Classement thématique série 1848–1945:
II. LES RELATIONS INTERGOUVERNEMENTALES ET LA VIE DES ETATS
II.6 FRANCE
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 7-II, doc. 401
volume linkBern 1984
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E1005#1000/17#7* | |
Dossier title | Protokolle des Bundesrates, Geheimprotokolle (Minuten und Originale) 1920 (1920–1920) | |
File reference archive | 4.5 |
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E1005#1000/16#7* | |
Dossier title | Protokolle des Bundesrates, Geheimprotokolle (Minuten und Originale) 1920 (1920–1920) | |
File reference archive | 4.5 |
dodis.ch/44612
CONSEIL FÉDÉRAL
Procès-verbal de la séance du 17 septembre 19201
Zusammenkunft mit dem franz. Ministerpräsidenten Millerand in Lausanne am 15. September 1920
Procès-verbal de la séance du 17 septembre 19201
Der Bundespräsident erstattet Bericht über die Zusammenkunft mit dem französischen Ministerpräsidenten Millerand in Lausanne, die am 15. ds.Mts. stattfand, und insbesondere über die Unterredung, welche von 16 Uhr 40 Minuten bis 18 Uhr 50 Minuten dauerte. Es nahmen daran teil, die HH. Bundespräsident Motta, Vizepräsident Schulthess, Bundesrat Chuard, Minister Dunant und Minister Dinichert, Botschafter Allizé, Berthelot vom franz. Ministerium des Auswärtigen und Massigli, Sekretär der Botschafterkonferenz in Paris. Der Letztgenannte hat Notizen über die ganze Unterredung aufgenommen.2
Der Ton der Unterredung war bei aller Herzlichkeit auf beiden Seiten sehr bestimmt, und die Erörterung aller Fragen war durchaus loyal und anscheinend frei von allen Hintergedanken. Der französische Ministerpräsident macht den Eindruck eines etwas autoritären Mannes, der ohne Umschweife scharf denkt und spricht und rasch auf das Ziel losgeht, dabei aber aufrichtig und wohlwollend ist.
Die an Millerand gerichtete Frage, ob er von seinem Besuch beim Vorsteher des internationalen Arbeitsamtes, Albert Thomas, in Genf befriedigt sei, gab dem Vizepräsidenten Schulthess Gelegenheit, darauf aufmerksam zu machen, dass der Ratifikation einiger der von der Arbeitskonferenz in Washington ausgearbeiteten Abkommen gewisse Bedenken entgegenstehen. Millerand gab der Auffassung Ausdruck, er werde diesen Schwierigkeiten durch ein règlement d’administration begegnen können, wogegen Vizepräsident Schulthess bemerkte, dieser Ausweg des Legiferierens ohne Anwendung des so geschaffenen Rechtes sei für unsere Verhältnisse nicht möglich und widerspräche der in unserm Staatsleben herrschenden Auffassung wonach eine international festgelegte Verpflichtung auch streng durchzuführen sei.
Auf die Bemerkung des Bundespräsidenten hin, man werde ihm in Genf gewiss von der Zonenfrage gesprochen haben, präzisierte Millerand seinen früher schon in dieser Frage bekannt gegebenen Standpunkt neuerdings dahin, dass der Art. 435 des Versailler Vertrages gar keinen ändern Sinn haben könne als den, die territoriale Beschränkung Frankreichs zu beseitigen, die im gegenwärtigen Verlauf der Zollgrenze im Innern des Landes an der Grenze der Freizonen liege. Die genannte Bestimmung gebe Frankreich unzweifelhaft einen rechtlichen Anspruch darauf, die Zollgrenze an die politische Grenze vorzuschieben. Aber, ganz abgesehen von der Rechtsfrage, dürfe man Frankreich nicht zumuten, weiterhin Beschränkungen zu dulden, die ihm im Gefolge des Zusammenbruches nach den napoleonischen Kriegen auferlegt worden und die durch seinen Sieg im Weltkrieg unhaltbar geworden seien.
