Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
II. BILATERALE BEZIEHUNGEN
4. China
4.2. Diplomatische Vertretung
Darin: Die Schweiz errichtet in China eine Handelsagentur und verfügt über einen erfahrenen Vertreter für diesen neuen Posten. Annex vom 10.12.1912
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Documents Diplomatiques Suisses, vol. 5, doc. 355
volume linkBern 1983
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Archives | Archives fédérales suisses, Berne | |
▼ ▶ Cote d'archives | CH-BAR#E2001A#1000/45#1342* | |
Ancienne cote | CH-BAR E 2001(A)1000/45 212 | |
Titre du dossier | Konsulat, Personal (1911–1914) | |
Référence archives | C.325-02-02 |
dodis.ch/43210
Der schweizerische Handelsagent in Shanghai, M. Winteler, an den Vorsteher des Post- und Eisenbahndepartementes, L. Forrer1
Mit meinem Briefe vom 31. Dezember2 habe ich Ihnen mitgeteilt, dass ich mich im Laufe des Januar nach Peking begeben würde, um Herrn Liou-Tseng-Tsiang, dem chinesischen Minister des Auswärtigen, Ihren Brief zu übergeben und mich gleichzeitig vorzustellen.3
Von diesem Besuche, der insgesamt 19 Tage beanspruchte, bin ich vor wenigen Tagen zurückgekehrt, und ich gestatte mir nun, Ihnen darüber Rapport zu erstatten.
Minister Liou ist leider immer noch etwas leidend. Trotz seiner Indisposition, die ihm vorübergehend den Empfang von Besuchen nicht gestattete, empfing er mich am dritten Tage nach meiner Ankunft in seiner Privatwohnung im Ministerium des Auswärtigen. Von Beginn der Unterredung an bis zum Ende, war sein Ton ein herzlicher und seine Sprache eine offene, ganz im Gegensatz zu der selbstbewussten und zurückhaltenden Art und Weise der meisten Mandarine unter dem alten Régime. Er war sichtlich erfreut, Erinnerungen aufzufrischen: seine verschiedenen Besuche in der Schweiz, namentlich sein Aufenthalt in Genf, während des Internationalen Kongresses des Roten Kreuzes, und derjenige in Bern, anlässlich der Missionsreise Tuan Fang’s. Mit nicht zu verkennender Verehrung sprach er dann von Ihnen selbst und den schweizerischen Institutionen. Unter anderem unterhielten wir uns in eingehender Weise über das Schweiz. Schulwesen, dessen Vorzüge er anerkannte; und damit war das Thema auch auf die Entsendung von Studenten nach der Schweiz, sowie die Anstellung von Schweizern in China gelenkt. Für seine Person ist Liou ganz damit einverstanden, und will seinen Einfluss in dieser Richtung geltend machen, dass die Schweiz zukünftig auch eine Anzahl chin. Studenten zur weiteren Ausbildung zugeteilt erhalte. Er weiss, dass eine Erziehung unter einfachen Verhältnissen und in einer moralisch und physisch gesünderen Atmosphäre, als dies bei den meisten ausländischen höheren Unterrichtsanstalten der Fall ist, für die chinesische Jugend, welche auf Auslandstudium angewiesen ist, am besten wäre.
Er ist überzeugt, dass, abgesehen von der Gründlichkeit des Studiums, aus eben diesen Gründen in der Schweiz viel bessere Resultate zu erzielen wären als anderswo. Dazu kommt der liberale, von politischer Beeinflussung freie Geist, den er für seine Studenten wünscht, und welchen er für die Zukunft der chinesischen Republik als von grosser Bedeutung erachtet.
In ähnlicher Weise wurde auch von der Wünschbarkeit der Anstellung von schweizerischen Lehrern, Beamten und event. Beratern gesprochen. In uninteressierter, neutraler Weise könnten diese stets die Sache im Auge behalten, unbeeinflusst von politischen Erwägungen und Meinungen, was bei den meisten übrigen Nationalitäten nicht der Fall sei.
