Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
V. FREMDENPOLIZEILICHE FRAGEN
4. Zigeuner
Darin: Weil die Zigeuner die innere Sicherheit des Landes gefährden, sollen sie nach Artikel 70 der Bundesverfassung ausgewiesen werden. Annex vom 18.10.1912
Pubblicato in
Documenti Diplomatici Svizzeri, vol. 5, doc. 328
volume linkBern 1983
Dettagli… |▼▶Collocazione
Archivio | Archivio federale svizzero, Berna | |
Segnatura | CH-BAR#E21#1000/131#20606* | |
Titolo dossier | Frage der Anwendung von Art. 70 der Bundesverfassung für die Ausweisung von Zigeunern; Umschreibung des Begriffs "Zigeuner" (1912–1912) | |
Riferimento archivio | 10.5.2 |
dodis.ch/43183
Der Adjunkt der Polizeiabteilung im Justiz- und Polizeidepartement, E. Leupold, an den Vorsteher des Justiz- und Polizeidepartementes, E. Müller1
Unsere Nachbarstaaten haben die vom Bundesrat ergriffene Initiative zu einer internationalen Regelung der Zigeunerfrage abgelehnt. Deutschland und Frankreich mit der Begründung, dass sie vorerst auf dem Wege interner Erlasse gegen die Zigeunerplage vorzugehen gedächten, - Italien mit der Begründung es gebe keine Zigeuner italienischer Nationalität und zur Verteidigung gegen die Zirkulation fremder Banden genüge die Absperrung der Landesgrenze und die Ausweisung allfällig Eingedrungener. Dass Italien diese Verteidungsmittel zu handhaben weiss, bewies kurz darauf die wegen der Choleragefahr verfügte Ausweisung von 800 Zigeunern aus dem Gebiete des Königreichs.
Die Schweiz, im Herzen von Zentraleuropa, bedarf mehr als jeder andere Staat wirksamer Verteidigungsmassregeln gegen das Zigeunerunwesen, da sie auf allen 4 Grenzfronten durch die Zigeunerinvasion bezw. durch die Zuschiebung von Zigeunern seitens der ausländischen Polizeiorgane bedroht ist. Bis zum Jahre 1911 entledigten sich die Kantone der unbequemen Gäste einfach durch heimliche Abschiebung derselben nach dem Nachbarkanton und auf diese Weise gelang es einzelnen Zigeunerbanden, sich jahrelang in der Schweiz umherzutreiben. Nachdem auf Anregung des Herrn Nationalrat Walther unserm Departement ein Kredit von Fr. 2000-, erstmals pro 1911, zur Identifikation der Zigeuner eröffnet worden ist, haben wir nun die Ausschaffung der Zigeuner den Kantonen abgenommen und zur Sache unseres Departements gemacht, wodurch die wenig freundeidgenössische Zuschiebung der Zigeuner zwischen den Kantonen aufgehört hat. Wir verfahren in der Weise, dass wir durch die Kantone die Personalien der Zigeuner, die dort aufgegriffen werden, möglichst genau feststellen lassen unter Zuhülfenahme der anthropometrischen Photographie und Messung sowie der Fingerabdrücke. Wir suchen alsdann durch Nachfrage bei den Polizeibehörden derjenigen Länder, die in Betracht fallen können, festzustellen, ob die Zigeuner als Angehörige oder frühere Angehörige eines Staates anerkannt werden. Ist dies der Fall, so werden die betreffenden Personen nach ihrer Heimat abgeschoben und es wird die festgestellte Staatsangehörigkeit im schweizerischen Polizeianzeiger publiziert. Erweist sich die Feststellung der Nationalität unmöglich - und hierher gehört die Mehrzahl der Fälle -, so werden die Zigeuner nach Anordnung unseres Departements heimlich über die Landesgrenze ausgeschafft. Auf diesb Weise muss auch in denjenigen Fällen verfahren werden, wo zwar das Familienhaupt identifiziert und seine Staatsangehörigkeit festgestellt ist, jedoch für die Trauung und die Geburt der Kinder die zivilstandsamtlichen Nachweise fehlen. Eine Übergabe des Familienhauptes an die heimatliche Polizeibehörde würde die Familie ihres Ernährers und männlichen Schutzes berauben, was aus Humanitätsgründen nicht stattfinden darf.