Demgegenüber weist Bundespräsident Motta darauf hin, dass unsere Auffassung von der Tragweite des Art. 435 des Versailler Vertrages mit der eben geäusserten nicht übereinstimme und dass die Konsequenz einer Meinungsverschiedenheit über die Interpretaton dieser Bestimmung für uns eigentlich die wäre, den Art. 435 nicht zu ratifizieren. Im übrigen sei zuzugeben, dass die Schweiz keinen Rechtsanspruch auf den Fortbestand der grossen savoyardischen Zone besitze und sich daher jeder Einmischung in dieser Beziehung enthalten müsse, während anderseits die Zone von Gex auf Edikte französischer Könige zurückgehe und die kleine savoyardische Zone auf einem Abkommen beruhe, das zwischen Sardinien und den ändern Staaten zugunsten der Schweiz abgeschlossen und von Frankreich als Nachfolgestaat Sardiniens übernommen worden sei, so dass hiebei tatsächlich nicht von einer einem besiegten Staat auferlegten Beschränkung die Rede sein könne.
Millerand antwortete: Sie vergessen die ganze Revolution; was die Könige gemacht haben, gilt danach nicht mehr; erklärte sich aber bereit, die gegenwärtige wirtschaftliche Situation Genfs zu konsolidieren, jedoch unter der Voraussetzung der Vorschiebung des Zollkordons an die politische Grenze.
Dies gab Anlass zur Hervorhebumg der beiden Seiten des Zonenproblems. Die Verpflegung Genfs sicherzustellen, werde der Schweiz nicht schwer fallen, da sie es ja in der Hand habe, die in dieser Hinsicht nötigen Erleichterungen für die Einfuhr aus den Zonen festzusetzen. Schwieriger werde sich, bei Vorschiebung des Zollkordons, die Ausfuhr der für die Bewohner der Zonen nötigen Produkte regeln lassen, die diese Leute jetzt in Genf beziehen. Die Zonenbewohner bringen gegenwärtig ihre Produkte in Genf zu Markte. Aus dem Erlös kaufen sie in Genf gewisse Bedarfsartikel, die sie sodann zollfrei in die Zone hinübernehmen können. Dieser für beide Teile vorteilhafte Warenaustausch sollte auch in Zukunft möglich sein.
Hier ersuchte der Botschafter um Darlegung der Verhandlungen, die er in dieser Angelegenheit mit dem Volkswirtschaftsdepartement geführt hat und die darin gipfelten, dass wir Frankreich ersuchen, zu prüfen, ob und auf welche Weise es möglich wäre, trotz Vorschiebung des Zollkordons die wirtschaftlichen Interessen Genf zu wahren, und wonach wir uns damit einverstanden erklären, dass Frankreich offiziös einen wohlwollenden Sachverständigen nach Bern entsendet, der diese Frage im Verein mit den schweizerischen Sachverständigen untersuchen soll.
MilleranVerklärte hierauf (und das ist wohl das hauptsächliche Resultat dieser Unterredung): Über die grundsätzliche Frage kennen Sie meine Meinung; ich verlange nicht, dass Sie sie teilen; aber über das Verfahren, das zu einer befriedigenden Lösung führen kann, wollen wir uns gerne einigen. Ich bin bereit, noch bis Ende des Jahres (mit der Vorschiebung des Zollkordons) zuzu warten.
Das ist für den Bundesrat wichtig, weil wir so Zeit vor uns haben, um die öffentliche Meinung auf die Lösung der Zonenfrage vorzubereiten, und weil damit die Gefahr bestehender Schwierigkeiten mit Frankreich während der Zeit der Völkerbundsversammlung in Genf beseitigt wird.
In der Frage der Zollgrenze wird Frankreich also nicht nachgeben, und es ist zuzugeben, dass es begreiflich erscheint, wenn Frankreich den Zwang abschütteln will, die Zollgrenze teilweise im Innern des Landes zu haben. Im übrigen glaubt Frankreich offenbar aufrichtig an die Möglichkeit, durch ein Abkommen eine Lösung zu finden, die Genf und der Schweiz ungefähr die gleichen Vorteile gewährt wie der gegenwärtige Zustand.
Hervorzuheben ist noch, das Berthelot bei der Erörterung der Zonenfrage intervenierte, um folgendes zu erklären: Über die von schweizer. Seite aufgestellte Behauptung, der frühere Minister Pichon habe Herrn Ador seinerzeit das Versprechen gegeben, es werde am gegenwärtigen Zonenregime vor dem Abschluss eines neuen Abkommens nichts geändert werden, habe er (Berthelot) Herrn Pichon interpelliert und dieser habe in Abrede gestellt, dass er Herrn Ador gegenüber eine solche Zusicherung abgegeben habe.