Ich darf wohl annehmen, Herr Bundesrat, dass Sie Ähnliches bereits anlässlich der Anwesenheit Liou’s in Bern zur Sprache brachten, denn Liou zeigte eine Versiertheit und legte eine überzeugte Auffassung zu Tage, wie sie nur nach Studium der Sache möglich ist.
Unter diesen Umständen ist es zu bedauern, dass, infolge von Verhältnissen, auf die ich noch separat zurückkommen werde, die Schweiz so weit leer ausgegangen ist, obschon an oberster Stelle der Wille - und die Einsicht - vorhanden ist.
Gegenstand des Gesprächs waren dann die Handelsbeziehungen der Schweiz mit China. Über bekannte Tatsachen hinaus konnte es indessen nicht gehen, denn strittige Punkte gibt es in China bezügl. Schweiz. Handelsinteressen nicht; vielmehr hängt es lediglich von den Initiativen der schweizerischen Handels- und Industriekreise selbst ab, diese Beziehungen inniger zu gestalten oder nicht. Erwähnt wurde, dass die Schweiz keinen Handels- und Freundschaftsvertrag mit China besitzt und die Hoffnung ausgesprochen, dass ein solcher in nicht allzuferner Zukunft zu Stande komme.
Stricte genommen, hätte hier meine Aufgabe aufgehört. Andererseits war es gerade der gegebene Moment, auf eine Frage zu sprechen zu kommen, die das Politische Departement auch schon beschäftigt hat und die Gegenstand von Korrespondenzen zwischen denselben und Herrn Minister v. Salis einerseits, und mir (durch das Handels-Dept) andererseits, waren. Ich meine die Frage einer eventuellen diplomatischen Vertretung. Ich möchte nochmals erwähnen, dass unsere Konversation nichts formelles an sich hatte: unsere soweitige Aussprache war eine offene und sehr freundliche. Der Übergang auf einen heikleren Punkt hatte, nachdem einmal der Mangel eines Handelsvertrages berührt worden war, nichts gezwungenes; im Gegenteil, er war naheliegend und natürlich. Liou würde es offenbar am liebsten sehen, wenn nicht nur die Schweiz in China, sondern auch China in der Schweiz diplomatisch vertreten wäre, sei dies nun durch einen General-Konsul und Chargé d’affaires, oder einen Minister. Er misst dem engeren Verkehr der beiden Regierungen eine Bedeutung zu, die ich, soweit schweizerische Interessen in China - und nicht in der Schweiz selbst - in Frage kommen, erst erblicken kann, wenn unsere Finanzwelt bereit ist, die schweizerische Industrie hier draussen zu unterstützen. (Ich werde mir erlauben, noch separat zurückzukommen.) Er frug mich, warum die Handelsagentur nicht in Peking sei, welche Frage ich damit beantwortete, dass, mangels politischer Interessen der Schweiz in China, es naheliegend sei, die Handelsvertretung im Centrum des Handelsverkehrs zu haben, i.e. in Shanghai.
Weiteren Gesprächsstoff lieferten dann die verschiedenartigen Vertretungen des Auslandes in Peking, bezw. China. Liou erwähnte, dass Cuba durch einen Chargé d’affaires (zugleich Generalkonsul) mit Sitz in Shanghai vertreten sei. Dänemark wurde bis vor Kurzem durch einen Gesandtschaftssekretär, der der russischen Legation attachiert war, repräsentiert, während die Minister Brasiliens und Schwedens in Tokio sitzen (Konsulate in Shanghai) aber in Peking akkreditiert sind. Alle übrigen Staaten, nämlich Amerika, Belgien, Deutschland, Frankreich, England, Italien, Japan, Mexico, Holland, Portugal, Österreich, Russland und Spanien, in allerjüngster Zeit auch Dänemark, seien in Peking durch Gesandte, bezw. Minister, vertreten.
