dieser Wandel in der Stellungnahme des englischen Premier hat sich unter dem Pariser Druck rascher vollzogen als hier vorausgesehen wurde, indem die heutige Reutermeldung bestätigt, dass Lloyd George im Unterhaus die deutschen Vorschläge als «in keiner Weise befriedigend» bezeichnet hat.
Alle drei Personen, von denen ich Ihnen oben sprach, sind übereinstimmend der Ansicht, dass zwar der Entscheid Hardings von der endgültigen Haltung Englands abhängen werde, dass aber nicht auf eine energische Opposition der Engländer gegenüber einer bestimmten Willensäusserung der Franzosen zu rechnen sei. Und wie der Wille der Franzosen gerichtet ist, kann kaum mehr zweifelhaft sein nach den letzten offiziösen Kundgebungen aus Paris.
Die Aussichten des deutschen Schrittes in Washington werden also hier allgemein als wenig gute betrachtet.
Boyé machte mir interessante Mitteilungen über die Entstehungsgeschichte und die Bedeutung des deutschen Vorschlages.
Nachdem alle Versuche gescheitert waren, eine dritte Macht für die Übernahme der Vermittlerrolle zu gewinnen, blieben der deutschen Regierung nur drei Möglichkeiten: Entweder sie konnte die Hände in den Schoss legen und den Dingen ihren Lauf lassen oder sie konnte sich direkt an Paris bezw. den obersten Rat wenden oder endlich, sie konnte die Vermittlung des einzigen wirklich potenten Staates, der Vereinigten Staaten, anrufen. Erstere Möglichkeit wurde von vorneherein ausgeschaltet, weil keine Regierung eine solche Verantwortung hätte auf sich nehmen können und weil der Eindruck in Deutschland sich verdichtet hatte, dass das Ausland einen neuen deutschen Vorschlag erwarte. Der direkte Weg nach Paris oder London schien formell unmöglich und hätte keinerlei Erfolg versprochen, nachdem nur zu deutlich geworden war, dass den Franzosen neue Verhandlungen gar nicht erwünscht seien.3 So blieb nur der Weg über Harding, von dem man wusste, dass er die Macht habe, den Widerstand Frankreichs zu brechen, sofern er auch den Willen dazu hätte. Ermutigt wurde die deutsche Regierung zu diesem Schritte auch durch veschiedene offiziöse Mitteilungen, die erkennen liessen, dass Harding den Wunsch habe, eine Verständigung anzubahnen. So entschloss sich denn die Regierung zu der Note nach Washington und zwar hat sie auch diesen Schritt ohne jeden Optimismus getan, in der sicheren Voraussicht, dass von französischer Seite alles getan werde, um einen Erfolg unmöglich zu machen. Wenn trotz dieser Skepsis der Schritt getan worden ist, so geschah es mit Rücksicht auf das deutsche Volk und auf das Urteil der Geschichte:
Die deutsche Regierung wollte vor dem deutschen Volke und vor aller Welt bekunden, dass sie gewillt sei zu tun, was in ihrer Macht liegt, um die Katastrophe abzuwenden.
Wenn man die Form und den Inhalt der deutschen Vorschläge richtig erkennen will, muss man – immer nach Boyé – zwischen den Zeilen der Note lesen und sich vor Augen halten, dass die deutsche Regierung sich der eigenen Schwäche nur zu gut bewusst war und deshalb eine Form wählen musste, welche zum Ziele führen konnte, ohne der Regierung vor dem deutschen Parlament und der deutschen öffentlichen Meinung von vorneherein den Hals zu brechen. Deshalb wurde die unbestimmte elastische Form gewählt und deshalb wurde namentlich überall der Vorbehalt weiterer Verhandlungen und späterer Entschliessungen gemacht. Die deutsche Regierung war sich durchaus klar darüber, dass das Ergebnis jener späteren Entschliessungen ausschliesslich von dem Willen der Gegner abhängen werde, und sie hat sich bewusst diesem Willen unterworfen, um zu einer Verständigung zu gelangen.
Dass dieser Standpunkt nicht noch ausdrücklicher betont werden konnte, erklärt sich aus der oben besprochenen Rücksicht auf die deutsche öffentliche Meinung. Der deutschen Regierung musste es vor allem darauf ankommen, dem Vorschlag eine Form zu geben, welche es zunächst Harding schwer machte, von vorneherein abzulehnen und welche den Gegnern weitgehende Conzessionen bot, ohne in Deutschland den Eindruck der förmlichen Unterwerfung unter das Pariser Diktat zu machen. Man mag, so meinte Boyé, verschiedener Meinung darüber sein, ob die deutschen Vorschläge allen diesen Überlegungen und Schwierigkeiten gerecht werden, aber man kann darüber nicht geteilter Ansicht sein, dass die Schwierigkeiten nach jeder Richtung ausserordentlich grosse waren und dass die deutsche Regierung den ehrlichen Willen bekundet hat, entgegenzukommen soweit dies irgend möglich erscheint.