Die Erörterung ging nun auf die Rheinfrageüber. Millerand erklärte: Um den Schweizern zu zeigen, dass wir ihnen nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten wohlwollen, sind wir bereit, die hängigen Fragen in aller Freundschaft zu besprechen. Dann kam er zunächst auf die Zollabfertigung in St. Ludwig (oder Basel) und in Pontarlier (oder Verrières) zu sprechen. Bundespräsident Motta führte aus, wir verlangen im Interesse des gegenseitigen Verkehrs, dass die Zollabfertigung im Verkehr mit dem Eisass nach wie vor in Basel stattfinde, womit Frankreich so gut wie uns gedient sei, und machte darauf aufmerksam, dass die Zollabfertigung in Verrières einem seit langem bestehenden Zustand entspreche, weshalb die Verlegung der Zollabfertigung nach Pontarlier längst konsolidierte Interessen verletzen würde, während zugunsten der Zollabfertigung in St. Ludwig solche Gründe nicht angerufen werden können. Millerand schien bereit, in bezug auf die Zollabfertigung in Basel nachzugeben.
Über die Rheinfrage äusserte Millerand sodann, er glaube, es sei sehr leicht, sich hierüber vollständig zu einigen, und er wisse nicht, inwiefern in dieser Frage sich die französischen und die schweizerischen Interessen widersprächen.
Bundespräsident Motta setzte dann unter scharfer Betonung des Umstandes, dass es sich noch nicht um eine definitive Stellungnahme handle, den bisherigen Standpunkt des Bundesrates in dieser Frage auseinander. Er hob hervor, dass die Schweiz in der Rheinzentralkommission vertreten sein müsse, und anerkannte das Entgegenkommen, das darin lag, dass dieses Recht, das der Schweiz kraft des Völkerrechts schon zustand, im Versailler Vertrag ausdrücklich anerkannt wurde. Sodann wurden die Bedenken der Schweiz gegen den Rheinseitenkanal hervorgehoben, dessen Erstellung allerdings theoretisch ohne Beeinträchtigung unserer Schiffahrtsinteressen denkbar sei, während die praktische Durchführung unter völliger Wahrung unserer Interessen Schwierigkeiten bieten werde. Jedenfalls müsste es der Rheinzentralkommission ermöglicht werden, die Seitenkanalprojekte daraufhin zu prüfen, ob sie eine Beeinträchtigung der Schiffahrt herbeiführen, und zwar müsste diese Prüfung vorgenommen werden können, bevor mit den Arbeiten am Kanal begonnen wird.
Millerand führte hierauf aus, das Recht Frankreichs, einen Seitenkanal zu erstellen, sei sonnenklar, der Versailler Vertrag lasse keine andere Deutung zu. Die Benützung eines Seitenkanals sei aber überdies für die Schiffahrt und damit auch für die Schweiz viel günstiger als die Benützung des Rheinbettes. Frankreich sei auch bereit, der Schweiz für die Benützung des Seitenkanals hinsichtlich der Freiheit der Schiffahrt und der Gebühren Bedingungen einzuräumen, die ihr dieselben Vorteile sichern wie die Schiffahrt auf dem Rheinbett. Er wies dann noch darauf hin, dass Deutschland seinerzeit einen Rheinseitenkanal erstellt habe, ohne dass die Schweiz dagegen Einspruch erhoben hätte.
Gegenüber dem Hinweis auf die Abhängigkeit der Schweiz von der Zufuhr aller möglichen Rohstoffe und Produkte aus ändern Ländern und ihr daheriges Lebensinteresse an einer freien Verbindung mit dem Meer betonte Millerand neuerdings, der Seitenkanal biete der Schiffahrt grössere Erleichterungen als der offene Rhein.
Zusammenfassend gibt der Bundespräsident der Auffassung Ausdruck, dass es, wenn die Schweiz. Schiffahrtskommission und die übrigen Interessentenkreise von der Richtigkeit des in der letzten Sitzung erörterten Vorgehens des Bundesrates in der Rheinfrage überzeugt werden könne, durch Absendung der damals im Entwurf vorgelegten Note an Frankreich gelingen werde, die Vertretung in der Rheinzentralkommission wieder zu erlangen, wobei ihr überdies die nötige Bewegungsfreiheit gewahrt bleiben werde.
