Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
II. BILATERALE BEZIEHUNGEN
8. Frankreich
8.5. Savoyerfrage
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Documents Diplomatiques Suisses, vol. 5, doc. 382
volume linkBern 1983
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Archives | Archives fédérales suisses, Berne | |
Cote d'archives | CH-BAR#E1004.1#1000/9#10582* | |
Titre du dossier | Beschlussprotokoll(-e) 26.09.-27.09.1913 (1913–1913) |
dodis.ch/43237 Protokoll der Sitzung des Bundesrates vom 26. September 19131 A611&. Savoyerfrage. Neutralitätserklärung
I. Bei Ausbruch eines Krieges zwischen Nachbarstaaten der Schweiz wird der Erlass einer Neutralitäts-Erklärung eine der ersten Sorgen des Bundesrates sein müssen.
Angesichts der unsicheren politischen Lage in Europa hat es sich das politische Departement daher schon seit einiger Zeit, gemeinschaftlich mit dem Militärdepartement und dessen Generalstabsabteilung, angelegen sein lassen, eine solche Erklärung vorzubereiten. Das Ergebnis dieser gemeinsamen Untersuchung legt das politische Departement in seinem Berichte vom 22. Mai 19132 dem Bundesrate vor.
Dem Berichte des politischen Departements sind beigegeben:
Ein Schreiben des Militärdepartements vom 7. April 19133;
ein Bericht des Chefs der Generalstabsabteilung des Militärdepartements vom Februar 19134, und schliesslich
ein von Herrn Bundesrat Müller verfasstes Pro Memoria über die Savoyerfrage, vom Dezember 1896/Januar 18975.
II. Die Hauptfrage, die bei dem Erlasse einer Neutralitätserklärung zu entscheiden ist, ist die: Wie soll sich der Bundesrat zur Neutralität Hochsavoyens verhalten? Es ist ohne Zweifel nur nützlich, wenn der Bundesrat diese Frage, auch abgesehen von der Neutralitätserklärung, schon in Friedenszeiten prüft, damit er nicht von den Ereignissen überrascht werde.
Die Neutralität Hochsavoyens beruht, wie angedeutet werden mag, auf folgenden internationalen Abmachungen und Erklärungen: Erklärung der Mächte vom 29. März 1815; Beitritts-Urkunde der schweizerischen Tagsatzung vom 12. August 1815; Wiener Schlussakte vom 9. Juni 1815 (Art. 92); Pariser Friede vom 20. November 1815 (Art. III); Urkunde der Mächte über Anerkennung und Gewährleistung der schweizerischen Neutralität vom gleichen Tage, und der Turiner Vertrag vom 16. März 1816 (Art. 7). Anlässlich der beiden Kriege zwischen Nachbarstaaten in den Jahren 1859 und 1870 hat der Bundesrat in den damals von ihm erlassenen Neutralitäts-Erklärungen (N. B. im Jahre 1866 wurde keine Neutralitätserklärung erlassen, vergl. Botschaft vom 4. Juli 1866, Bundesblatt 1866, Band 2, p. 224) die Ausdehnung dieser Neutralität auch auf Savoyen ausdrücklich ausgesprochen. Soll dies in einem zukünftigen Konflikt wieder geschehen?
Diese Frage ist zu bejahen und zwar aus folgenden Gründen:
Unterlässt der Bundesrat die Erwähnung der Verhältnisse in Hoch-Savoyen bei Anlass einer solchen Neutralitätserklärung, so gibt er damit zu erkennen, dass er diese Neutralität als hinfällig geworden betrachtet. Dieser Schluss wäre um so gerechtfertigter, als eben in den Neutralitäts-Erklärungen vom 14. März 1859 (Bundesblatt 1859, I, p. 242) und vom 18. Juli 1870 (Bundesblatt 1870, III, p. 10) die Neutralität von Hochsavoyen ausdrücklich Vorbehalten wird.
Es kann allerdings die Frage aufgeworfen werden, ob die Schweiz überhaupt noch ein Interesse an der Aufrechterhaltung dieses völkerrechtlichen Servituts hat, zumal da, wie aus dem Berichte des Chefs der Generalstabsabteilung (vergl. Bericht Sprecher p. 14, 22, 27) hervorgeht, diese Neutralität in militärischer Beziehung für die Schweiz nur von geringem Werte sein und ihr gegebenenfalls sogar die grössten Schwierigkeiten bereiten kann. Für letzteres Bedenken kann auf die Verhältnisse vom Jahre 1887 verwiesen werden, wie sie in dem Pro Memoria des Herrn Bundesrat Müller über die damaligen Unterhandlungen (namentlich p. 23 ff.) dargelegt sind.
