Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 6, doc. 293
volume linkBern 1981
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#893* | |
Old classification | CH-BAR E 2300(-)1000/716 394 | |
Dossier title | Rom, Politische Berichte und Briefe, Militärberichte, Band 17 (1917–1917) | |
File reference archive | 147 |
dodis.ch/43568
Ich war heute bei Baron Sonnino, um von ihm zu hören, wie er die allgemeine Lage beurteile, und um ihm die Frage vorzulegen, ob er den Augenblick nicht für gekommen erachte, um ernstlich die Frage einer internationalen Verständigung in Betracht zu ziehen.
Veranlasst war ich zu diesem Schritte durch die Tatsache, dass man in Rom in allen Kreisen an die Wahrscheinlichkeit eines baldigen Kriegsendes glaubt und auch ganz offen davon spricht und dass der schwedische Gesandte sich in den letzten Tagen sehr bestimmt dahin ausgesprochen hat, dass die Nachrichten, die er aus Stockholm erhalten habe, übereinstimmend dahin lauten, dass Russland durchaus reif sei für einen Sonderfrieden. Endlich hatte ich durch einen hiesigen sozialistischen Abgeordneten gehört, dass die italienischen Sozialisten Delegierte nach Russland geschickt hätten, um in Verbindung mit den österreichischen und deutschen Delegierten die Grundlage für einen Frieden vorzubereiten. Dieser gleiche Deputierte versicherte, dass die einlaufenden Berichte aus Russland keinen Zweifel darüber zulassen, dass der Krieg dort in Bälde ein Ende nehmen müsse.
Baron Sonnino erklärte, dass er den Augenblick für Friedesunterhandlungen noch nicht für gekommen erachte, dass er aber mehr als je das Kriegsende im Herbst als wahrscheinlich erachte («probable, même très probable»). Trotz der Hilfe aus Amerika vergrössere sich die Sorge wegen der Verschuldung aller Staaten mehr und mehr und wachsen die Schwierigkeiten der Versorgung des Landes mit Lebensmitteln und Rohmaterialien in bedenklicher Weise; für Italien liege zur Zeit die grösste Schwierigkeit in der Zufuhr von Kohle. Ähnliche Schwierigkeiten zeigen sich in allen Ländern und müssten zur Überlegung führen, dass es äusserst gefährlich wäre, einen vierten Kriegswinter heraufzubeschwören. Soweit die Entente in Betracht falle, sei die Geneigtheit zu einem raschen Friedensschluss jetzt weniger gross als noch vor einigen Wochen. Der Eintritt Amerikas in den Krieg habe einerseits die Zuversicht auf ein siegreiches Ende ganz wesentlich gehoben und anderseits die Sorge wegen der Finanzen verringert. Er habe durchaus nicht den Eindruck, dass der Beitritt Amerikas zur Entente den Frieden rascher herbeiführen werde. Anfänglich sei er sehr im Zweifel gewesen, ob dieser Beitritt im Interesse der Sache der Alliierten zu wünschen sei, denn er habe angenommen, dass die Vereinigten Staaten einen Krieg auf eigene Rechnung führen und sich um die Interessen der Alliierten wenig kümmern werden. Auch habe er gefürchtet, dass Wilson sich in erster Linie nur von dem Wunsche leiten lassen werde, den Krieg so zu führen, dass er baldmöglichst zum Frieden führen müsse, und zwar zu einem Frieden, bei welchem die Vereinigten Staaten Europa ihren Willen aufzwingen würden. Diese Befürchtung sei nunmehr geschwunden, denn es könne kein Zweifel mehr darüber bestehen, dass Wilson den Krieg im engen Anschluss an die Entente führen wolle und dass er erkannt habe, dass die Interessen Amerikas nicht befriedigt werden können, sofern nicht die ganze Entente siegreich bleibe. Die Begeisterung, mit welcher das amerikanische Volk den Krieg aufgenommen habe, lasse kaum einen Zweifel darüber bestehen, «que l’Amérique donnera tout ce qu’elle pourra pour la cause des Alliés». Und als ich einwarf, dass es Wilson im gegebenen Augenblick doch einfallen könnte, sein «Bis hierher und nicht weiter» ertönen zu lassen, meinte der Minister lächelnd: «Wir wissen aus eigener Erfahrung, wie schwer es hält, die Geister im Zaume zu halten, wenn sie einmal losgebrochen sind». Sonnino scheint anzunehmen, dass Wilson nicht mehr Herr sei über die Situation, die er selbst geschaffen habe, und dass er das Ende des Krieges nicht mehr gebieten könne, ohne auf einen vollen Erfolg hinweisen zu können. Die Offenheit, mit welcher der Minister auf die Vorgänge anspielte, welche sich im Frühjahr 1915 hier in Rom und in ganz Italien abgespielt haben, hat mich eigentlich überrascht, denn es lag darin doch das Bekenntnis, dass er selbst durch die Ereignisse weiter getrieben worden sei, als er gewollt hatte. Die Geister, die ich rief, die werde ich nicht mehr los! So erklärt sich die Kriegserklärung an die Türkei und an Deutschland, die Konfiskation des Palazzo Venezia, die Ausdehnung des Krieges auf den Balkan und manches andere! Das alles lag offenbar nicht im ursprünglichen Plane, als das Ministerium Salandra-Sonnino im Mai 1915 die Demonstrationen gegen Giolitti und für den Krieg in Szene setzte. Ich habe seither oft feststellen müssen, wie schwer es dem Minister des Auswärtigen geworden ist, die damals geweckten Leidenschaften zu zügeln und Massnahmen zu verhindern, welche von jenen Massen ungestüm verlangt wurden und noch werden.
