Classement thématique série 1848–1945:
VII. LA RECONNAISSANCE DES ETATS
Abgedruckt in
Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 8, Dok. 67
volume linkBern 1988
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Archiv | Schweizerisches Bundesarchiv, Bern | |
▼ ▶ Signatur | CH-BAR#E2001B#1000/1503#277* | |
Alte Signatur | CH-BAR E 2001(B)1000/1503 18 | |
Dossiertitel | Estland. siehe: B.14.212.P.1.Estland.1; B.22.11.Estland (1915–1922) | |
Aktenzeichen Archiv | B.15.11 • Zusatzkomponente: Estland |
dodis.ch/44709
Anerkennung de jure von Lettland und Estland; politische Lage Litauens
Der Bundesrat hat bisher hinsichtlich der de jure Anerkennung russischer Randstaaten die Politik verfolgt, abzuwarten bis der Oberste Rat, in dessen Hände diese Länder ihr Schicksal gelegt hatten, sich ausgesprochen haben wird. Dies ist nun für Lettland, Estland und Georgien Ende Januar geschehen. Seither ist aber Georgien von den Soviettruppen erobert worden und fällt deshalb für den Augenblick nicht in Betracht. Dagegen ist die Lage für Lettland und Estland abgeklärt.
1. Lettland(Latvia).
Am 28. Januar d.J. hatte der Bundesrat das Politische Departement beauftragt, der Regierung von Riga die de facto-Anerkennung unter gewissen Bedingungen anzubieten.2 Gleichzeitig hat der damals in Paris versammelte Oberste Rat Estland, Lettland und Georgien de jure anerkannt. Heute ist somit Lettland de jure bedingungslos anerkannt von Frankreich, England, Italien, Japan und Belgien; ferner haben dieselbe Anerkennung ausgesprochen: Deutschland, Österreich, Estland, Norwegen, Persien, Argentinien, Portugal, Polen, Rumänien, Schweden, Finnland, Holland, Soviet-Russland und die Republik des Fernen Ostens (China). Nur Spanien scheint sich die Meistbegünstigung seiner Staatsangehörigen vorher ausbedungen zu haben.
Unter diesen Umständen war es nicht erstaunlich, wenn Lettland auf die angebotene und bedingte blosse de facto-Anerkennung nicht mehr eintrat und mit Note vom 5. März3 unter Hinweis auf die volle Anerkennung durch eine Reihe von Staaten auch von der Schweiz die de jure-Anerkennung verlangte.
Es ist aus Berichten des offiziös weiter amtenden schweizerischen Konsuls in Riga und zuverlässiger Reisender bekannt, dass die Zurückhaltung der Schweiz in den führenden lettischen Kreisen, die mit unseren Verhältnissen gut bekannt sind, da zahlreiche Letten auf schweizerischen Hochschulen studiert haben, eine starke Verstimmung verursacht, welche auf unser politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu diesem Randstaaten und der kleinen Schweizerkolonie schädlich ist. Tatsächlich werden die Interventionen unseres Konsulates so gut wie ignoriert, namentlich seitdem, infolge der de jure Anerkennung, in Riga einige fremde Gesandtschaften errichtet wurden.
Wegen der Agrarreform, welche schweizerische Grundbesitzer schwer trifft, und wegen der Behandlung von Umzugsgut stehen wir zur Zeit in Riga in Unterhandlungen, welche durch unser derzeitiges Verhältnis zu der dortigen Regierung bedeutend erschwert sind.
Mit Note vom 5. März 1921 hat Lettland angeboten, sofort nach seiner de jure-Anerkennung durch die Schweiz und bis zum Abschluss von Staatsverträgen den Schweizern alle Vorteile einzuräumen, welche die meistbegünstigten Nationen gemessen.
2. Estland(Estni).
Mit diesem nördlichen Nachbar Lettlands (67 710 km2,1,7 Millionen Einwohner, davon 95% Esten, 2% Deutsche) unterhält die Schweiz noch keinerlei Beziehungen.
Im Frühjahr 1917 trat ein estnischer Landtag zusammen, welcher aber bereits im Herbst durch eine bolschewistische Invasion gesprengt wurde. Während der deutschen Besetzung trat ein Landtag zusammen, in welchem die deutschen baltischen Barone die Oberhand hatten, und der natürlich deutschfreundlich war. Ende 1918 marschierten die deutschen Truppen ab und wurden durch Soviettruppen ersetzt, welche aber im März 1919 durch die Esten, aus eigener Kraft, endgültig aus dem Lande vertrieben wurden.
