Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 8, doc. 27
volume linkBern 1988
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2001B#1000/1502#1446* | |
Old classification | CH-BAR E 2001(B)1000/1502 58 | |
Dossier title | Politische Berichte Deutschland (1921–1921) | |
File reference archive | D.1 • Additional component: Deutschland |
dodis.ch/44669
Ich komme soeben von einem Besuche bei Minister Simons und beeile mich, Ihnen Kenntnis zu geben von der vertraulichen Auskunft, die ich erhalten habe über die Eindrücke und die Ansichten des Ministers, die von der Reichsregierung anscheinend geteilt werden.
Über den festen Entschluss der deutschen Regierung, die Pariser Vorschläge2 nicht anzunehmen und eine Verhandlung auf dieser Basis überhaupt abzulehnen, sind Sie durch die Verhandlungen im Reichstag unterrichtet. Der Minister versicherte mich, dass seine amtlichen Erklärungen durchaus ernst gemeint seien und unter allen Umständen befolgt werden. Dieser Ernst ergibt sich schon aus der Tatsache, dass die gestern eingetroffene Einladung zur Fortsetzung der Verhandlungen der Sachverständigen in Brüssel am gleichen Abend glatt abgelehnt worden
Sie wissen auch, dass Deutschland gewillt ist, Gegenvorschläge zu machen, welche die Grundlage für die Verhandlungen in London bilden sollen. Wie diese Vorschläge lauten werden, weiss ich nicht und habe auch nicht darnach gefragt, weil darauf zunächst nicht so viel ankommt und weil ich zum voraus wusste, dass mir eine Antwort nicht erteilt werden könne, indem diese Fragen noch im Studium sind. Ich habe aber dem Minister folgende weiteren Fragen gestellt:
1. Besteht die Absicht, die Verhandlungen in London deutscherseits zu beschicken und wenn ja, glaubt die deutsche Regierung, dass diese Verhandlungen mit irgendwelcher Aussicht auf Erfolg geführt werden können?
2. Was wird geschehen, wenn die Verhandlungen in London nicht zu einer Einigung führen?
Auf diese Fragen antwortete mir der Minister wie folgt:
Ad. 1: Die deutsche Regierung ist nicht bereit, sondern sie wünscht an den Verhandlungen in London teilzunehmen, um dort ihren Standpunkt nochmals mit aller Deutlichkeit und Offenheit darzulegen. Sie wird ihre Gegenvorschläge so rechtzeitig vorlegen, dass darüber in London verhandelt werden kann. Ob diese Verhandlungen zur Einigung führen werden, lässt sich unmöglich voraussehen. Der Minister sagte wörtlich: «Ich halte eine Verständigung nicht für ausgeschlossen, aber für wenig wahrscheinlich». In diesem Zusammenhang teilte mir Simons mit, dass unmittelbar vor mir der englische Botschafter Lord D’Abernon über eine Stunde bei ihm gewesen sei und dass er, der Minister, aus dieser Unterredung den Eindruck gewonnen habe, dass die Alliierten sich selbst in grosser Verlegenheit befinden und dass jedenfalls die Engländer den dringenden Wunsch hätten, die Verhandlungen fortzuführen. Der Botschafter frug den Minister, ob er bereit sei, vor London mit ihm offiziös zu unterhandeln, um womöglich ein terrain d’entente zu finden, was der Minister ohne weiteres bejahte. Es wird also hier in Berlin parallel3 mit der Vorbereitung der Gegenvorschläge unterhandelt werden. Der Minister fügte bei, dass leider die jüngsten Ereignisse bewiesen hätten, wie bedeutungslos solche Vorverhandlungen seien. Tatsächlich sei er mit dem französischen und englischen Vertreter über die Annahme des Seydoux’schen Vorschlages so gut wie einig gewesen und doch sei man in Paris ohne weiteres darüber hinweggeschritten.