Bis zur Ausschaffung bleiben die Zigeuner in dem Kanton, wo sie aufgegriffen wurden, in Identifikationshaft; die hierdurch erwachsenden Internierungskosten werden dem Kanton von uns vergütet; die Hälfte dieser Kosten trägt der Bund, die andere Hälfte wird den sämtlichen Kantonen im Verhältnis ihrer Bevölkerungszahl in Rechnung gebracht (interkantonale Verpflegungsrechnung). Die Kosten der Ausschaffung trägt ausschliesslich der Bund.
Wir suchen bei den Kantonen zu erwirken, dass der Kanton in welchem ein Zigeuner auf gegriffen wird, bei der Ausschaffung desselben einen förmlichen Ausweisungsbeschluss fasst. Doch solche administrative Ausweisungen sind verfassungsrechtlich nicht in allen Kantonen möglich und werden in einzelnen Kantonen von der Voraussetzung einer vorangehenden gerichtlichen Verurteilung, bezw. einer Bestrafung mit bestimmter Freiheitsstrafe, abhängig gemacht (z.B. Bern und St. Gallen). Aber auch sonst ist die Wirkung der kantonalen Ausweisungen in Ansehung der Gesamtheit unseres Landes unbedeutend; wird der Zigeuner aus einem Kanton ausgewiesen, so hat er immer noch die Möglichkeit, sich in 24 ändern Kantonen herumzutreiben. Die von unserm Departement geführte Zigeunerregistratur mit ihren anthropometrischen und daktyloskopischen Hülfsmitteln gibt uns allerdings die Möglichkeit, die nach erfolgter Ausschaffung zurückgekehrten Zigeuner, trotzdem sie in der Regel unter verschiedenen Namen wieder auftauchen, zu erkennen; allein wir sind beim jetzigen Stande der Dinge machtlos gegen solche Rückkehr und haben die erneuten Ausschaffungskosten ohne weiteres zu übernehmen. Auch riskiert der Zigeuner, der nach erfolgter Ausschaffung über die Landesgrenze zurückkehrt, keine länger dauernde Identifikationshaft mehr. Denn die Bemühungen zu seiner Identifikation und zur Feststellung seiner Staatsangehörigkeit haben vor seiner erstmaligen Ausschaffung ihren Abschluss gefunden; wird er zum zweiten Male in der Schweiz aufgegriffen, so besteht kein weiterer Grund, ihn länger festzuhalten, und es bleibt nichts anderes übrig, als seine sofortige erneute Ausschaffung anzuordnen (wenn er sich nicht etwa in einem Kanton betreten lässt, aus dem er formell und unter Strafandrohung ausgewiesen ist).
Unsere Statistik ergibt folgende Zahlen:
Seit März 1911 wurden bis heute 183 Zigeuner (Erwachsene und Kinder) auf Weisung unseres Departements erstmalig ausgeschafft; davon kehrten 66 Personen zurück und wurden zum zweiten Male ausgeschafft; von diesen kehrten 31 ein zweites Mal zurück und wurden zum dritten Male ausgeschafft; von den letztem 31 kehrten 5 Personen neuerdings zurück und mussten zum vierten Male ausgeschafft werden. Diese Zahlen sind insofern noch unvollständig, als die Grenzkantone - namentlich auf der Strecke Basel-Genf - die eingedrungenen Zigeuner direkt, ohne Mitwirkung unseres Departements, über die Grenze zurückzuweisen pflegen. Auch entzieht es sich selbstverständlich unserer Kenntnis, wieviele bereits ausgeschaffte Zigeuner sich gegenwärtig heimlich auf Schweizerboden herumtreiben.
Es ergibt sich aus diesen statistischen Daten, dass wir bisher gegen die Zigeunerplage ungenügende Abwehrmittel zur Anwendung gebracht haben. Wir müssen dafür sorgen, dass jede Rückkehr in unser Land dem Zigeuner eine Strafe aussetzt und alle Polizeiorgane des Landes verpflichtet werden, die Fehlbaren zur Bestrafung zu bringen. Es bedarf daher einer Ausweisung aus dem Gebiete der Gesamtschweiz. Meines Erachtens ist eine solche Ausweisung möglich auf Grund von Art. 70 der Bundesverfassung, der dem Bunde das Recht erteilt, Fremde, welche die innere Sicherheit der Eidgenossenschaft gefährden, aus dem schweizerischen Gebiete wegzuweisen.