Es war mir daran gelegen zu hören, wie Liou über das Exterritorialrecht denkt, bezw. wie sich Neu-China diesbezüglich Staaten gegenüber verhalten würde, die mit der Republik in diplomatische Beziehung treten wollen. Eine Zeitlang - sagte er - sei die Tendenz in Peking gewesen, diese Rechte keinen weiteren Staaten zu verleihen. Man sei aber bald zu der Einsicht gekommen, dass ein ablehnendes Verhalten nur dazu führen würde, dass Staaten, deren diplomatische Vertretung in Peking erwünscht sei, von China ferngehalten würden. Er erinnerte dabei an die Schweiz. Deshalb habe man einen Ausweg in der Weise gefunden, dass man in neuen Verträgen die Dauer des Exterritorialrechtes limitiere, wenn auch nicht eine bestimmte Grenze gesetzt sei. (Der 1903 mit Amerika erneuerte Handelsvertrag stipuliert: «Da die chinesische Regierung von dem Wunsche beseelt ist, ihr Rechtssystem zu reformieren und mit demjenigen der westlichen Nationen in Einklang zu bringen, verpflichten sich die Vereinigten Staaten, dieser Reform alle Unterstützung zu gewähren; ferner erklären sich die Vereinigten Staaten bereit, in dem Momente auf ihre Exterritorialrechte zu verzichten, in welchem sie die chinesischen Gesetze, deren Anwendung etc. billigen können.») Auf Basis dieser Limitation würde die chinesische Regierung keinen Anstand nehmen, das Exterritorialrecht auch auf neue Vertragsstaaten auszudehnen.
Es bestätigt dies so ziemlich, was ich hierüber unterm 17. August4 an das Handels-Departement geschrieben habe.
Nachdem wir nun einmal auf diesem Gebiete waren, und Liou keine Gesprächsmüdigkeit zeigte, mochte ich gerne wissen, wie er heute über die Anerkennung der Republik denkt. Bei seinem Antritt als Minister-Präsident hatte er an alle Regierungen, die mit China in einem Vertragsverhältnis stehen, telegraphisch das Ansuchen gestellt, man möchte China als Republik anerkennen. (Bekanntlich beschränkten sich die ausländischen Regierungen darauf, ihm und China alles Gute zu wünschen). Hier knüpfte ich an. Liou bemerkte gleich, dass für die Schweiz ein Telegramm bereits ausgeschrieben war, und versendet werden sollte, als der Direktor der Protokolle die Frage aufrollte, ob man das Ersuchen um Anerkennung auch an Nicht-Vertragsstaaten richten könne, da die Schweiz mit China keinen Vertrag habe. Es wurde dann beschlossen, das Ersuchen nur an Vertragsstaaten zu telegraphieren, und so unterblieb die Bitte an die Schweiz. Nichtsdestoweniger sei er der Ansicht, dass auch ein Nicht-Vertragsstaat die chinesische Republik anerkennen könne, wobei ich mir die additioneile Bemerkung erlaubte «als er von dieser angegangen werde». Er meinte ferner, es müsse natürlich ein gegebener Anlass vorliegen, wie zum Beispiel der Abschluss der «Sechsmächte» Anleihe. Ich benutzte die Erwähnung dieser Anleihe zu der Frage, ob er nach Abschluss derselben die Anerkennung der Republik seitens der Mächte erwarte, was er verneinte. Trotzdem liege ihm sehr daran, dass die Republik sobald als möglich anerkannt werde. Er habe dieserhalb mit kleineren, in Peking vertretenen Mächten, die ausserhalb des Anleihe-Syndicates ständen, Fühlung genommen, wie z. B. Holland und Belgien. Die Minister dieser Staaten hätten indessen zu verstehen gegeben, dass ihre Interessen mit denjenigen der «Sechsmächte» zu sehr verknüpft seien, als dass sie ein unabhängiges Vorgehen wagen könnten. Der belgische Minister, mit dem er auf sehr freundlichem Fusse stehe, habe ihm geraten, sich an einen ganz unabhängigen Staat zu wenden, wie zum Beispiel die Schweiz, oder eine südamerikanische Republik. Dies sei allerdings bislang unterlassen worden. (Holland, wie Belgien, ist im Peau-Protokoll 1901 miteingeschlossen; ausserdem ist Belgien in seinen Eisenbahnunternehmungen etc. in China zu einem grossen Teil von Frankreich abhängig.)