Demgegenüber muss hervorgehoben werden, dass die Neutralität Hochsavoyens sich nicht nur als ein Verhältnis zwischen der Schweiz und Frankreich darstellt, sondern dass sie durch einen europäischen Kongress geschaffen worden ist. Die übrigen Vertragsstaaten könnten daher nicht ganz ohne Grund gegen einen Verzicht schweizerischerseits protestieren, obgleich sie es wahrscheinlich auch nur dann tun würden, wenn die Aufrechterhaltung dieser Neutralität in ihrem Interesse läge. Übrigens kann auch nicht von vorneherein gesagt werden, dass Frankreich ohne Widerrede einen Verzicht von Seiten der Schweiz hinnehmen würde. Es herrscht allerdings gegenwärtig daselbst die Tendenz, die Neutralität Hochsavoyens als eine veraltete und hinfällig gewordene Institution darzustellen (vergl. Bericht Sprecher, pag. 11 und neuerdings: I. Trésal: L’annexion de la Savoie à la France. Paris 1913, p.321ff. in der Bibliothek des politischen Departements). Doch zeigen gerade die Verhandlungen vom Jahre 1887 (vergl. Memorial p. 88), dass Verhältnisse nicht auszuschliessen sind, welche Frankreich veranlassen können, aus eigenem Interesse für den Fortbestand der Neutralität einzutreten. Erwähnt die Schweiz die letztere in ihrer Erklärung an die Mächte, so kann ihr niemand den Vorwurf machen, sie hätte irgend eine Neuerung unternommen. Dass das internationale Servitut auf Hochsavoyen heute wirklich noch besteht, darüber kann kaum ein Zweifel herrschen. Es genügt, hiefür daran zu erinnern, dass beim Übergang der Provinz an Frankreich im Jahre 1860 im Turiner Vertrag vom 24. März diese Neutralität von Sardinien Vorbehalten und von Frankreich übernommen worden ist, dass sie anno 1870 in unserer Neutralitätserklärung unbeanstandet miterwähnt worden ist; dass sie von Frankreich neuerdings durch die Note vom 14. Dezember 1883 (MontVuache)6 und durch die im Jahre 1887 geführten Verhandlungen7 als bestehend anerkannt wurde. Seit dieser Zeit haben sich die Verhältnisse nicht geändert.
Es ist ferner nicht ganz ausgeschlossen, dass diese an sich vielleicht wertlose Neutralität Hochsavoyens doch in gewissen Fällen als ein Aktivum in der Bilanz der Eidgenossenschaft aufgeführt und als solches gegen andere, greifbarere Vorteile ausgetauscht werden könnte. Einen solchen Aktivposten darf die Schweiz nicht von vorneherein, ohne einen Gegenwert dafür zu erhalten, fahren lassen (vergl. Bericht Sprecher p. 14, 22, 23 und 27).
Da nun der Bundesrat der Ansicht ist, dass die Neutralität Hochsavoyens weiterbesteht, und dass dieselbe in einer Neutralitätserklärung bei einem Krieg zwischen Nachbarmächten zu erwähnen sein wird, so ist es notwendig, sich zunächst über die Tragweite der der Schweiz hieraus erwachsenden Aufgaben, soweit dies zum voraus möglich ist, Klarheit zu verschaffen, wobei es dem Bundesrate als durchaus wünschenswert erscheinen muss, jetzt schon, d. h. zu einer Zeit, wo solche Angelegenheiten mit ruhigem Blut und in aller Musse geprüft werden können, die allgemeinen Richtlinien seiner Politik und namentlieh auch den Text der Neutralitätserklärung in bezug auf Hochsavoyen, durch welchen diese Richtlinien teilweise schon bedingt sind, festzulegen.
III. Der Chef der Generalstabsabteilung hat nun in seinem eingangs erwähnten Berichte vom Februar 1913, dem das politische Departement auch in politischer und staatsrechtlicher Beziehung nur wenig glaubt beifügen zu müssen, die sich politisch und militärisch ergebenden Fragen geprüft, Schlussfolgerungen aufgestellt und das gewonnene Resultat in 4 Anträgen zusammengefasst.
Diese Schlusssätze mit den Bemerkungen des politischen Departements lauten wie folgt:
Ad Schlusssatz 1). «Die Schweiz hält an ihrem Rechtsanspruch auf die Neutralität Hochsavoyens im Kriegsfall der Nachbarmächte, gemäss den Verträgen von 1815, fest.» - Keine Bemerkung.