Der Botschafter kam sodann auf die Fremdenfrage zu sprechen und drückte den Wunsch aus, die Schweiz möchte in der Zulassung Fremder etwas weitherziger sein. Der Bundespräsident nahm diesen Wunsch entgegen, wies aber gleichzeitig auf die Bedeutung des Überfremdungsproblems für die Schweiz hin, die einen höhern Prozentsatz an Fremden (15 %) als jedes andere Land und überdies eine derart ungleichmässige Verteilung der Ausländer auf das Land aufweise, dass die Fremden in gewissen Städten 40 % bis 50 % der Bevölkerung ausmachen. Das lasse es begreiflich erscheinen, dass die Schweiz auch im Hinblick auf die Wohnungsnot und die Arbeitslosigkeit in der Zulassung Fremder eine gewisse Zurückhaltung beobachten müsse. Im übrigen beweise gerade die grosse Zahl von Ausländern in der Schweiz, dass wir in dieser Hinsicht nicht engherzig seien.
Millerand anerkannte die Berechtigung dieser Erwägungen und erklärte, die grosse Zahl von Fremden in der Schweiz könne aber auch für ihre Nachbarn unangenehm werden, wenn sich darunter unerwünschte Elemente befinden. Er entschuldigt sich, dass er in diesem Zusammenhang auf die Frage der bolschewistischen Gefahr eingehe, und erklärte, er tue dies, ohne sich irgendwie einmischen oder einen Druck ausüben zu wollen. Allein es könne Frankreich nicht gleichgültig sein, denken zu müssen, dass die Sovietregierung eventuell in der Schweiz anerkannt würde und dass ein diplomatischer oder auch nur ein Handelsagent der Bolschewisten in der Schweiz empfangen würde. Denn diese Leute würden doch lediglich der Propaganda wegen entsandt. Gegen die Aufnahme von Handelsbeziehungen mit Russland durch Privatpersonen sei nichts einzuwenden, es bedürfe hiezu aber keiner Handelsagentur der Sovietregierung.
Der Bundespräsident führte dann aus, der Bundesrat habe der öffentlichen Meinung Gelegenheit gegeben, zu dieser Frage Stellung zu nehmen. Sie sei geteilt. Überdies habe der Bundesrat die Russlandschweizergenossenschaft und den Handels- und Industrieverein um eine Äusserung in dieser Angelegenheit ersucht.3 Nach Eingang der Antworten müsse er prüfen, ob nicht die Handelsinteressen so gross seien, dass man über gewisse, der Zulassung einer Handelsagentur der Sovietregierung entgegenstehende Bedenken hinweggehen könne. Aus seinen Besprechungen mit Giolitti und Lloyd George4 habe sich ergeben, dass die grossen Staaten in bezug auf diese Frage nicht einig gehen, so dass der Bundesrat sich seine volle Freiheit wahren müsse. Wenn vorauszusehen wäre, dass der Bolschewismus dem Absterben nahe sei, worauf die unentschiedene Haltung in der Grundbesitzfrage hinzudeuten scheine, so würde der Bundesrat natürlich nichts tun, um das Ansehen dieses Regimes zu stützen. Angesichts der heutigen völligen Abhängigkeit der Schweiz von Amerika in bezug auf die Getreidelieferungen müsse aber der Bundesrat das Problem der Zufuhren aus Russland scharf im Auge behalten.
Millerand gab hierauf die Meinung kund, der nächste Winter werde für die Herrschaft der Sovietregierung sehr gefährlich werden; das Bestreben nach Anknüpfung von Handelsbeziehungen mit dem Ausland diene nur dem Zweck, durch Hebung des äussern Prestiges den Niedergang des Ansehens der Sovietmacht im Innern zu verschleiern und die Stellung der Führer zu festigen.
Der Bundespräsident wies dann auf die Schwierigkeiten hin, auf die Schweizer stossen, die während des Krieges für die Schweiz optierten, wenn sie nach Frankreich zurückkehren wollen.
Millerand erklärte, man werde prinzipiell in Zukunft keine Schwierigkeiten machen, aber den einzelnen Fall genau prüfen.
Auch die Kohlenfrage wurde berührt, indem Vizepräsident Schulthess anregte, Frankreich möchte doch in der Bewilligung von Kohlenausfuhr aus Deutschland nach der Schweiz nicht allzu zurückhaltend sein, da diese Ausfuhr die finanzielle Situation Deutschlands zu kräftigen geeignet sei, was auch Frankreich dienlich wäre.
Millerand schien geneigt zu sein, diese Frage sehr wohlwollend zu prüfen.