Am 26. April 1919 wurde die Nationalversammlung einberufen und am 10. Mai ein Kabinet gebildet. Die Unabhängigkeitserklärung von Russland erfolgte am 19. gleichen Monats. Die Septemberwahlen von 1919 ergaben eine starke sozialistische Mehrheit. Eine der ersten Massnahmen der Konstituante war am 10. Oktober 1919 die Genehmigung des Gesetzes über die Agrareform, welches sich gegen den Grossgrundbesitz, welcher in den Händen der deutschen baltischen Barone war, richtete. Alle Güter wurden zu Händen der Nation konfisziert. Niemand darf mehr als 150 Hektaren besitzen. Dieses Gesetz traf auch einige wenige Schweizer.
Am 2. Februar 1920 schloss Estland in Dorpat Frieden mit Sovietrussland. Die Ratifizierung erfolgte am 4. Februar in Moskau und am 12. März in Reval. Zwar erfolgte sofort die Aufnahme eines intensiven Handelsverkehrs mit Russland; doch wurde die estnische Armee unter den Waffen behalten und übte zum Teil, in einem gewissen Gegensätze zur Regierung, eine bedeutende Gewalt aus. Es lag ihr der Schutz Estlands gegen Überfälle bolschewistischer Banden, gegen Raubzüge regulärer roter Truppen und den grossangelegten Schmuggel ob. Die Bolschewisten hatten aber sofort nach Friedensschluss Reval zur Operationsbasis und zum Ausfallstor ihrer Propaganda gegen Europa gemacht und die stark linksorientierte Regierung liess dies geschehen, während die Armee die Grenze gegen Russland schützte. Die Moskauerregierung installierte in Reval ihre tüchtigsten Vertreter, so Gukowsky und Litwinow. Mit Recht verhielt sich damals Europa misstrauisch gegen Estland.
So war die Lage, als Mitte September 1920 der estnische Vertreter in Berlin, Herr Dr. Wilde, in Bern vorsprach, um de facto-Beziehungen einzuleiten. Wir fanden bei ihm ziemlich viel Entgegenkommen, doch verhinderte die oben angedeutete Lage und namentlich die Kürze seines Aufenthaltes den Abschluss der eingeleiteten mündlichen Verhandlungen. Bis kürzlich haben wir von der estnischen Regierung nichts mehr gehört.
Die am 27./29. November 1920 erfolgten Wahlen ins estnische Parlament (Einkammersystem) ergaben eine langsame Rechtsschwenkung. Das alte rein sozialistische Kabinet trat zurück und es wurde ein solches gebildet, das entsprechend dem Wahlergebnis rekrutiert wurde: in der «Arbeiter- Fortschrittspartei» (Handwerker, kleine Beamte, Arbeiter), den Rechtsparteien und dera«Bauernbunde». Wie wir von zuverlässigen Reisenden vernehmen, hält die neue Regierung das Land fest in der Hand. Dieses macht in gewisser Beziehung einen besseren Eindruck als Lettland. Wir vernehmen auch, dass die Regierungen, welche sich zur de jure-Anerkennung beider Randstaaten entschlossen haben, an deren Stabilität und Lebensfähigkeit glauben; wir möchten immerhin beifügen, dass letzteres wohl nur so lange dauern dürfte, als Russland noch nicht innerlich und äusserlich gefestigt und reorganisiert sein wird. Nach der Wiederherstellung Russlands dürfte es diese kleinen Randgebilde wieder absorbieren.
Aus Selbsterhaltungstrieb tritt Estland heute energisch gegen die Missbräuche und Übergriffe der Soviet-Vertretung auf und hat neulich den übertriebenen Verkehr sogenannter Kuriere eingeschränkt, welche in Tat und Wahrheit nichts anderes als Propagandaagenten sind.
Reval ist zur Zeit ein wichtiger Handelsplatz, namentlich für den Verkehr mit Russland, geworden. Estlands Hauptausfuhrartikel ist Flachs (119000000 Mark), eine Ware, welche auch die Schweiz interessiert.