Ad Schlusssatz 2). «Sie beansprucht demgemäss, wie ihre Behörden es bisher in allen amtlichen Erklärungen ausgesprochen haben, ein Recht zur allfälligen Besetzung des neutralisierten Gebietes von Savoyen, lehnt jedoch jede Pflicht zur Besetzung ab.»
Wie das Militärdepartement mit Recht bemerkt, sollte der hier hervorgehobene Gegensatz zwischen Recht und Pflicht zur Besetzung auch in den Anträgen seinen Ausdruck finden; wir haben daher den Text der Anträge sub 1 und 2 entsprechend modifiziert. Die Frage, ob die Schweiz eine Pflicht oder nur ein Recht zur Besetzung Hochsavoyens habe, hat schon viel Tinte fliessen machen; wir verweisen auf die in der Beilage erwähnte Litteratur, auf das Memorial Müller (p. 62 ff.) und auf den Bericht des Herrn Oberst von Sprecher (p. 2 ff.). So viel steht fest: wenn auch theoretisch gewisse Argumente im Sinne einer Verpflichtung der Schweiz zur Besetzung geltend gemacht werden können (z.B. unter Hinweis auf den Wortlaut des Art. 7 des Turiner Vertrages vom 16. März 1816), so ist andererseits die gegenteilige Ansicht, dass der Schweiz wohl ein Besetzungsrec/tf, aber keine Besetzungs/?/Z/c/if zukomme, eine historisch viel besser begründete. Unter diesen Umständen soll u. E. der Bundesrat von dem von ihm öffentlich stets eingenommenen Standpunkte nicht weichen, dass nämlich die Besetzung Hochsavoyens ein Recht, nicht aber eine Pflicht der Schweiz sei. Die Besetzungsp/?/c/zf birgt so viele Gefahren in sich, dass der Bundesrat, wenn der gegenteilige Standpunkt irgendwie vertretbar ist (und das ist er), ihn unter keinen Umständen verlassen darf. Der im Jahre 1887 begangene Weg darf nicht wieder betreten werden. Schon der Text des Art. 92 der Wiener Schlussakte sagt, dass im Kriegsfälle Hochsavoyen von Truppen keiner Macht besetzt werden solle «sauf celles que la Confédération Suisse jugerait à propos d’y placer». In der schweizerischen Beitrittsurkunde vom 12. August 1815, Art. 2, heisst es: «Si la Confédération (ainsi que l’acte du Congrès lui en laisse la faculté) jugeait alors convenable d’y placer des troupes etc.» Dass der etwas zweideutige Text des Art. 7 des Turiner Vertrages auch keine Besetzungsp/Z/c/tf der Schweiz auferlegen sollte, geht schon aus den Äusserungen des schweizerischen Unterhändlers, Pictet de Rochemont, selbst hervor. (Ed. Pictet: Biographie, travaux et correspondance de C. Pictet de Rochemont. Genève 1892, p. 363). «Je lui dis (à Montiglio, négociateur sarde) que l’occupation n’avait été entendue que dans un sens facultatif et que facultative elle resterait». Öffentlich hat der Bundesrat diesen Standpunkt vertreten in der Neutralitätserklärung vom 14. März 1859 sowohl als in derjenigen vom 18. Juli 1870; die Unterhandlungen von 1887 dagegen, bei welchen sich der Bundesrat zur gegenteiligen Ansicht hatte bekehren lassen, sind weder zu einem Abschlüsse gelangt, noch haben sie zu öffentlichen Erklärungen geführt. Die Handlungsfreiheit des Bundesrates ist also in dieser Beziehung vollkommen gewahrt. In betreff der Gefahren, die eine Besetzungspflicht mit sich bringen würde, verweisen wir auf die Ausführungen in dem Memorial Müller und in dem Berichte des Chefs der Generalstabsabteilung.
3). Ad Schlusssatz 3: «Sie wird dieses Recht nur im Interesse der eigenen Sicherheit und der Integrität ihres Gebietes ausüben, zu der Zeit, mit den Kräften und in dem Umfange, wie dieser Zweck es erfordert und die allgemeine Lage es zulässt. Die Besetzung zum Zwecke einer blossen Demonstration ist von vorneherein auszuschliessen.»
Dieser Satz kann auch vom Gesichtspunkte des politischen Departements aus gutgeheissen werden; die Gefahren der blossen Demonstration sind zu gross, um die Vornahme einer solchen ins Auge zu fassen. Es müssten schon ganz besondere Verhältnisse eintreten, etwa am Schlüsse eines Krieges, wo die kriegführenden Nachbarmächte erschöpft wären, um ein solches Wagnis mit bestimmten politischen Absichten zu gestatten (siehe Memorial Müller p. 127ff.).