Diesen Punkt, die Anerkennung der chinesischen Republik durch die Schweiz, hatte Hr. Minister Ritter bereits im März 19125 zum Gegenstand eines Vorschlages an den hohen Bundesrat gemacht; auf Veranlassung des Handels-Departement’s hatte ich unterm 15. April6 meine Ansichten geäussert. Herr Minister Ritter berief sich damals auf den Nützlichkeitsstandpunkt und den Appell Dr. Wu Ting Fang’s an die civilisierten Mächte; vorab an Amerika.Verkörperte damals Wu Ting Fang’s Auffassung den Wunsch der Nation; mehr noch - weil einstweilen wichtiger - war es das Ziel des leitenden Staatsmannes Yuan Shi Kai? Diese Frage habe ich mir damals nicht in dieser präcisen Fassung vorgelegt, obschon ich in allgemeiner Form in meiner damaligen Antwort auch darauf zu sprechen kam. Heute war es nicht Dr. Wu Ting Fang, der sich seit der Einigung von Nord und Süd, also vor einem Jahr, vorläufig von der Politik zurückzog, sondern ein aktiver Staatsmann, der Minister des Auswärtigen, welcher für Anerkennung warm plädierte und der demjenigen Staate, welcher die chinesische Republik zuerst anerkennen würde, Dankbarkeit und Freundschaft seitens der chinesischen Republik versprach.
Seit meiner Rückkehr nach China hatte ich auch den politischen Vorgängen meine Aufmerksamkeit zugewandt, weil Handel und Politik - hier draussen erst recht - in solch enger Wechselbeziehung stehen. Ich glaubte wahrgenommen zu haben, dass Yuan Shi Kai nicht unbedingter und einwandsfreier Republikaner ist (seine mehr als korrekten Beziehungen zum kaiserlichen Hofe; seine Tendenz ein kaiserliches Decorum aufrecht zu erhalten; Abfindung der republikanischen Heissporne mit kaufmännischen Privilegien, statt mit Handelsämtern etc.). Ich erlaube mir deshalb die Frage, wie Yuan Shi Kai über das Bestehen der Republik denke. Anlässlich des Besuches von Dr. Sun Yat Sen in Peking sei dieser Punkt zur Sprache gekommen, antwortete Minister Liou. Yuan Shi Kai habe sich unzweideutig ausgesprochen: Die Mandchus hätten es für immer mit dem chinesischen Volke verdorben, ihre Rückkehr sei unmöglich. Nachkommen früherer Dynastien gäbe es nicht, sonst wäre die Möglichkeit vorhanden, auf diese zurückzugreifen; und was ihn selbst betreffe, so würde das Volk ihn und seine Familie als neue Dynastie nicht wollen. Es müsse also dabei bleiben, wo es sei: bei der Republik.
Ich erinnerte daran, dass die Schweiz der erste Staat gewesen sei, der vor einigen Jahren die portugiesische Republik anerkannt habe. Dort seien allerdings die Verhältnisse nicht so kompliziert gewesen wie bei China. Die schweizerische Regierung sei mit grossem Interesse den Vorgängen im Osten gefolgt und hege für das Gedeihen der neuen Republik nur die besten Wünsche. Es schlage zwar nicht in mein Fach; aber soweit ich die Sache beurteilen könne, würde man im gegebenen Momente wahrscheinlich nicht zögern, diesen sympathischen Gefühlen conkreten Ausdruck zu geben.
