Classement thématique série 1848–1945:
II. LES RELATIONS BILATERALES ET LA VIE DES ETATS
II.4. Autriche
II.4.1. Questions de politique générale et intérieure
Pubblicato in
Documenti Diplomatici Svizzeri, vol. 8, doc. 11
volume linkBern 1988
Dettagli… |▼▶Collocazione
Archivio | Archivio federale svizzero, Berna | |
▼ ▶ Segnatura | CH-BAR#E2300#1000/716#1246* | |
Vecchia segnatura | CH-BAR E 2300(-)1000/716 521 | |
Titolo dossier | Wien, Politische Berichte und Briefe, Militär- und Konsularberichte, Band 35 (1920–1920) |
dodis.ch/44653
Das Regieren wird den neuen Machthabern2 nicht leicht gemacht. Die zerrütteten Staatsfinanzen, an deren Zustand sie ja nicht schuld sind, würden ihnen an sich schon Schwierigkeiten genug verursachen, aber ihre sozialistischen Gegner haben daran nicht genug, sondern sie suchen durch täglich neue Streike die christlich-soziale Regierung zu diskreditieren. Es ist daher begreiflich, wenn sogar Bundesminister sich mit der Bitte an mich wenden, ich möchte doch gelegentlich meinen Kollegen von den Ententemächten nahe legen, die Kredithilfe an Österreich mit der Bedingung zu verknüpfen, dass diese Streike aufhören. In der Tat haben diese Arbeitseinstellungen keinen grossen Sinn, denn bei Erhöhung der Saläre wird auch das Leben wieder verteuert und man dreht sich immer nur in einem Circulus viciosus. Dabei wird auch das ausländische Kapital abgeschreckt.
Aus einem Gespräch mit dem französischen Gesandten kann ich übrigens entnehmen, dass die Ententeregierungen von sich aus in dem gewünschten Sinne wirken, bis jetzt allerdings mit wenig Erfolg. M. Lefèvre-Pontalis, der gerade von Paris zurückgekehrt ist, schien mir zwar von den dort erreichten Ergebnissen befriedigt; er glaubt «que les choses s’arrangeront», was ich dahin deute, dass Österreich die erforderlichen Kredite in irgend einer Form erhalten wird. Leider konnte ich mit meinem Kollegen nicht näher auf das Thema eingehen, da ich nur ein kurzes Gespräch mit ihm im Salon des Nuntius bei dessen erstem Empfange (ricevimento) führen konnte.
Im Ganzen genommen war man hier in letzter Zeit sehr pessimistisch gestimmt, auch in Regierungskreisen; ernsteste Leute sprachen von Zusammenbruch, Zahlungseinstellung, Zerfall der Republik in ihre Teilstaaten und darauf folgendem Anschluss eines Teiles derselben, so Tirols und Salzburgs, an Deutschland. Ich will diese Gefahren keineswegs leugnen, aber ich bin immerhin noch etwas Optimist und glaube, dass auf irgend eine Weise «weitergewurstelt» werden wird, wenigstens eine zeitlang noch. Freilich darf nicht übersehen werden, dass eine so günstige Gelegenheit, alles über den Haufen zu werfen, sich für die Sozialisten nicht sobald wieder finden lassen wird, und daher ist ein Prophezeihen, das ja immer mehr oder weniger nur auf eine subjektive Anschauungsweise beruhen kann, mehr denn je eine gewagte Sache.
Über die jüngste Reise von Tiroler Politikern nach Berlin und über die dort geführten Verhandlungen erfahre ich vertraulich aus journalistischer Quelle, dass es sich bei den Berliner Konferenzen nicht um Angelegenheiten handelte, die unmittelbar mit dem Anschluss Zusammenhängen, wie in der Presse mitgeteilt wurde. Die Tiroler Politiker sind mit den Parteigenossen der katholischen Volkspartei in Verbindung getreten, und Präsident Fehrenbach hat an diesen Verhandlungen nur in seiner Eigenschaft als Mitglied der Zentrumspartei teilgenommen. Von Wichtigkeit ist es, dass diese Beratungen auch einen starken wirtschaftlichen Hintergrund hatten. Es sind zwischen Tirol und dem deutschen Reich sehr starke finanzielle Verbindungen geschaffen worden, und die deutsche Hochfinanz und deutsche Industriekreise haben heute bereits in Tirol sehr bedeutende Kapitalien investiert. In Verbindung damit steht bekanntlich auch die Gründung der deutsch-italienischen Handelsbank. Die Berliner Verhandlungen haben nun das Ergebnis gehabt, dass neuerlich bedeutende Summen deutschen Geldes nach Tirol kommen werden, und es ist auch zu erwarten, dass der von den Tiroler katholischen Politikern seit längerer Zeit erwogene Plan, das gesamte bäuerliche Kreditgenossenschaftswesen auf breiterer Basis zu reorganisieren, mit Hilfe deutschen Geldes durchgeführt werden wird.
Soweit die Berliner Verhandlungen politischen Charakter hatten, betrafen sie zum Teil auch die Tätigkeit des Innsbrucker deutschen Konsuls und die szt. in den Blättern viel erörterte Gründung eines «deutschen Gaues Osttirol». Wie noch erinnerlich, haben sich einige Gemeinden im Lienzer Bezirk sozusagen selbständig erklärt und auf eigene Faust den Anschluss an das Deutsche Reich proklamiert. Dieses Husarenstückchen hat aber einen ernsteren Hintergrund gehabt, denn es stellt sich jetzt heraus, dass der deutsche Konsul in Innsbruck einer der Hauptakteure dabei war. Er war wohl auch die einzige amtliche Stelle, die in hochoffizieller Form mit dem «deutschen Gau Osttirol» tatsächlich in Verbindung getreten ist. Die Angelegenheit hat in Berlin peinlich berührt und auch die von dem Konsul betriebene Anschlusspolitik, vor allem die Gründung des Innsbrucker Tagblattes «Alpenland», für die reichsdeutsches Geld zur Verfügung gestellt wurde, hat, als der wahre Sachverhalt aufgeklärt wurde, starkes Befremden erregt. Die Abberufung des deutschen Konsuls in Innsbruck steht nun unmittelbar bevor, und seine ganze Innsbrucker politische Tätigkeit wird zum Gegenstand einer Interpellation gemacht werden, die diesmal bezeichnenderweise von sozialdemokratischer Seite im Bundesrat eingebracht werden wird.
Die Aufnahme Österreichs in den Völkerbund ist vielfach mit grosser Genugtuung entgegengenommen worden, wobei aber nicht verschwiegen werden darf, dass in grossdeutschen und sozialistischen Kreise die Freude eine sehr gemischte war, indem man diese Aufnahme mehr als eine Erschwerung für den Anschluss an Deutschland auffasste als wie eine Wohltat für Österreich. Ihrem Eintreten, Herr Bundespräsident, für die Aufnahme Österreichs und für die Universalität des Völkerbundes, inklusive Deutschland, wurde dagegen ungeteilte Anerkennung gezollt.
- 1
- Rapport politique: E 2300 Wien, Archiv-Nr. 35.↩
- 2
- Le 20 décembre 1920 se constitua le second ministère de Michael Mayr.↩