4). Ad Schlusssatz 4, Absatz 1: «Es ist zu wünschen, dass über die Beziehungen zwischen den Okkupationstruppen einerseits, der französischen Verwaltung und der savoyischen Bevölkerung anderseits, der Besetzung vorausgehend, eine Verständigung mit Frankreich direkt getroffen werde, oder dass die Garantiemächte von 1815, im Einverständnis der Nächstbeteiligten, in genannter Hinsicht die Bedingungen einer Okkupation festsetzen. - Die Schweiz kann aber die Ausübung ihres Rechtes nicht vom Zustandekommen einer solchen Verständigung abhängig machen.»
Es ist eine wichtige Frage, ob der Besetzung des neutralisierten Teiles von Savoyen eine Verständigung mit Frankreich vorauszugehen haben werde. Der Verfasser des Memorials neigte früher eher zur Ansicht, dass eine Okkupation, welcher keine Verständigung mit der Landesregierung des neutralisierten Gebietes vorangegangen wäre, kaum denkbar sei (siehe Memorial p. 73ff., 104). Es ist je und je von Sardinien sowohl als von Frankreich der Anspruch erhoben worden, dass einer Besetzung eine Verständigung vorauszugehen habe; historisch kann dieser Anspruch mit ziemlich starken Argumenten begründet werden; Frankreich würde auch voraussichtlich in Zukunft, wie im Jahre 1887, auf eine vorgängige Verständigung dringen, nur darf, wie auch schon im Memorial (p. 81) hervorgehoben wurde, dieser Anspruch nicht zum Vorwande dienen, um das Besetzungsrecht illusorisch zu machen. Das politische Departement stimmt daher mit dem Chef der Generalstabsabteilung überein (siehe Bericht p. 12), wenn er nicht weiter gehen will, als bis zur Erklärung: die Schweiz sei allfällig bereit, über die Art der Besetzung, das Verhältnis zu den Zivilbehörden und dergl. zu verhandeln, könne aber das Recht zur Besetzung nicht vom Ergebnis dieser Verhandlungen abhängig machen. Der Text der Neutralitätserklärung wird daher auch dementsprechend gewählt werden müssen, und wir neigen einer der Erklärung vom 14. März 1859 ähnlichen Redaktion zu; es heisst daselbst: «Le Conseil fédéral déclare qu’il s’efforcera de se mettre d’accord avec le Gouvernement de S.M. le Roi de Sardaigne au sujet des conditions spéciales d’une telle occupation». In der Notifikation vom 18. Juli 1870 lautete der betreffende Passus dagegen: «toutefois il (le Conseil fédéral) respectera scrupuleusement les restrictions que les traités apportent à l’exercice du droit dont il s’agit, et il s’entendra à cet égard avec le Gouvernement impérial français». Diese letztere Fassung liess dann auch französischerseits die Ansicht aufkommen, dass sich der Bundesrat zu einer vorgängigen Verständigung unter allen Umständen verpflichtet fühlte. «II nous suffit de savoir que, si les circonstances qu’il (le Conseil fédéral) a en vue venaient à se produire, il n’adopterait aucune mesure sans une entente préalable avec le Gouvernement de l’Empereur», schrieb der Herzog von Gramont in einer Note vom 25. Juli 1870. Allerdings nahm der Bundesrat diese Interpretation seiner Erklärung nicht ohne weiteres hin, sondern beauftragte unseren Gesandten in Paris, der französischen Regierung darzulegen, «nicht über das Recht selbst oder dessen Anwendbarkeit in Spezialfällen habe der Bundesrat eine Verständigung zugesagt, sondern über die Modalitäten der Ausübung, wie die Worte «à cet égard» klar dartäten. Im gegenteiligen Falle würde ja der Bundesrat sein Recht in die Hand der französischen Regierung legen... etc.» Eine offizielle Rückäusserung Frankreichs erfolgte damals nicht. Die Fassung von 1859 lässt dagegen solche irrtümliche Interpretationen nicht aufkommen; denn wenn der Bundesrat nur seine Bereitwilligkeit erklärt, eine Verständigung anzustreben, so verzichtet er damit keineswegs auf sein Recht, gegebenenfalls auch ohne eine Verständigung zu einer Besetzung der neutralisierten Bezirke zu schreiten.
Es erhellt aus diesen Erläuterungen, dass wir mit Schlussatz 4, Absatz 1, einig gehen.
5) Schlussatz 4, Absatz 2. «Hinsichtlich der Ausdehnung des neutralen Gebietes hält sie sich an die der französischen Regierung im Jahre 1887 durch schriftliche Note bekannt gegebene Grenzlinie (Beilage C, Karte), jedoch unter vollständigem Ausschluss der Mont-Cenis-Linie Culoz-Aix-Chambéry.» (Vergl. Bericht Sprecher, p. 23).