Wir kamen dann noch auf den vermutlichen Ausgang der nächsten Wahlen zu sprechen, die China einen definitifen Präsidenten und eine feste Verfassung mit Parlament geben sollen. Liou zweifelte nicht einen Augenblick, dass Yuan Shi Kai zum Präsidenten gewählt werden wird. Dr. Sun Yat Sun habe ihm selbst gesagt, dass er, Sun, zwar «zerstören» konnte, aber «zum Aufbau» nicht geeignet sei. Sun habe ihm gestanden, dass er, als provisorischer Präsident in Nanking, nicht im Stande gewesen sei, auch nur mit den Stadtpräfekten friedlich auszukommen; wie sollte er da mit all den Beamten der 21 Provinzen und Dependenzen fertig werden! General Hwang Sing habe zwar auch eine Anzahl Anhänger; aber für ihn selbst bestehe bezüglich des Ausganges der Wahl keinen Zweifel. Yuan sei nicht nur der Mann, sondern der einzige Mann für die Aufgabe.
Bezüglich der Anleihe äusserte sich Liou dahin, dass diese in einigen Tagen gezeichnet werde. Dies ist allerdings infolge des unerwarteten Widerstandes des französischen Ministers bis heute nicht geschehen.
Minister Liou schlug dann vor, mich beim Präsidenten Yuan Shi Kai einzuführen, welche Ehrung ich gebührend verdankte.
Die Unterredung hatte 2 Stunden gedauert. Minister Liou liess es sich nicht nehmen, mir die Zeit bis zum Empfange seitens des Präsidenten recht angenehm zu machen. Ein Beamter des auswärtigen Amtes führte mich in den Winterpalast, während mir auch Gelegenheit gegeben wurde, den Sommerpalast zu besuchen. Ich kam mit den höheren Beamten des Auswärtigen zusammen, von welchen mich namentlich der Conseiller des Waichiaspu, T’ang Tsai Fou, interessierte. Als ich diesem u. a. die Frage vorlegte, warum denn eigentlich noch keine chinesischen Studenten nach der Schweiz geschickt worden seien, wo doch alle nur das Beste von der Schweiz zu sagen hätten, antwortete er mir, dass China dort keine Vertretung besitze, welche, wie das in den ändern Staaten der Fall sei, das Studium und die Erziehung der Studenten überwachen könnte. Es diene sowohl der Regierung, als speziell auch den Eltern, zur Beruhigung, wenn ein eigener Vertreter in der Nähe der Studenten sei, und notfalls kraft seiner Autorität eingreif en könne, ein Standpunkt, der sich unschwer verstehen lässt.
Yuan Shi Kai empfing mich in seiner Amtswohnung im Kriegsministerium. Als Dolmetscher fungierte Conseiller T’ang - Yuan spricht nur nordchinesisch und seinen heimatlichen Dialekt. Für seine 58 Jahre sieht er ziemlich alt aus, aber seine Augen sind frisch. In sehr freundlicher Weise unterhielt er sich mit mir während 20 Minuten: über die Schweiz; über die Handelsbeziehungen zu China; er freue sich, dass die Eidgenossenschaft eine Handelsagentur errichtet habe und er hoffe, dass die Beziehungen ausgedehnter werden. Liou habe ihm über seine Unterredung mit mir ausführlich Bericht erstattet; er selbst habe darauf geantwortet. Einige Komplimente schliessen die Audienz. Interessant war sie nicht des Gesprochenen wegen. Aber sie bekundete Wohlwollen der Schweiz gegenüber auch seitens des menschlichen Leiters der Geschicke des heutigen China. Aus diesem Manne, der seinen Best-Vertrauten nicht sagt, was er wirklich denkt, und was er wirklich will, liess sich sonst nichts von Bedeutung herausholen. Ein wiederholter, warmer Händedruck, ein Begleiten bis zur Vortüre, das Aufstellen einer Ehrenwache im Korridor (alles Offiziere), meinen bei einem solchen Manne etwas oder auch nichts.