Auf meine Frage, was werden solle, wenn Harding ablehne, antwortete mir Boyé, dass er eine Antwort nur in seinem persönlichen Namen erteilen könne, da er nicht wisse, wie der Minister und wie das Kabinett darübe denke. Persönlich halte er dafür, dass es im Falle einer glatten Ablehnung nur mehr einen möglichen Weg für Deutschland gebe, nämlich denjenigen der passiven Resistenz auf der ganzen Linie, die in erster Linie zur Rückberufung der Vertreter Deutschlands in den Ententestaaten und zu dem Abbruch der amtlichen Beziehungen zu den hiesigen Vertretern der Alliierten führen müsse. Nur auf diesem Wege werde es möglich sein, in Deutschland die Welle des Widerstandes gegen die Vergewaltigung in Bewegung zu setzen. Der Staatssekretär versicherte mich wiederholt, dass er sich vollkommen Rechenschaft gebe über die ausserordentlichen Gefahren eines sochen Vorgehens, das zu einer Zertrümmerung des deutschen Reiches in seinem gegenwärtigen Bestände führen könne, aber er halte diesen Weg dennoch für den einzigen, den das deutsche Volk noch gehen könne, und er ist auch überzeugt, dass nur durch ein derart entschlossenes Handeln des ganzen Volkes die Feinde zur Erkenntnis gebracht werden können, dass sie auf den bisherigen Wegen und mit den bisherigen Methoden weder zu ihrem Gelde noch zum Frieden in Europa kommen können. Nach Boyé muss Deutschland nun einmal den Leidenskelch bis zur Neige lehren, um den Beweis zu leisten, dass es Anspruch hat auf Anerkennung seiner nationalen Existenz und um zu zeigen, dass es gelingen wird für diese Resistenz auch den Grossteil der Arbeiterschaft mobil zu machen. Als ich meine Zweifel darüber äusserte, ob das deutsche Volk heute noch die sittliche und körperliche Kraft für einen solchen Kampf mit all seinen schauderhaften Entbehrungen aufbringen werde, meinte der Staatssekretär: «Ich hoffe darauf und glaube daran und wenn ich mich täusche, dann ist für mich der Beweis geleistet, dass Deutschland keine Existenzberechtigung mehr hat als Nation, dann mögen sich eben die Geschicke vollziehen, die wir verdienen.»
Ich berichte Ihnen über diese Unterredung, weil in den Äusserungen des Herrn Boyé eine vmfverbreitete Meinung zum Ausdruck gelangt und weil es immerhin Worte sind, die von einem sehr besonnenen Mann in höchster Stellung herrühren. Sie wissen aus meinen früheren Berichten, dass Boyé immer Pessimist war – leider hat er mit diesem Pessimismus bisher mehr als Recht behalten. Ohne mich seinen Ansichten in allen Teilen anschliessen zu wollen, muss ich doch anerkennen, dass durch ein Scheitern der Schritte bei Harding die Lage für Deutschland eine ganz verzweifelte wird. Selbstverständlich wird und muss die jetzige Regierung dann zurücktreten. Was soll aber dann kommen? Es gibt ausser den Kommunisten keine Partei, welche gewillt wäre, das Pariser Diktat zu unterzeichnen – nebenbei bemerkt ein Diktat, das durch die neuesten Forderungen Frankreichs schon weit überholt ist. Es kann sich daher nur eine kommunistische Regierung bilden oder eine solche des Widerstandes gegen die Sanktionen. Die erste Lösung wäre gleichbedeutend mit dem Bürgerkrieg, denn sie würde sofort zur Ausrufung
irgendwelcher Diktatur führen. Und eine Regierung des Widerstandes wird ganz
naturgemäss in die Opposition zu den Anordnungen der Feinde getrieben, sodass
eigentlich nur eine Nuance bestehen kann in dem Grade und der Form dieser
Opposition. Diese Nuance wird aber nicht durch den Willen der neuen Regierung, sondern durch die Stimmung im Volke bestimmt werden. Gelangt dieser
Wille geschlossen zum Ausdruck, so führt das zu einer fortwährenden Verschärfung der Gegensätze, die zu bewaffneten Konflikten führen muss. Bekämpfen
sich aber innerhalb des deutschen Volkes verschiedene Richtungen, so ergibt sich
daraus die Gefahr des Zusammenstosses innerhalb dieser Richtungen. Man mag
die Dinge ansehen wie man will, so kann man nur zu dem Schlüsse kommen, dass
die Lage nicht ernst genug beurteilt werden könne. Aller Voraussicht nach wird
der Stein ins Rollen gebracht werden durch die Ereignisse im Osten. Wenn der
oberste Rat die oberschlesische Frage gegen Deutschland entscheiden wird, sind
ernste Konflikte an der deutsch-polnischen Grenze kaum zu vermeiden.
Ich glaube anfügen zu sollen, dass diese ernste Beurteilung der Lage nicht nur
durch Frassati, sondern durch alle hiesigen Diplomaten geteilt wird, mit welchen
ich in den allerletzten Tagen sprechen konnte.
Die Aussprache im Reichstag hat gezeigt, dass die Parteien der Regierung mit
Einschluss der Sozialdemokraten und der Deutschnationalen den Augenblick
nicht für gekommen erachten, um der Regierung in den Zügel zu fallen, aber man
kann darüber nicht im Zweifel sein, dass hinter dieser Zurückhaltung der feste
Wille sich verbirgt, sobald als möglich eine neue Regierung einzusetzen.
Ich lege noch zwei Ausschnitte aus der «Vossischen Zeitung»4 bei, welche das
genaue Referat über die Erklärungen des Reichsministers des Auswärtigen im
Reichstag, sowie über die bedeutendste Rede des Führers der Volkspartei Stresemann enthalten.
[...]5
- 1
- Lettre: E 2001 (B) 2/58.↩
- 2
- Télégrammeno 45 du 29.4.21,1 Oh 30:Rückäusserung aus Washington ist beim Auswärtigen Amt noch nicht eingetroffen, und wird solche nicht vor London erwartet. Hier werden die Aussichten sehr ungünstig beurteilt. Sollte Harding ablehnen, so könnte das zu politischen Vorgängen im Innern führen, die man allgemein als äusserst ernst betrachtet. Heute geht Bericht an Sie ab (E 2001 (B) 2/58).↩
- 4
- Edition Nr. 198 du 29 avril 1921, non reproduite.↩