Damit, dass das neutrale Gebiet durch die im Jahre 1887 der französischen Regierung bekannt gegebene Grenzlinie (Beilage: Karte) bestimmt werde, können wir uns einverstanden erklären; der Ausschluss der Mont-Cenis-Linie, Culoz-Aix-Chambéry, gibt dagegen schon eher zu Bedenken Anlass. Zunächst ist hiezu zu bemerken, dass dieser Ausschluss dem Wortlaute des Artikels 3, Absatz 2, des Pariser Vertrages vom 20. November 1815 nicht entspricht; es heisst dort: «La neutralité suisse sera étendue au territoire qui se trouve au Nord d’une ligne à tirer depuis Ugine, y compris cette ville, au midi du lac d’Annecy, par Faverche jusqu’à Lecheraine et de là au lac du Bourget jusqu’au Rhône...» Die Grenzlinie schneidet also zweifelsohne die jetzige Mont-Cenis-Linie, und letztere liegt von der Rhone bei Boveyron bis Viviers, also dem ganzen lac du Bourget entlang, auf neutralisiertem Gebiet. Andererseits kann allerdings mit einem gewissen Recht geltend gemacht werden, dass es keineswegs die Absicht der Unterhändler vom Jahre 1815 war, die Mont-Cenis-Strasse und den dortigen Alpenübergang zu sperren; die Strasse liegt ganz ausserhalb der neutralisierten Zone. Heutzutage aber, wo Eisenbahnlinien die strategischen Anmarschlinien par excellence darstellen, bedeutet die Sperrung der Hauptlinie zum Mont-Cenis ein Abschneiden der Zugänge zu diesem wichtigen Alpenübergang und zum Tunnel. Wohl führt noch, von Süden über Grenoble herkommend, eine andere Linie in das Tal der Isère, doch gebührt ihr eine weniger grosse Wichtigkeit als derjenigen, welche die Verbindung mit Paris darstellt; sie wird wahrscheinlich auch weniger leistungsfähig sein, und dann kommt auch ein Alpenübergang mit zwei Zugangslinien für grössere Truppentransporte mehr in Betracht, als ein solcher, dem nur ein einziger Schienenstrang zu Gebote steht.
Für die Ausscheidung der Mont-Cenis-Linie aus dem neutralen Gebiet spricht auch noch der Umstand, dass im Jahre 1859 französische Truppen unbeanstandet diese Linie benützt haben. (Doch muss hier gleich auch erwähnt werden, dass damals verkleidete österreichische Generalstabsoffiziere sämtliche französischen Truppen, welche diese Linie benutzten, genau notiert haben sollen, und dass, wäre der Ausgang des Krieges ein anderer gewesen, die Schweiz sich auf eine Beschwerde von Seiten Österreichs hätte gefasst machen können.) Endlich muss man sich auch sagen, dass Frankreich wohl kaum das Abschneiden einer seiner wichtigsten Verbindungslinien nach Italien ohne weiteres einfach hinnehmen werde; sollte es auch die Besetzung des neutralen Hochsavoyens im übrigen dulden, so wird es sich doch unter Umständen sogar mit Waffengewalt einer Unterbrechung seiner Verbindungen über Culoz-Aix-Chambéry widersetzen. Freilich ist auch der Fall denkbar, wo diese Linie nicht für die Franzosen eine Anmarschstrasse nach Italien mehr sein würde, sondern im Gegenteil ein Zugang nach Frankreich für italienische Truppen. Dieser heikle Punkt kann unseres Erachtens nicht zum voraus prinzipiell im einen oder ändern Sinne entschieden werden; der Bundesrat wird sich im gegebenen Falle durch die Kriegslage und durch Opportunitätsrücksichten leiten lassen müssen. So viel kann indessen jetzt schon festgestellt werden: da für die Schweiz nicht eine Pflicht, sondern nur ein Recht besteht, die neutralisierten Teile Savoyens, im eigenen Interesse, zu besetzen, so wird sie sich auch nach diesem eigenen Interesse in bezug auf den Umfang der Besetzung richten; aus der Nichtbesetzung gewisser Teile des neutralen Gebietes darf ihr also kein Vorwurf gemacht werden, somit auch nicht aus der Freilassung der Mont-Cenis-Linie. Ob die Schweiz wegen der Freilassung dieses Schienenweges nicht der Parteilichkeit der einen oder der ändern Partei beschuldigt werden würde, ist eine Frage, die bei der Besetzung Hochsavoyens überhaupt oder irgend eines Teiles desselben auftauchen kann. Darin liegt eine der Hauptgefahren der ganzen Neutralitätsangelegenheit.