Die Zigeuner gefährden tatsächlich die innere Sicherheit des Landes. Sie führen eine gesetzlose Existenz, verheimlichen geflissentlich ihre Identität und Herkunft, ändern willkürlich ihre Namen und ihre sämtlichen Personalangaben, sie gehen keine bürgerliche Trauung ein, leben vielmehr in wilder Ehe, lassen ihre Kinder nicht in die Zivilstandsregister eintragen, wodurch jede Fixierung des Personenstandes verunmöglicht wird, und suchen vielfach durch Auswechslung der Kinder - und wohl auch der Frauen - den Personenstand nach Möglichkeit zu verwirren. Daher denn auch die stereotype Antwort der Zigeuner auf die Frage nach ihrem Geburtsort: «Ich bin auf der Reise geboren». (Als wir kürzlich versuchten, von einer im Kanton Aargau auf gegriffen en Zigeunerin, die ein wenige Tage altes Kind bei sich hatte, den Geburtsort des Kindes in Erfahrung zu bringen, erklärte sie, der Geburtsort liege im Appenzellerland, sie könne ihn nicht näher angeben, da ihre Gesellschaft eine Stunde nach der Geburt des Kindes mit ihr und dem Neugeborenen bereits weitergezogen sei).
Die Zigeuner sind somit refraktär gegen jede bürgerliche Ordnung und gegen die Autorität des Staates, zu der sie sich bewusst in fortdauernden Gegensatz stellen; und zwar negieren sie den Staat nicht nur in der Theorie, wie viele Bekenner anarchistischer Theorien, sondern täglich mit der Tat. Sie bilden überdies eine beständige Belästigung unserer ländlichen Bevölkerung, da sie ihren Lebensunterhalt, wie bekannt, zumeist aus Bettel, Frevel und Diebereien aller Art und im weitern aus dem Betrieb von allerlei zweideutigen Wandergewerben zu beschaffen suchen. Einen Beweis hiefür bilden die Strafregisterauszüge, die unsern Personalakten über die Zigeuner beiliegen.
Es kann daher ohne dem Buchstaben der Bundesverfassung Gewalt anzutun, gesagt werden, dass diese Kategorie von Fremden, die sich in der Schweiz gesetzlos herumtreibt, keinen festen Wohnsitz hat, sich jeder staatlichen Kontrolle zu entziehen sucht und sich durch zahlreichen Nachwuchs fortwährend vermehrt, die innere Sicherheit unseres Landes gefährdet. Dass unter den Wortlaut des Art. 70 B. V. nur politische Gefährdung falle, ist nirgends ausgesprochen. Den Kantonen wäre in hohem Grade gedient, wenn die Bundesbehörden den Ausweisungsparagraphen in möglichst weitem Sinne interpretieren würden, da der Mangel einer zentralen Polizeigewalt, mit eigener verfassungsrechtlich gegründeter Kompetenz sich vielfach empfindlich geltend macht und auch bei bestem Willen durch kantonale Konkordate und Abreden nicht gehoben werden kann.
Von diesen Gesichtspunkten ausgehend, wurde von dem Unterzeichneten der letzt jährigen Versammlung der kantonalen Polizeidirektoren in Zug, mit Einwilligung und im Beisein des damaligen Vorstehers unseres Departements, die Mitteilung gemacht, das Departement prüfe zur Zeit die Frage, ob nicht die Ausweisung der Zigeuner auf Grund des Art. 70 der BV stattfinden könne. Diese Mitteilung fand ihren Widerhall in dem letzten Bericht der nationalrätlichen Geschäftsprüfungskommission, der sich über die Zigeunerplage wie folgt verbreitet:
«Zu bedauern ist, dass eine internationale Verständigung über die Behandlung der Zigeuner nicht erreichbar zu sein scheint. Trotz aller Bemühungen verschiedener Kantone diese Wanderer, die sozusagen ausnahmslos für den Ort ihres Aufenthaltes eine Belästigung bilden, von unserm Land wegzuhalten, sind auch im Berichtsjahr Zigeuner da und dort aufgetaucht. Sie stellen sich in der Regel durch ihr Verhalten ausser die öffentliche Ordnung und können daher schwerlich auf den Schutz des Fremden, der seine Abgaben zahlt, Kinder in die Schule schickt, seinen Haushalt in geziemender Deckung abspielen lässt, irgend eine Arbeit verrichtet, etc. beanspruchen. Auch die kantonalen Ausweisungen scheinen sie nicht fernzuhalten. Wir schliessen uns der von anderer Stelle gefallenen Anregung an, dass hier entweder die Eidgenossenschaft durch Ausweisung auf ' Grund von Art. 70 der Bundesverfassung - sofern dies angeht - abhelfe, oder dass die Kantone die gegenwärtig ihnen unterbreitete Vereinbarung über Ausweisung von Delinquenten auf die Zigeuner anwenden. Unserer humanen Zeit und auch des Bundesverhältnisses der Kantone zueinander ist das Herumschieben dieser Zigeuner von Kanton zu Kanton nicht würdig.»