Aus den «etwas kleinlauten» Erklärungen des englischen Botschafters über die Vorgänge in Paris hat Simons den Eindruck gewonnen, dass die Pariser «Vorschläge» das Produkt der Angst gewesen seien vor der Möglichkeit, dass die Konferenz unverrichteter Dinge auseinandergehen müsse. Da diese Einigung in der kurzen Zeit von weniger als 48 Stunden zustande kommen musste, habe man sich auf den belgischen Vermittlungsvorschlag gestürzt, ohne sich über dessen Tragweite irgendwie Rechenschaft zu geben. Tatsächlich stütze sich der Vorschlag der 12%igen Ausfuhrabgabe auf einen gesunden Gedanken des Seydoux’schen Projektes, dem Simons zugestimmt hatte.4 Nach Seydoux hätte zwischen Frankreich und Deutschland eine Verständigung getroffen werden sollen über die beidseitigen hauptsächlichen Exportwerte. Dieser Verständigung sollte ein Kartell über die Preise vorausgehen5, und innert dem Rahmen dieser kartellierten Preise hätte Deutschland eine Exportprämie bezahlt, die den französischen Reparationskontos zu gut gekommen wäre. Es ist dies, soweit das Kartell über die Preisbildung in Betracht fällt, der Grundgedanke des Planes von Stinnes, über welchen ich Ihnen vor Monaten, auf Grund eines Gespräches mit Staatsekretär Boyé, berichtet hatte. Der Gedanke der Exportprämie stamme von Seydoux und wäre praktisch durchaus annehmbar, wenn er unter der Voraussetzung der Beschränkung auf gewisse Ausfuhrwaren und der übereinstimmenden Preisbildung verwirklicht worden wäre. Nun habe aber die Konferenz diesen Gedanken verallgemeinert und dadurch einen ganz unmöglichen Zustand geschaffen, der in keiner Weise der Verschiedenheit und Tragfähigkeit der einzelnen Industrien Rechnung trage. England habe diesem Vorschläge nicht sowohl wegen der Einnahme aus den Prämien, sondern wegen der damit verbundenen Kontrolle über den ganzen deutschen Handel und der Möglichkeit einer allgemeinen Kuratel über die deutsche Volkswirtschaft zugestimmt. Dieser letztere Gedanke stamme zweifellos von Lord D’Abernon, der seine Erfahrungen in der Türkei und in Ägypten gemacht habe.
Zur zweiten Frage antwortete mir Simons folgendes:
Wenn wir in London nicht zu einer Einigung gelangen, die es uns ermöglicht, eine Vereinbarung zu unterzeichnen, fallen die Pariser «Vorschläge» als solche dahin und es werden die Alliierten dann gezwungen sein, auf den Boden des Versailler Vertrages zurückzukehren, d. h. sie werden durch die Reparationskommission die Entschädigungsforderung in der Form eines Diktates feststellen lassen. Dieses Diktat wird zweifellos viel höhere Annuitäten vorsehen und wird uns als solches eröffnet werden. Dadurch wird die deutsche Regierung der Notwendigkeit enthoben zu dem Befehl Stellung zu nehmen und die Alliierten werden gewärtigen müssen, ob und wie Deutschland die ihm auferlegten Verpflichtungen erfüllt. Bevor feststeht, dass nicht oder nicht voll erfüllt wird, kann von der Anwendung der Sanktionen vernünftigerweise6 nicht die Rede sein.
Ich warf ein: Ist es nicht denkbar, dass die Alliierten schon vor der formellen Feststellung der mangelnden Erfüllung Massnahmen ergreifen werden, um die spätere Erfüllung sicherzustellen? Der Minister antwortete darauf: Das ist natürlich möglich, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich. Jedenfalls hat England weder ein Interesse noch den Wunsch, die Dinge auf die Spitze zu treiben, dagegen ist es keineswegs ausgeschlossen, dass von Frankreich irgend ein coup de tête ausgeht.
Damit kamen wir auf die Hauptfrage: Was wird Deutschland tun, wenn Sanktionen zur Anwendung gelangen?
Wir werden, sagte der Minister, den Ereignissen ihren Lauf und uns durch keinerlei Gewaltmassnahmen dazu bringen lassen, Verpflichtungen auf uns zu nehmen, deren Unerfüllbarkeit für uns feststeht. Was in einem solchen Falle in Deutschland vor sich gehen wird, lässt sich nicht Voraussagen, wohl aber ahnen. Und als ich weiter frug, ob in diesem Falle an eine Verbindung mit Russland und die Annahme des Bolschewismus zu denken sei, antwortete mir Simons: «Ich kann mir sehr wohl denken, dass ich in einem solchen Falle als verantwortlicher Staatsmann dazu kommen könnte, dem deutschen Volke die Verbindung mit Russland und dem Bolschewismus anzuraten7 denn ich habe die feste Überzeugung, dass das deutsche Volk unter dem jetzt beliebten System der Verfolgung durch die Alliierten vollständig zusammenbrechen muss, während der Verzweiflungsakt der Verbindung mit Russland immerhin noch eine Möglichkeit der Wiederaufrichtung bietet. Ich würde eine solche Wendung tief beklagen, weil ich überzeugt bin, dass durch eine gewaltsam herbeigeführte Verbindung mit dem Bolschewismus die guten Kerne8, die auch in dieser Bewegung liegen, zerstört und die Kultur Europas in Frage gestellt würde. Aber ich verhehle mir anderseits nicht, dass ein solcher Prozess sittliche Kräfte, die noch immer im deutschen Volke stecken, zur Entfaltung und späteren Fortpflanzung bringen könnte, während die allmähliche Abtötung, wie sie durch die Pariser Beschlüsse beabsichtigt ist, alles zu nichte machen würde. Der Minister meinte dann, es sei ein Irrtum, den Bolschewismus in Bausch und Bogen zu verwerfen; man müsse vielmehr anerkennen, dass auch diese Richtung trotz aller Irrwege, auf welchen sie wandle, manchen starken und guten Kern in sich trage. Diese Kerne würde Deutschland auf dem Wege der inneren Evolution in sich aufnehmen und zu einem brauchbaren Neubau verarbeiten, wenn man es nicht von aussen her daran hindern wollte. Nur ein Tor könne glauben, dass wir zu den Zuständen vor dem Kriege zurückkehren können – die Welt müsse neu aufgebaut werden, aber es sollte dies auf dem Wege der Entwicklung durch das Zusammenwirken aller Kräfte in allen Völkern geschehen.