Genau wie in Lettland herrscht in den führenden Kreisen Revals eine ernste und unseren künftigen Beziehungen schädliche Verstimmung gegen die Schweiz, weil sie Estland noch nicht anerkannt hat.
Die Entente, namentlich England und Frankreich, interessieren sich lebhaft für diese beiden baltischen Randstaaten und investieren bedeutende Kapitalien zum Aufbau ihrer Industrie und zur Schaffung von Operationsbasen für den Handel mit Russland, der besonders seit dem Abschluss der englisch-russischen und deutsch-russischen Handelsabkommen der Entwicklung fähig ist.
Heute ist Estlandde jure durch folgende Staaten anerkannt: Argentinien, Belgien, Dänemark, Spanien, Frankreich, Italien, Norwegen, Rumänien, Sovietrussland, Lettland, England, Schweden.
Die sehr unbedeutende Schweizerkolonie in Estland ist zur Zeit ohne Schutz, denn die dortige Regierung lehnt einen Verkehr mit dem Korrespondenten des schweizerischen Konsulates in Abo (Finnland) ab, da er nicht einmal offi ziösen Charakter hat; früher oder später wird in Reval eine Konsularvertretung errichtet werden müssen. Die Regierung von Reval hat durch Vermittlung ihrer Gesandtschaft in Berlin wissen lassen, dass sie bereit sei, den Schweizern in Estland die « volle Meistbegünstigung» zu gewähren. Sie ist auch bereit, in Unterhandlungen zu treten und ihren derzeitigen Vertreter in Berlin auch in Bern zu beglaubigen.
3. Litauen.
Wir erwähnen diesen baltischen Staat heute nur der Vollständigkeit halber. Gemäss Bundesratsbeschluss unterhält die Schweiz seit dem 14. Dezember 1918 de facto-Beziehungen mit dieser Republik. Die Anerkennungsfrage ist aber zur Zeit noch nicht spruchreif. Bekanntlich sind noch bedeutende Territorien um Wilna zwischen Polen und Litauen strittig; es empfiehlt sich deshalb für die Schweiz, die Frage der de jure-Anerkennung dieses baltischen Staates einstweilen zurückzulegen, umsomehr als die Regierung von Kaunas noch kein derartiges Gesuch in Bern anhängig gemacht hat. Sie unterhält hier eine de facto-Vertretung. Die schweizerischen Interessen in Litauen scheinen sehr unbedeutend zu sein. Wir behalten uns vor, auf die Frage der Anerkennung dieses Randstaates zurückzukommen, sobald die durch den Völkerbund nach Brüssel einberufene polnisch-litauische Konferenz, unter belgischem Vorsitze, die Territorialfrage erledigt haben wird. Bis jetzt scheinen übrigens nur Deutschland, Lettland, Estland und Sovietrussland Litauen de jure anerkannt zu haben.
Nachdem Lettlandund Estland\on einer grossen Zahl Staaten de jure anerkannt sind, kann die Schweiz, wenn sie nicht ihren künftigen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen und den Schweizern, welche jetzt schon in diesen Ländern niedergelassen sind und dort Handel treiben, ernstlich schaden will, mit der Anerkennung beider Republiken nicht mehr lange zuwarten. Bereits haben die «Chambre Suisse de l’Horlogerie» in La Chaux-de-Fonds und einzelne Kaufleute sich über die ungünstigen Folgen unseres derzeitigen Verhältnisses zu den Randstaaten beschwert.4
Die Genossenschaft für den Schutz schweizerischer Interessen in Russland, welche gegen LettlandForderungen im Betrage von R. 3 349014 gegen Estlandsolche von R. 1931 228 vertritt, hat uns in einer Konferenz durch ihren Präsidenten Herrn Professor Töndury wissen lassen5, dass sie ebenfalls der Ansicht ist, dass ein Aufschub nicht möglich ist, und dass die Anerkennung baldigst ausgesprochen werden sollte.
Zur Zeit werden die in der Schweiz lebenden Letten und Esten von ihren Gesandtschaften in Paris oder Berlin mit Ausweisschriften ausgestattet, welche aber von der Fremdenpolizei und den kantonalen Behörden nur als Notpapiere anerkannt werden, was immer wieder zu Schwierigkeiten aller Art Anlass gibt.