Als Bundespräsident Motta auf die Beunruhigung anspielte, die eine Zeit lang sich der Schweiz wegen des Sitzes des Völkerbundes bemächtigt hatte, erklärte Millerand, die Schweiz könne in dieser Beziehung nunmehr vollkommen beruhigt sein.
Hinsichtlich der Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund erklärte Millerand, Deutschland müsse zuerst wirkliche Beweise seines Willens, den Versailler Vertrag zu erfüllen, geben. Sei dies geschehen, dann sei auch er der Meinung, dass Deutschland in den Völkerbund aufgenommen werden sollte. Und als Bundespräsident Motta bemerkte, die Lage in Deutschland sei sehr schlecht, und es erscheine als Pflicht aller, die gegenwärtige deutsche Regierung zu unterstützen, weil sie weder revanchebegierig noch imperialistisch gesinnt sei, gab Millerand dies zu, wies aber gleichzeitig darauf hin, dass mindestens in einem grossen Teil der deutschen öffentlichen Meinung immer noch der Gedanke der Rache gehegt werde.
Botschaft und Nuntiatur. Frage des Vortritts.
Der Botschafter hatte sich vor kurzem dahin geäussert, er persönlich wolle in dieser Frage keine Schwierigkeiten machen und dem Nuntius die Préséance zugestehen, wenn seine Regierung einverstanden sei. Nunmehr hat er die Nachricht erhalten, die franz. Regierung stehe auf dem Standpunkt, die Préséance der Nuntien sei nur für katholische Länder festgesetzt worden, was also für die paritätische Schweiz nicht gelte. Daher richte sie sich in der Schweiz nach der Zeit der Beglaubigung des Botschafters und des Nuntius. Derjenige der früher beglaubigt worden sei, habe auch den Vortritt.
Bundespräsident Motta stellte sich auf den Standpunkt, dass die beiden an der Frage zunächst Beteiligten, Frankreich und Vatikan, sich über die Lösung verständigen sollten. Wenn nicht, so müsste der Bundesrat die Frage, die in der Völkerrechtswissenschaft bestritten sei, genau prüfen. Als Minister Dinichert einwarf, es wäre sehr interessant zu wissen, welche Lösung die Frage in Frankreich selbst finden werde, war Millerand einen Augenblick stutzig, sagte dann aber, Frankreich sei, trotz der Trennung von Kirche und Staat, ein katholisches Land, so dass die Entscheidung der Frage in Frankreich für die Schweiz keine Bedeutung habe. Bundespräsident Motta schloss die Erörterung dieser Frage, indem er seinen Standpunkt mit den Worten unterstrich: «Mon vœu va à l’entente». Damit war die eigentliche Besprechung zu Ende. Beim Dîner wurden noch kleinere Fragen erörtert. Der Bundespräsident weist noch auf den Satz aus dem Toast Millerands hin, dass er das Gefühl habe, es lasse sich selbst da, wo die Auffassungen sich kreuzen oder aufeinander stossen, eine beide Interessen befriedigende Lösung finden.
Der Abschied am Bahnhof, wohin die Delegation des Bundesrates den franz. Ministerpräsidenten begleitete, war sehr herzlich, und sowohl Millerand als die Mitglieder des Bundesrates wurden von der Volksmenge lebhaft begrüsst.
Vizepräsident Schulthess fügt diesem Bericht noch folgendes bei:
Nach der Haltung Millerands sei die Vorschiebung des franz. Zollkordons an die politische Grenze unvermeidlich. Man müsse also suchen, in der Besprechung mit dem französischen Sachverständigen zu einer die Interessen Genfs bestmöglich wahrenden Lösung zu gelangen. Von einer weitgehenden Reziprozität, wie sie vom Bundesrat bis anhin in Aussicht genommen worden sei, könne jetzt allerdings um so weniger mehr die Rede sein, als Millerand ausdrücklich die Industrialisierung Hochsavoyens und den Ausbau seiner Wasserkräfte als hauptsächlichen Grund für die Aufhebung der Freizonen genannt habe. Es sei nur zu begrüssen, dass das Reziprozitätsangebot der Schweiz von Frankreich abgelehnt worden sei.
In der Rheinfrage hält Frankreich strikte am Seitenkanalprojekt fest, und Millerand fügte bei, dass der Kanal so rasch wie möglich gebaut werden soll.