Übrigens sind wir bei der Beurteilung dieser Frage der Nichtbesetzung der Linie Culoz-Aix-Chambéry von dem Standpunkte ausgegangen, dass diejenigen Gegenden, die von uns nicht besetzt werden, von den Franzosen militärisch verwendet werden dürfen. Diese Ansicht, die schon im Memorial (p. 93 ff.) vertreten worden ist, wird auch vom Chef der Generalstabsabteilung geteilt; so heisst
6) der Schlusssatz 5: «Die Schweiz betrachtet es nicht als casus belli, wenn Frankreich im Kriegsfälle, bei offenkundiger Bedrohung Savoyens durch fremde Streitkräfte, und solange wir ausdrücklich auf die Besetzung verzichten, eigne Truppen in Savoyen belässt oder dahin verlegt.»
Wir glauben, dieser Satz sei naturgemäss dahin zu erweitern, dass auch nichtfranzösische Truppen die Neutalität nicht verletzen, wenn sie französische Truppen, die neutralisiertes Gebiet besetzt halten, dort aufsuchen, sofern sie dabei keine durch die Schweiz besetzte Gebiete betreten. Solange aber Frankreich die von uns nicht besetzten Teile des neutralisierten Hochsavoyens auch selbst nicht besetzt und sie als durch ihre, wenn auch nur theoretische Neutralität geschützt betrachtet, solange sollten eigentlich auch Frankreichs Feinde diese Gegenden nicht betreten dürfen. Dass Frankreich eine besondere Stellung anerkannt werden muss, nämlich das Recht, sein eigenes Land und dessen Einwohner zu schützen, sofern die Schweiz diese Aufgabe nicht übernimmt, liegt auf der Hand; ob aber Frankreichs Gegner den Satz anerkennen würden, dass sie solche Gegenden, die weder von schweizerischen noch von französischen Truppen gehalten werden, nicht besetzen dürfen, erscheint sehr fraglich. Man denke gerade an die Mont-Cenis-Linie: die Italiener wären doch wohl töricht, wenn sie dieselbe rücksichtsvollst als ausser ihrem Bereich liegend ignorieren wollten, bis die Franzosen geruhten, sie selbst zu besetzen und militärisch zu verwenden.
Diese Betrachtung führt uns zur Prüfung des 4. Antrages des Chefs der Generalstabsabteilung, welcher lautet: «Solange wir auf die Besetzung Savoyens verzichten, ist es von uns nicht als casus belli anzusehen, wenn im Kriegsfall der Nachbarmächte fremde Truppen, insbesondere französische, neutralisiertes savoyisches Gebiet betreten.»
Einen so weitgehenden Entschluss möchten wir nicht zum voraus schon festlegen. Dass es Frankreich freistehen soll, bedrohte neutralisierte Gebiete, deren Verteidigung wir ablehnen, gegen einen drohenden feindlichen Angriff zu schützen, scheint uns, wie schon gesagt, selbstverständlich; aber Voraussetzung ist dabei eine wirkliche Bedrohung der betreffenden Landesgegenden einerseits und ein tatsächlicher Verzicht auf Besetzung durch die Schweiz andererseits. Die zufällige momentane Entblössung eines Gebietes von Schweizertruppen soll den Franzosen nicht als Vorwand dienen dürfen, diese Gebiete, sagen wir die Mont-Cenis-Linie, zu besetzen.
Was die Gegner Frankreichs anbetrifft, so wird man es ihnen unter Umständen, namentlich wenn sie von den Franzosen von neutralisiertem Gebiete aus bedroht werden, oder wenn voraussichtlich die Franzosen zu ihrer Bedrohung neutralisiertes Gebiet zu betreten beabsichtigen, nicht verargen können, wenn sie ihrem Feinde zuvorzukommen suchen.
Eine andere Sache ist aber doch, von vorneherein zu erklären, dass die Besetzung durch fremde Truppen nicht als casus belli gelten solle, solange wir selbst auf die Besetzung verzichten. Wir können z. B. am Anfänge eines Krieges von einer Besetzung absehen, später aber kann die Kriegslage eine derartige werden, dass eine Besetzung Hochsavoyens für uns eine solche Bedrohung bedeuten würde, dass sie uns zur Kriegserklärung führen müsste. Auch ist der Fall nicht ausgeschlossen, wo eine Beteiligung an einem Kriege sich uns, trotz unserer prinzipiellen Neutralität, aufdrängt, und wo uns die Verletzung der savoyischen Neutralität als Rechtfertigung für unsere Parteinahme auf der einen oder ändern Seite dienen kann. Der Antrag könnte übrigens stehen bleiben, wenn man ihm nur einige Worte zufügen und ihn folgendermassen fassen würde: «Solange wir auf die Besetzung Savoyens verzichten, ist es von uns nicht von vorneherein (oder «unter allen Umständen») als casus belli anzusehen etc...»