Endlich sprachen wir noch von der Haltung Amerikas, wobei mir der Minister sagte, dass wohl die Vereinigten Staaten vor den Verhandlungen in London ein deutliches Wort sprechen werden, nicht aus Liebe zu Deutschland, sondern aus Liebe zu sich selbst und im Interesse der Erhaltung des deutschen Absatzgebietes für amerikanische Waren und Geld. Immer mehr und energischer ertöne aus Amerika der Ruf nach Deutschland: Saniert eure Finanzen, und wir geben euch Geld zu guten Bedingungen. Wie soll man aber an eine Sanierung der deutschen Finanzen denken, wenn man die Grundsätze der Pariser Beschlüsse anwendet?
Interessant war die im Laufe des Gespräches getane Äusserung des Ministers, dass die «Aussichten für eine Restauration (gemeint war die Wiederherstellung der Monarchie) in Preussen rapid gesunken seien» infolge der verschiedenen Veröffentlichungen der letzten Zeit über das Verhalten des Kaisers vor und während des Krieges. Bekanntlich werden in diesen Tagen in deutschen Blättern Auszüge aus dem dritten Bande von Bismarck’s Erinnerungen veröffentlicht, welche nach allgemeinem Urteil das damalige Verhalten des jungen Kaisers in einem überaus ungünstigen Lichte erscheinen lassen. Simons meinte, die Hohenzollern seien endgültig abgetan und andere Prätendenten gäbe es zur Zeit nicht, infolgedessen hätten sich viele mit der vollzogenen Tatsache der Republik abgefunden und dächten nicht daran, zur Zeit etwas an diesem Zustande zu ändern. Der Minister ist fest davon überzeugt, dass auf absehbare Zeit jede Gefahr eines Umsturzversuches von rechts ausgeschlossen sei.
Anderseits geht aus allen Berichten über die Tätigkeit der Kommunisten hervor, dass auf jener Seite eine fieberhafte Agitation entfaltet wird, die unter der Flagge der Wahlvorbereitungen segelt, aber tatsächlich in Verbindung steht mit den Ereignissen auf internationalem Boden. Aus den letzten Berichten des Staatskommissärs geht hervor, dass diese Agitation zur Zeit ganz besonders unter den Landarbeitern betrieben wird. Beachtenswert ist weiter die Tatsache, dass die Kommunisten es unternommen haben von Partei wegen die Anknüpfung von Handelsbeziehungen zu Sowjet Russland zu betreiben. Man berichtet mir über mehrere Fälle, in welchen kommunistische Betriebsräte von grösseren Unternehmungen sich als Vermittler zwischen diesen Unternehmungen und russischen Abnehmern aufgetan und tatsächlich erhebliche Abschlüsse erzielt haben. So wird systematisch die «Penetration» des politischen und wirtschaftlichen Lebens betrieben. Dass diese Tätigkeit von Moskau ausgeht, unterliegt keinem Zweifel, und es scheint mir daraus hervorzugehen, dass die Sowjetregierung noch keineswegs so lendenlahm ist, wie vielfach angenommen wird.
Ich bitte Sie, die sichtliche Eile zu entschuldigen, mit welcher diese Bemerkungen unter dem frischen Eindruck meiner Besprechung niedergeschrieben sind. Es lag mir daran, diese Nachricht so rasch als möglich zu Ihrer Kenntnis zu bringen und dazu bietet sich die Gelegenheit durch unseren Konsul in Abo, der morgen nach der Schweiz reist.
- 1
- Rapport politique: E 2001 (B) 2/58. Remarque manuscrite de Motta en tête du document: Sehr interessanter Bericht! (souligné deux fois)↩
- 2
- Propositions de la conférence de Paris du 29 jan vier 1921 fixant les réparations dues par l’A Ile rn a gne à 269 milliards de mark-or.↩
- 4
- Point d’exclamation en marge de ce passage.↩
- 5
- Point d’exclamation en marge de ce passage.↩
- 7
- Passage souligné et points d’interrogation en marge.↩
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