Liou liess mich tagsdrauf zu sich bitten. Wir unterhielten uns wieder eine Stunde, meistens im Rahmen unserer ersten Unterredung; über Yuan Shi Kai und Tagesfragen. Er meinte, es wäre wohl nützlich, wenn ich ab und zu wieder für 8-10 Tage nach Peking kommen würde; persönlicher Kontakt sei gut. Er frug mich, ob ich bei ausländischen Vertretern Besuche gemacht hätte, was ich verneinte unter Beifügung, dass ich allerdings ein Empfehlungsschreiben an den belgischen Minister hätte. Er empfahl mir, davon Gebrauch zu machen und wiederholte, dass er zu diesem in sehr angenehmen Beziehungen stehe. Hier fügte ich ein, dass ich im Republican Advocate gelesen hätte, dem Waichiao Pu sei ein Vorschlag zugegangen, einen Minister u. a. auch nach der Schweiz zu senden, worauf er antwortete, dass bei der gegenwärtigen Lage von der Creierung neuer Posten abgesehen werde, dass er aber hoffe, es werde dazu wohl noch kommen. Verschiedene Beamte hätten ihm schon den Wunsch unterbreitet, als Vertreter nach der Schweiz geschickt zu werden. Ich, meinerseits, hoffte, dass die Schweiz in nicht allzuferner Zukunft die Ehre haben werde, ihn zu willkommen. Liou rechnet bestimmt darauf, eines Tages nach der Schweiz zurückzukehren. Auf Ihren Rat hin, habe er sich damals in Locarno ansässig gemacht, mit der Absicht, auf neutralem und unauffälligem Boden ein Stelldichein für die chinesischen Beamten in Europa zur gemeinsamen Besprechung wichtiger Fragen zu haben. Auch sei die Villa gross genug, um als Absteigequartier für die Erholungsbedürftigen zu dienen. Heute, wie damals, bestehe dieser Gedanke noch und er erwarte bestimmt, ihn auszuführen.
Unter gebührender Verdankung der mir erwiesenen Aufmerksamkeiten und Ehrungen empfahl ich mich.
Es war nicht meine Absicht gewesen, in Peking Besuche zu machen. Anlässlich einer tea party in der Wohnung des Ministers wurde ich indessen dem dänischen Minister vorgestellt - bei gleichem Anlasse traf ich auch den neuen Gesandten für Berlin, Herrn Yar, bisherigen Vice-Minister des Auswärtigen - ausserdem riet mir Liou, von meinem Empfehlungsschreiben an Monsieur de Cartier de Marchienne, den belgischen Gesandten, Gebrauch zu machen. Ich entschloss mich deshalb, auch beim französischen und deutschen Gesandten meine Karte abzugeben.
Monsieur Conty empfing mich liebenswürdig. Wir sprachen über die gegenseitigen guten Beziehungen zwischen Frankreich und der Schweiz, die in China zum teilweisen Schutz der schweizerischen Interessen führten; über den schweizerischen Handel mit China; über die Handelsagentur. Betreffs der politischen Situation in China sieht Conty schwarz. Er anerkennt zwar die Bedeutung Yuan Shi Kai’s, des einzigen Mannes, der China allenfalls aufhelfen könne. China vergleicht er mit einem kranken Mann, bei dem man nicht Pläne für den Sommer mache, sondern man frage sich «wird er die Nacht überstehen?», um, wenn dies geschehen, die nötigen Dispositionen bis zum nächsten Abend zu treffen. Er erkundigte sich darüber, wie man im Süden über die Lage denke, die ich etwas weniger ominös schilderte. Er meint, man sei in Peking oft etwas zu nahe; der besseren Orientierung wegen werde er in nächster Zeit nach dem Süden kommen; bei dieser Gelegenheit werde er meinen Besuch in Shanghai erwidern.