Wir glauben im übrigen, dies werde wohl der Sinn gewesen sein, den Herr Oberstkorpskommandant von Sprecher seinem Antrage geben wollte. Die Hauptsache ist, dass wir uns nicht selbst zum voraus binden.
7) Ad Schlusssatz 6: «Nachdem Savoyen an Frankreich übergegangen ist, liegt der Hauptwert des Besetzungsrechtes für uns noch in der Aussicht, eine Gebietserweiterung dagegen einzutauschen. Nach den bisher in der Savoyer-Frage auf diplomatischem Gebiete gemachten Erfahrungen ist eine Verwirklichung dieser Aussicht aber nur zu erwarten, wenn wir die Besetzung einmal tatsächlich ausüben. Es wird Aufgabe unserer Diplomatie sein, uns im Kriegsfall der Nachbarmächte soweit als möglich die Wege zur ungehinderten militärischen Besetzung zu ebnen.»
Wie schon in unseren einleitenden Bemerkungen erwähnt, liegt in diesem Satz u. E. der Kern der ganzen Savoyer-Frage, sobald wir in der Neutralisierung von Chablais, Faucigny und Genevois keine genügenden militärischen Vorteile finden. Wir sind mit der Fassung dieses Schlusssatzes einverstanden.
8) Ad Schlusssatz 7, Absatz 1: «Die Schweiz soll von dem Besetzungsrechte nur Gebrauch machen, wenn eine ernstliche Bedrohung des eignen Gebietes durch eine Kriegspartei an anderer Stelle ausgeschlossen erscheint.»
Vom militärischen Standpunkte aus ist dieser Satz jedenfalls gerechtfertigt; wir möchten es indessen dahingestellt sein lassen, ob nicht politische Kombinationen denkbar sind, unter welchen eine Besetzung Hochsavoyens, trotz Bedrohung unseres eigenen Gebietes an anderer Stelle, geboten erscheinen könnte.
9) Ad Schlusssatz 7, Absatz 2: «Über die für die Besetzung zu verwendenden Kräfte und die Ausdehnung des zu besetzenden Gebietes ist nach Massgabe der politischen und militärischen Lage im Augenblick der Entschliessung, also auch erst dann, zu entscheiden.»
Mit diesem Satze sind wir ebenfalls einverstanden; immerhin wird in der Regel (vergl. oben unsere Bemerkungen zu Schlusssatz 3) die Besetzung einer Truppenmacht anvertraut werden müssen, die stark genug ist, die besetzten Gebiete auch zu halten (vergl. Memorial des Herrn Bundesrat Müller, p. 106ff., namentlich p. 127-134).
IV. Auf Grund der Berichte und nach Prüfung der Akten wird beschlossen:
1.) Der Rechtsanspruch der Schweiz, im Kriegsfall der Nachbarmächte das neutralisierte Gebiet von Savoyen, gemäss den Verträgen von 1815, in unserem Interesse militärisch zu besetzen, wird aufrechterhalten.
2.) Angesichts des Bestrebens, schon die bisherige Nichtausübung des Besetzungsrechtes im Sinne unseres Verzichtes darauf zu deuten, ist der Vorbehalt des Rechtes in die für die Mächte bestimmte Neutralitäts-Erklärung ausdrücklich aufzunehmen.
3.) In die Instruktion für den General ist die Weisung aufzunehmen, die Besetzung von savoyischem Gebiet zum Schutze unserer Neutralität nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Bundesrates vorzunehmen.
Stehen wir mit Frankreich im Kriege, so steht es dem General zu, nach Massgabe der ihm vom Bundesrate erteilten allgemeinen Instruktion, über den Einmarsch in Savoyen, wie überhaupt bezüglich des Überschreitens der Landesgrenze, zu entscheiden8.
4.) Unter Vorbehalt der durch die Umstände gegebenen Änderungen und Ergänzungen wird grundsätzlich folgende Neutralitäts-Erklärung gutgeheissen:
«Déclaration de neutralité en cas de guerre entre puissances voisines de la Suisse.