Die Schweizer in Lettland stehen unter dem Schutze unseres Konsulates in Riga, welches de facto, ohne mit einem Exequatur der gegenwärtigen Regierung versehen zu sein, seines Amtes walten kann. Nach Anerkennung wird man um ein Exequatur für Konsul Mantel nachsuchen müssen.
In Estland sind die Schweizer schutzlos, da die Regierung sich weigert, mit dem einfachen Korrespondenten des Konsulats in Abo (Finnland), Herrn Dr. Hofer, irgendwelche Beziehungen zu unterhalten.
Die Handelsabteilung des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartementes ist damit einverstanden, dass man mit den Randstaaten hinsichtlich Handelund Verkehr die gegenseitige Meistbegünstigung vereinbare. Diese ist nunmehr sowohl seitens Lettlands als Estlands zugesichert.
Das Justiz- und Polizeidepartement schlägt, mit Rücksicht auf die Zurückhaltung, welche sich für die Schweiz auf dem Gebiete des Niederlassungswesens empfiehlt, eine dem schweizerisch-deutschen Rechtsschutzvertrag vom 31. Oktober 1910 entnommene Formel vor, welche wir unten unter Ziffer 3 unseres Antrages verwenden werden.
Es empfiehlt die Anerkennung beider Randstaaten, umsomehr als immer notwendiger wird, mit ihnen das Schriftenwesen und die Frage der Ausländerunterstützung zu ordnen.6
- 1
- (Copie): E 2001 (B) 3/18.↩
- 2
- Selon la proposition du Département politique du 13 janvier, ces conditions étaient: Bis zur nähern Bestimmung der Rechtslage der schweizerischen Bürger in Lettland und der lettischen Bürger in der Schweiz durch die zu schliessenden Handels- und Niederlassungsverträge verpflichtet sichLettland: «ln Lettland schweizerischen Staatsangehörigen und Firmen sowohl für ihre Person als auch ihre Waren, Vermögen, Besitz etc. alle Rechte und Vorteile einzuräumen, die den meistbegünstigten Staaten gewährt werden; verpflichtet sich die Schweiz: In der Schweiz lettländischen Staatsangehörigen und Firmen sowohl für ihre Person als auch für ihre Waren, Vermögen, Besitz etc. bezüglich Handel und Verkehr alle Rechte und Vorteile einzuräumen, die den meistbegünstigten Staaten gewährt werden. Bezüglich aller ändern Rechte sollen die Lettländer den Angehörigen des meistbegünstigten de facto anerkannten Staates gleichgestellt sein. Vorstehende Vereinbarungen treten eine Woche nach der Bekanntgabe der Einverständnis-Erklärung der Regierung Lettlands an den Schweizerischen Bundesrat in Kraft» (E 2001 (B) 2/14).↩
- 3
- Non reproduit.↩
- 4
- Cf. E 2001 (B) 2/13.↩
- 5
- Cf. E 2001 (B) 2/14.↩
- 6
- Dans sa séance du 22 avril, le Conseil fédéral décidait: Gestützt auf den einlässlichen Bericht des politischen Departementes wird gemäss seinem Antrag beschlossen: 1. Der Bundesrat anerkennt de jure die Republiken Lettland und Estland als freie und unabhängige Staaten; 2. die von den Regierungen beider Republiken abgegebenen Erklärungen, wonach sie gewillt sind, die Schweizer den Angehörigen des meistbegünstigten Staates gleichzustellen, werden entgegengenommen. Der spätere Abschluss von Staatsverträgen bleibt Vorbehalten; 3. beiden Regierungen ist mitzuteilen, dass die Angehörigen ihrer Staaten in Ansehung der Person und des Eigentums in der Schweiz den gleichen Rechtsschutz wie die Inländer geniessen sollen; ferner dass ihnen Handel, Verkehr und Gewerbe jeder Art in gleicher Weise und unter gleichen Bedingungen wie den Inländern gestattet werden soll, ohne Belastung mit höheren Auflagen, Abgaben, Steuern und Gebühren, als solche den Angehörigen der meistbegünstigten Staaten auferlegt sind. Bezüglich der Gewährung von Aufenthalt (séjour) und Niederlassung (établissement) übernimmt die Schweiz keine Verpflichtung (E 2001 (B) 2/14).↩
Verknüpfungen mit anderen Dokumenten
http://dodis.ch/48705 | nimmt Bezug auf | http://dodis.ch/44709 |
Tags
Fragen der Anerkennung fremder Staaten