Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 6, doc. 6
volume linkBern 1981
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2200.40-05#1000/1624#2* | |
Old classification | CH-BAR E 2200.40-05(-)1000/1624 1 | |
Dossier title | Rapports politiques: Sorties (1914–1914) | |
File reference archive | I.B • Additional component: Grossbritannien und Nordirland |
dodis.ch/43281
Im Nachgang zu den chiffrierten Telegrammen, die ich Ihnen gestern und heute sandte, beehre ich mich, Ihnen noch einige Einzelheiten zu geben.
Der österreichisch-ungarische Botschafter rechtfertigt das Vorgehen seiner Regierung durch das Verhalten Serbiens, das seit der Ermordung des österreichischen Thronfolgers nichts getan habe, um Österreich-Ungarn entgegenzukommen. Das Serbien gestellte Ultimatum sei allerdings sehr weitgehend gewesen, aber man dürfe nicht vergessen, dass es sich um einen nur halb zivilisierten Staat handelt, der nicht die Behandlung verdiene, die z.B. der Schweiz oder Belgien zuteil geworden wäre. Hier möchte ich parenthetisch beifügen, dass im Wolgemuth-Zwischenfall Bismarck von der Schweiz auch als ein «halb wildes Land» sprach. Was Russland anbelangt, fügte Graf Mennsdorf bei, so sei seine Entrüstung nicht begreiflich, nachdem Österreich keinerlei territoriale Ausdehnung verfolge, sondern nur die Züchtigung Serbiens im Auge habe.
Der serbische Gesandte seinerseits sagt, nichts sei jedem serbischen Bauern verhasster als ein Österreicher oder Ungar und nichts wäre in seinem Lande volkstümlicher als ein Krieg gegen die Doppel-Monarchie. Wie ich aus eigener Beobachtung weiss, muss zugegeben werden, dass die Art und Weise, wie Österreich-Ungarn die Balkanländer behandelt, in höchstem Masse verletzend ist. Selbst bei den freundlichen Anlässen wird seitens Österreich, diesen Staaten gegenüber, stets nur von «Wohlwollen» gesprochen, nie von Freundschaft, und immerfort wird die Nachricht und die Macht der Stärkern dem Schwächeren gegenüber herausgekehrt.
Mit Ausnahme von Österreich, wird hier allseitig anerkannt, dass Serbien in seiner Antwort ganz ausserordentlich den Ansprüchen Österreichs entgegenkam und für einen souveränen Staat eher zu viel als zu wenig tat. Dies ist auch die Auffassung des hiesigen auswärtigen Amts, das deshalb mit verdoppeltem Eifer, gemeinschaftlich mit Russland und Frankreich, daran arbeitet, Österreich zur Annahme einer Mediation zu bewegen. Glücklicherweise zeigt sich Wien jetzt weniger abgeneigt, auf eine Vermittlung einzugehen als gestern und vorgestern, und dass bisher noch keine kriegerischen Massnahmen gegen Serbien ergriffen wurden, wird günstig gedeutet. Solange dies nicht geschehen ist, sagte mir heute morgen Sir ArthurNicolson, Unter-Staatssekretär des Äussern, liegt begründete Hoffnung vor, dass ein allgemeiner europäischer Krieg vermieden werden kann.
Sollte Österreich kriegerisch gegen Serbien vorgehen und nicht vorläufig bei dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen stehen bleiben, so würde voraussichtlich, wie mir der russische Botschafter sagte, Russland intervenieren müssen und der allgemeine Krieg wäre da. Inzwischen bereitet sich jedes Land für jede Eventualität vor, und Grossbritannien hält seine erste Flotten-Abteilung, die in Portland versammelt ist, aber auseinandergehen sollte, zusammen, und die Schiffe der zweiten Abteilung bleiben in den ihnen zugeteilten heimatlichen Häfen, mit der Zusatzbemannung in Bereitschaft.
Noch will ich beifügen, dass die mir gestern vom österreichischen Botschafter gegebene Nachricht, die Brücke von Semlin nach Belgrad sei abgebrochen, sich nicht bestätigt und dass mir, sowohl der französische Geschäftsträger als Sir A. Nicolson sagten, es sei materiell rein unmöglich, dass, wie gewisse Zeitungen heute morgen meldeten (hier die Morning Post), der deutsche Kaiser und Präsident Poincaré zu geheimer Besprechung der Lage in Stockholm zusammengetroffen seien. Die wiederholten Schritte, die der deutsche Botschafter in Paris getan hat, legt man hier so aus, dass Russland durch das verbündete Frankreich möglichst zurückgehalten werden möge.
Die englische Presse befleisst sich grösster Unparteilichkeit; sie verhält sich Österreich-Ungarn gegenüber ungleich freundlicher als zur Zeit der Einverleibung Bosniens und der Herzogovina.
Im grossen ganzen scheint die Lage heute, wie ich Ihnen telegraphierte, weniger bedenklich als gestern. Alles hängt nun von Österreich ab. Greift es Serbien nicht an, so kommt es zu keinem allgemeinen Krieg; geht es jedoch militärisch gegen Serbien vor, so wäre ein solcher Krieg allerdings in gefährliche Nähe gerückt. Jeder Tag Zuwartens ist aber ein Gewinn, weil die vermittelnden Staaten inzwischen ihre Anstrengungen zur Erhaltung des Friedens fortsetzen können. Sir ArthurNicolson glaubt nicht, dass irgendeine Grossmacht, Österreich-Ungarn inbegriffen, die Verantwortung der Entfesselung eines allgemeinen europäischen Krieges bei einem Anlass wie dem vorliegenden zu übernehmen bereit wäre.
- 1
- Rapport politique (Copie): E 2200 London 24.↩
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United Kingdom (Politics) Austria-Hungary (Politics)