Un appel aux armes pour trancher les difficultés pendantes entre A... et B... paraissant imminent - (ici le texte peut varier à l’infini, p. ex.: - texte du 18 juillet 1870: ‹L’espoir d’une solution pacifique des difficultés actuellement pendantes entre A... et B... à propos de... s’étant évanoui et ces deux Etats ayant pris les armes›; ou bien: ‹La guerre ayant été déclarée entre A... et B...›; ou encore - texte du 14 mars 1859 - ‹Bien que les Etats de l’Europe jouissent pleinement des effets de la paix, l’on ne saurait disconvenir que la confiance dans la stabilité de cet état de choses n’ait subi un ébranlement et qu’il n’existe des motifs d’admettre que la tranquillité générale pourra être troublée par de graves événements›) - la Confédération Suisse, inspirée par ses traditions séculaires, a la ferme volonté de ne se départir en rien des principes de neutralité si chers au peuple suisse, qui correspondent si bien à ses aspirations, à son organisation intérieure, à sa situation vis-à-vis des autres Etats et que les Puissances signataires des traités de 1815 ont formellement reconnus.
En vertu du mandat spécial qui vient de lui être décerné par l’Assemblée fédérale - (phrase à supprimer s’il n’y a pas de mandat spécial) - le Conseil fédéral déclare donc formellement qu’au cours de la guerre qui se prépare, la Confédération suisse maintiendra et défendra, par tous les moyens dont elle dispose, sa neutralité et l’inviolabilité de son territoire telles qu’elles ont été reconnues - (est supprimé à dessein le mot «garanties» qui a figuré dans les déclarations de 1859 et de 1870, la garantie de notre neutralité étant controversée par des auteurs récents, p. ex. P. Schweizer, Geschichte der Schweizer. Neutralität p. 595 et suiv.; d’après lui il s’agissait, en 1815, simplement d’une garantie des nouvelles frontières devant assurer la tranquille possession de celles-ci à la Suisse après les guerres qui venaient de troubler l’Europe) - par les traités de 1815; elle observera elle-même la plus stricte neutralité vis-à-vis des Etats belligérants.
Relativement aux parties de la Savoie qui, aux termes de la déclaration des Puissances du 29 mars 1815, de l’acte final du Congrès de Vienne du 9 juin 1815, de l’acte d’accession de la Diète suisse du 12 août 1815, du traité de Paris du 20 novembre 1815 et de l’acte de reconnaissance et de garantie de la neutralité suisse portant la même date, doivent jouir de la neutralité de la même manière que si elles appartenaient à la Suisse, dispositions que la France et la Sardaigne ont confirmées à l’article 2 du traité de Turin du 24 mars 1860, le Conseil fédéral croit devoir rappeler que la Suisse a le droit d’occuper ce territoire. Le Conseil fédéral ferait usage de ce droit si les circonstances paraissaient l’exiger pour la défense de la neutralité et de l’intégrité du territoire de la Confédération; toutefois il ne manquera pas de respecter scrupuleusement les restrictions que les traités apportent à l’exercice du droit dont il s’agit, notamment en ce qui concerne l’administration de ce territoire; il s’efforcera de s’entendre à cet égard avec le Gouvernement de la République Française.
Le Conseil fédéral a la ferme conviction que la présente déclaration sera accueillie favorablement par les Puissances belligérantes ainsi que par les Etats tiers signataires des traités de 1815 comme l’expression de l’attachement traditionnel du peuple suisse à l’idée de neutralité et comme l’affirmation loyale des conséquences résultant pour la Confédération suisse des traités de 1815.
Dans l’espoir de cet accueil favorable, le Conseil fédéral suisse saisit cette occasion pour vous assurer etc.»
5. Gemäss der Anregung des Militärdepartements wird das politische Departement dem Bundesarchiv die Weisung erteilen, die Akten betreffend die anno 1887 erfolgten Unterhandlungen mit Frankreich über die Savoyer-Frage bis auf weiteres als streng vertraulich zu behandeln und also auch nicht für wissenschaftliche Zwecke zur Verfügung zu stellen9.
- 1
- E 1004 1/253.↩
- 2
- E 2, Archiv-Nr. 1645.↩
- 3
- Nr. 363.↩
- 4
- Die «Schlussätze» und «Anträge» dieses Berichtes sind als Annex zu Nr. 363 wiedergegeben.↩
- 5
- E 2, Archiv-Nr. 1644.↩
- 6
- E 2, Archiv-Nr. 1642.↩
- 7
- Vgl. dazu E 2, Archiv-Nr. 1643.↩
- 8
- Das Politische Departement hatte im weiteren beantragt: 4. Solange wir auf die Besetzung Savoyens verzichten, ist es von uns nicht von vornherein als casus belli anzusehen, wenn im Kriegsfall der Nachbarmächte fremde Truppen, insbesondere französische, neutralisiertes savoyisches Gebiet betreten.↩
- 9
- Dieser Punkt war vom Politischen Departement nicht beantragt worden.↩
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