Sosehr also der Minister heute davon überzeugt ist, dass der Eintritt Amerikas in den Weltkrieg der Sache der Alliierten grossen Vorschub geleistet habe, sowenig verschweigt er die Bedenken, welche er hegt hinsichtlich der Entwicklung der Dinge nach dem Kriege; er sieht mit unverhohlener Sorge die Hegemonie Amerikas kommen und erwartet davon nichts Gutes für die Alte Welt.
Über die Verhältnisse in Russland schien Sonnino nicht viel mehr zu wissen als die Zeitungen. Er habe den Eindruck, dass die provisorische Regierung ihre Stellung allmählich befestige und dass die Lage im allgemeinen sich beruhige. Als sehr gutes Symptom betrachtet er die Übertragung des Generalkommandos an General Alexejew und die Tatsache, dass dieser Akt nirgends auf ernstlichen Widerstand gestossen sei. Am unsichersten sei die Lage immer noch in Petrograd selbst. Sonnino glaubt nicht daran, dass Russland einen Separatfrieden schliessen werde, und ist überzeugt, dass gerade in Russland der Beitritt Amerikas der Sache der Entente am meisten nützen werde, weil in Russland das Geld zur Zeit am meisten nottue und weil dieses Geld aus Amerika reichlich fliessen werde für das «befreite Russland».
Augenblicklich und wohl noch für einige Monate werde Russland militärisch nicht viel unternehmen können, aber dieses Manko in der Rechnung der Alliierten werde reichlich ausgeglichen durch die neuesten militärischen Erfolge der Engländer und Franzosen in Frankreich, die um so höher anzuschlagen seien, als die Deutschen ihren sogenannten strategischen Rückzug als Ausgangspunkt für neue entscheidende Kampfhandlungen angekündigt hätten.
Der Beweis sei nun erbracht, dass die Deutschen da, wo sie nicht freiwillig zurückgegangen seien, gewaltsam vertrieben werden können.
Als ich darauf hinwies, dass gerade die Vorgänge in Amerika und die Erfolge der Alliierten in Frankreich den Grund bilden könnten, um Verhandlungen über eine Verständigung anzuknüpfen, indem die Zentralmächte jetzt eher geneigt sein dürften, ihre Ansprüche weitgehend herabzusetzen, meinte der Minister, jetzt sei der Augenblick noch nicht gekommen, aber es sei gar nicht unmöglich, dass er früher kommen werde, als man bisher angenommen habe, wenn die Situation sich in bisheriger Weise weiterentwickeln würde.
Ich verwies dann noch auf die Gefahren, welche ganz Europa aus den Vorgängen in Russland erwachsen, und auf die Wünschbarkeit, dass genügend Kräfte erhalten werden, um zu gegebener Zeit gegen den Ansturm der Revolution anzukämpfen, worauf der Minister bestätigte, dass auch er die Zukunft recht trübe sehe und dass diese Überlegung für ihn ein Grund mehr sein würde, um zu einer Verständigung Hand zu bieten.
Über das Entgegenkommen, welches Kaiser und Kanzler in Deutschland den linksstehenden Elementen erweisen, urteilte der Minister ziemlich abschätzig: Es sei eine unnatürliche Allianz, die sich da vollziehe, um augenblickliche Gefahren abzuwenden und unmittelbare Erfolge zu suchen: «Ces messieurs s’en repentiront après la guerre.» Mir schwebte bei diesem Gespräch das Gespenst der «schwarzroten Allianz» vor Augen, welches in unserer internen Politik seinerzeit eine so grosse Rolle gespielt hat, ohne doch je das Unheil gebracht zu haben, das man vorausgesagt hatte!
Als ich das Gespräch auf die Lage in Griechenlandlenkte, wurde Sonnino merklich wortkarger, aber er Hess doch deutlich durchblicken, dass er die dortige Lage mit weit weniger Zuversicht ansieht als vor 14 Tagen anlässlich unserer letzten Besprechung. Er klagte über die unversöhnliche Haltung Frankreichs und bezeichnete die Behandlung der Griechen als eine Ungerechtigkeit. Auf meine Frage, ob er immer noch daran glaube, dass der Blocus demnächst aufgehoben werde, antwortete er ohne Umschweife: «Franchement, je n’y crois plus» und fügte bei, dass er nach wie vor ein Gegner dieses Verhaltens sei, dass er aber bei den Alliierten in dieser Frage nichts ausrichten könne. Obwohl der Minister mit keinem Worte von den tiefer liegenden Ursachen der Verstimmung sprach, konnte ich doch aus dem Wenigen, das er sagte, das Vorhandensein dieser Verstimmung erkennen.
Schliesslich glaube ich, noch mitteilen zu sollen, dass die Königin Helene, welche meine Frau und mich letzter Tage in Audienz empfangen hat, auch die Überzeugung aussprach, dass der Friede rascher kommen werde, als man erwarte. Sie war natürlich sehr in Sorge um ihre Verwandten in Russland - zwei ihrer Schwestern sind an Grossfürsten verheiratet -, sprach aber doch die Ansicht aus, dass die Erregung in Russland sich einigermassen beruhigt habe, so dass keine unmittelbare Gefahr mehr bestehe für die Mitglieder der kaiserlichen Familie. Anspielend auf das in ganz Rom umlaufende Gerücht, dass der König hochgradig nervös sei, bemerkte die Königin: «Il se porte à merveille.» Diese Tatsache ist mir übrigens in den letzten Tagen auch durch einen Offizier aus dem persönlichen Gefolge des Königs bestätigt worden.
- 1
- Rapport politique: E 2300 Rom, Archiv-Nr. 17.↩
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