Den deutschen Gesandten, von Hazhausen, traf ich nicht zu Hause; er war auf der englischen Gesandtschaft.
Der belgische Gesandte hatte von Liou bereits über mich gehört. Gesprächsstoff lieferten die belgischen Unternehmungen in China: Hankow-Peking Eisenbahn und die eben verteilte Konzession zum Bau einer Eisenbahn von Langchowfu nach Haitchow (1900 Km Strecke, einen Mindestbetrag von 250 Millionen Franken involvierend). De Cartier sprach auch seinerseits von den angenehmen Beziehungen Belgiens mit China, die er, vom Persönlichen abgesehen, darauf zurückführt, dass Belgien neutral ist, kraft seiner Industrie und dem unternehmenden Kapital leistungsfähig ist, und an China nie mit ungerechten Forderungen, die durch Militärmacht gestützt werden, herantritt. Die Schweiz stehe übrigens in China auf gleichem Boden wie Belgien. Frankreich, Deutschland etc. verfolgten politische Interessen, die kaufmännischen Unternehmungen immer einen schlechten Beigeschmack geben; Belgien verfolge rein kommerzielle Interessen; das wüssten die Chinesen und seien deshalb den Belgiern wohlgesinnt. Er sei nicht dafür, Staatsanleihen in China zu unterstützen, ausser es gehe nicht anders. Auf was er hauptsächlich abziele, sei Kapital da anzuspannen, wo es für die belgische Industrie nützliche Beschäftigung finde, und solche Gelegenheiten fänden sich in China immer wieder. Er wies auf die Société Générale in Bruxelles hin, deren Leute, samt und sonders, sich ihre Sporen in China geholt hätten. Er betont, dass sich der Schweiz in China dieselben Chancen böten. Ich teilte durchaus seine Ansicht, wandte aber ein, dass man in schweizerischen Bankkreisen sehr vorsichtig denke, während man in Belgien grosszügiger sei. Dasselbe Misstrauen sei in Belgien anfänglich auch gewesen, meinte er; man wollte nichts riskieren und nichts verlieren. Heute sei dies nun glücklicherweise anders. Zudem hätte der Parisermarkt zu belgischen Unternehmungen Vertrauen gewonnen und dortige Banken ständen ihnen offen. Er persönlich stände einem Zusammenarbeiten schweizerischen Kapitals mit Belgien nicht unsympathisch gegenüber, im Gegenteil. Er werde der Société Générale schreiben, dass, wenn schweizerisches Kapital sich an belgische Unternehmungen in China anlehnen wolle, man denselben wohlwollend begegnen möchte. So wie er die Sache von seinem Standpunkt beurteile, wäre es für die Schweiz nützlich, in Peking vertreten zu sein. De Cartier wird ebenfalls im Laufe der nächsten Monate nach Shanghai kommen, wo er meinen Besuch erwidern wird.
Am folgenden Morgen verreiste ich nach Shanghai. Mit Vorstehendem gebe ich Ihnen, Herr Bundesrat, ohne Kritik, nur unter gelegentlicher Anführung von Tatsachen, die den Gedankengang erleichtern, die in Peking an massgebender Stelle gepflogenen Gespräche wieder. Ich bin ihnen vielleicht zu ausführlich geworden; indessen wollte ich, schon zu meiner eigenen Orientierung, möglichst alle Momente und Schattierungen festhalten, da ich mir in meinem nächsten Schreiben erlauben werde, Ihnen eine Kritik des Gehörten und Gesagten zu unterbreiten.7
Ich gestatte mir hiemit, ein mir von Minister Liou übergebenes Schreiben an Sie beizulegen.8
Ein weiteres Schreiben wurde mir für Herrn Iwan Ching, Commissioner for foreign affairs, in Shanghai mitgegeben.9
Genehmigen Sie, hochgeehrter Herr Bundesrat, den Ausdruck meiner vollkommenen Hochachtung.
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