Nun erhebe sich die Frage, ob der Bundesrat in den künftigen Verhandlungen über die Zonen seinen bisher verfochtenen Rechtsstandpunkt aufgeben, und ob er durch Absendung der in der letzten Sitzung vom politischen Departement vorgelegten Note5 auch in der Rheinfrage den Rechtsstandpunkt fallen lassen und den Versailler Vertrag tatsächlich für die Schweiz anerkennen soll. Die Konsequenz hieraus wäre in der Rheinfrage das Postulat, dass der Seitenkanal internationalisiert werden sollte, da mit der Ableitung des Wassers der Rhein als Grenzund Schiffahrtsfluss seine Bedeutung einbüsst und ganz französisch wird. Gibt der Bundesrat von sich aus den Rechtsstandpunkt auf, so wird man ihn der Schwäche zeihen, wenn schon ein vernünftiges Abkommen in der Zonenfrage dem Festhalten des Rechtsstandpunktes bei der Bedeutungslosigkeit der beiden kleinen Zonen tatsächlich vorzuziehen sei, und obgleich der Verlust der Schifffahrt auf dem Rhein zwischen Strassburg und Basel mit Rücksicht auf den schlechten Zustand des Rheinbettes nicht allzu tragisch genommen werden dürfe. Es wäre gut, wenn die beiden Fragen in der Bundesversammlung zur Sprache gebracht werden könnten, die sich den Erwägungen des Bundesrates kaum verschliessen würde.
Auch Bundesrat Chuard ist der Meinung, die Zonenfrage sollte zur Aufklärung der öffentlichen Meinung in den Räten zur Sprache gebracht werden. Das Wesentliche sei für uns nicht der formelle Rechtsstandpunkt, sondern die Erhaltung der gegenwärtigen wirtschaftlichen Vorteile Genfs, soweit dies immer möglich ist. Dagegen werde es nicht angehen, die Rheinfrage vor der Bundesversammlung anzuschneiden. Bundesrat Chuard verspricht sich viel von der Intervention der schweizer. Delegierten in der Rheinzentralkommission, wo sie mit den belgischen, holländischen und englischen Delegierten Zusammenarbeiten und etwas erreichen, jedenfalls aber Zeit gewinnen können. Eine vorzeitige Erörterung in den Räten würde unsere Delegierten verdächtig machen und sie eventuell ihrer Handlungsfreiheit berauben.
Bundesrat Scheurer führt aus, für ihn sei das Bedauerlichste, dass in den beiden grossen Fragen, die den Rat beschäftigen, der Schweiz Rechte entwunden werden, ohne dass sie bei den Abmachungen, auf denen diese Beschränkungen ihrer Rechtsstellung beruhen, auch nur gehört worden sei. Das kleine Land werde einfach von der Macht erdrückt, und die Siegerstärke setze sich unbedenklich über alle Verträge hinweg. Die Auswirkung dieses reinen Machtstandpunktes auch gegenüber der Schweiz werde in einem grossen Teil der Bevölkerung nur schwer ertragen werden, und die Haltung Frankreichs lasse im Volksempfinden auf lange Zeit einen Stachel zurück.
Bundespräsident Motta gibt zu, dass wir eine Verletzung unserer Rechte als kleiner Staat wesentlich schärfer empfinden, was zum Teil allerdings auch darauf zurückzuführen sei, dass wir ein wesentlich historisch eingestelltes Volks sind, das geneigt sei, jede Beeinträchtigung des geschichtlich Gewordenen zu überschätzen. Das zeige sich deutlich in der Frage des Verzichts auf die Neutralisierung Savoyens, die nach der weitüberwiegenden Auffassung der Einsichtigen eigentlich bedeutungslos sei und dennoch im Volksbewusstsein hoch eingeschätzt werde, seit von ihrer Aufgabe die Rede sei.
Schliesslich sei Art. 435 des Friedensvertrages denn doch auf Grund einer Verständigung mit der Schweiz zustande gekommen, und die jetzige bevorzugte Stellung der Schweiz im Völkerbund sei eines Opfers wohl wert.