Für die diesjährige Konferenz der kantonalen Polizeidirektoren, die am 21. Oktober in St. Gallen stattfinden soll, ist die Zigeunerfrage neuerdings auf die Traktandenliste gesetzt. Es wird über dieses Thema Herr Dr. Mächler (der Referent der nationalrätlichen Geschäftsprüfungskommission über unser Departement) sprechen und dabei wird die Frage zur Erörterung gelangen, ob die Bundesbehörden in der Lage und Willens seien, die Ausweisung der Zigeuner aus dem Gebiete der Eidgenossenschaft von Bundes wegen auszusprechen, oder ob dieses Ziel auf dem Umwege einer kantonalen Vereinbarung erreicht werden müsse. Unter diesen Umständen erscheint es als dringlich, dass der Bundesrat vorher zu der Angelegenheit grundsätzlich Stellung nehme.
Ich erlaube mir daher zu beantragen, es möchte die Bundesanwaltschaft eingeladen werden, sich zu der Frage zu äussern2, und es sei gleichzeitig über die Tragweite des Art. 70 B. V. ein Gutachten der Justizabteilung3 einzuholen; dabei wolle die Angelegenheit derart gefördert werden, dass sie dem Bundesrate vor der am 21. Oktober stattfindenden Konferenz der kantonalen Polizeidirektoren zur Beschlussfassung vorgelegt werden kann4.
- 1
- Bericht: E 21, Archiv-Nr. 20606.↩
- 2
- Im Schreiben vom 10. Oktober 1912 befürwortete die Bundesanwaltschaft die Anwendung von Artikel 70 der Bundesverfassung zur Ausweisung der Zigeuner (E 21, Archiv-Nr. 13316).↩
- 3
- Als Annex abgedruckt.↩
- 4
- Ein Beschluss des Bundesrates kam in der Folge nicht zustande. In einer Note vom 3. April 1914an die deutsche Gesandtschaft regte der Bundesrat - nochmals erfolglos - ein weiteres Mal eine zwischenstaatliche Konferenz an: Es handelt sich hier um Verhältnisse, welche nur im Wege einer besondern Verständigung ihre Lösung finden können. Wir haben eine solche Verständigung auf internationalem Boden bereits im Jahre 1909 angeregt, jedoch ohne ein Entgegenkommen zu finden. Seither ist die Frage ungelöst geblieben und ist um so dringender geworden. Das Bestehen einer stets anwachsenden Bevölkerungsklasse, welche, wo immer sie auftaucht, vertrieben wird, muss sowohl die Menschenfreunde als die Regierungen zum Aufsehen mahnen. Wenn kein Mittel gefunden werden kann, diesen Leuten ein Staatsbürgerrecht zu verschaffen, bezw. ihnen die verlorene Staatsangehörigkeit zurückzugeben, so dürfte es wenigstens möglich sein, sich über die Duldung derjenigen, die einem ehrlichen Broterwerb nachgehen wollen, zu verständigen, ihnen die Eingehung gesetzmässiger Ehebündnisse zu gestatten und sie zu nötigen, ihre Kinder in die Zivilstandsregister eintragen zu lassen. Auf diese Weise würde den Zigeunern die Möglichkeit eröffnet, zu besseren Lebensbedingungen zurückzukehren. Wir erlauben uns daher, Eurer Exzellenz die erneute Anregung zu unterbreiten, es möchte der Versuch gemacht werden, in der Zigeunerfrage eine Verständigung zu erzielen. Da die in der Schweiz aufretenden Zigeuner, wie bereits erwähnt, fast ausschliesslich den süddeutschen Staaten entstammen, so erscheint eine Verständigung zwischen der Schweiz und dem Deutschen Reiche am dringendsten und dürfte demnach in erster Linie anzustreben sein. Es würde sich empfehlen, dass zunächst ein zwangloser mündlicher Ideenaustausch über die ins Auge zu fassenden Ziele und die hiezu dienlichen Mittel zwischen zwei Beamten der beiden Staaten stattfinde, und wir sind gerne bereit, unsererseits zu diesem Zwecke einen Vertreter zu bezeichnen (E 1001 (E) q 1/240).↩
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Politica nei confronti degli stranieri