Eine Regelung der Rheinfrage im Friedensvertrag mit Deutschland sei doch gar nicht zu umgehen gewesen. Der Anspruch der Schweiz auf den freien Rhein sei, wie Bundesrat Schulthess hervorhebt, schliesslich nirgends verbrieft und versiegelt, und auch eine öffentlich rechtliche Servitut könne das Eigentum am öffentlichen Gewässer in seiner wichtigsten Auswirkung, als welche heutzutage die Kraftgewinnung erscheine, nicht zunichte machen. Es wäre falsch, den beiden Fragen eine allzugrosse Bedeutung beizumessen, und es sei Pflicht des Bundesrates, den in dieser Beziehung auftretenden Übertreibungen entgegenzutreten.
Auf die Bemerkung von Vizepräsident Schulthess, der Rheinseitenkanal könnte vielleicht dadurch verhindert werden, dass man die Kosten seiner Erstellung und der daraus zu gewinnenden Kraft genau berechnete und dabei zu dem Schlüsse käme, es wäre für Frankreich vorteilhafter, die nötige Energie aus der Schweiz zu beziehen, weist Bundesrat Haab darauf hin, dass Frankreich hierauf kaum eingehen würde, weil es die Kanalkraft für den Betrieb seiner Eisenbahnen benötige, deren Kraftquelle es natürlich nicht ins Ausland verlegen könne. Überdies aber dürfte die Schweiz kaum in der Lage sein, auf die Dauer die von Frankreich benötigte Kraftmenge zu liefern.
Einmütig ist der Rat in der Verurteilung des Vorgehens des Staatsrates Gignoux von Genf, der mit Millerand die Zonenfrage vor seiner Zusammenkunft mit der Delegation des Bundesrates besprach und darüber in der Suisse ein Mitgeteilt erscheinen liess, worin er gewissermassen die Richtlinien festlegte, an die sich die Verhandlungen des Bundesrates halten sollten. Wenn es auch nicht angehe, die Haltung Gignouxs in einem Brief an den Staatsrat von Genf zu rügen, so müsse man doch dem Genannten persönlich, anlässlich der nächsten Session der eidg. Räte, das Ungehörige seines Vorgehens begreiflich machen und könne hierüber eventuell auch in der Diskussion über die Zonenfrage einen Tadel einfliessen lassen.
Gegenüber der Bemerkung von Bundesrat Scheurer, das für den Bundesrat beschämende Verhalten Gignouxs zeige die Schwäche der innerpolitischen Stellung des Bundesrates und dass diese Schwäche im Ausland wohlbekannt sei, wirft Bundespräsident Motta ein, das treffe nun doch gerade bei der Zonenfrage nicht zu, wo Genf nicht für die Eidgenossenschaft, wohl aber der Bund für Genf kämpfe und das Ziel für Bund und Genf materiell das Gleiche sei. Das Ausland könne also in dieser Frage nicht den Kanton gegen den Bund oder den Bund gegen den Kanton ausspielen.
- 1
- E 1005 2/1.↩
- 2
- Non reproduites, cf. E 2200 Paris 1/1581.↩
- 3
- Cf. no 392.↩
- 4
- Il semble qu’il n’existe pas de notices sur ces entrevues qui ne devaient avoir aucun caractère d’apprêt (E 1004 1/276 no 2111). Enrevanche, la lettre politique du 25 août 1920 adressée par le Département politique aux Légations de Suisse résume ces entrevues ainsi: Les journaux suisses vous ont tenu au courant de l’entrevue entre M. Lloyd George et M. Giolitti, à Lucerne. Le Premier-Ministre britannique prolonge encore son séjour en Suisse. Quant à M. Giolitti, il a manifesté le désir de se rencontrer avec M. le Président de la Confédération. A son retour en Italie qui, par suite de l’interruption de trafic due à des inondations au Tessin, a dû s’effectuer par le Lötschberg, M. Giolitti s’est arrêté, pendant un quart d’heure, en gare de Berne, où M. Motta est allé le saluer. La presse suisse, en particulier le «Bund», donne, à ce propos, des renseignements assez détaillés. En dehors des compliments d’usage, M. Giolitti s’est félicité des excellents rapports qui régnent actuellement entre la Suisse et l’Italie, et il a déclaré que, vu la communauté des intérêts, son pays a toujours appuyé et appuyera aussi, dans l’avenir, la Confédération, dans sa politique de neutralité et dans la question du siège de la Société des Nations. Quant à la politique générale, le Président du Conseil a déclaré qu’on n’entendrait jamais de sa bouche que des paroles d’apaisement et de pacification. Il est resté muet sur les arrangements pris avec son collègue anglais. [...] (E 2001 (D) c 1).↩
- 5
- Cf. no . 400.↩
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