Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
II. BILATERALE BEZIEHUNGEN
4. China
4.2. Diplomatische Vertretung
Abgedruckt in
Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 5, Dok. 305
volume linkBern 1983
Mehr… |▼▶Aufbewahrungsort
Archiv | Schweizerisches Bundesarchiv, Bern | |
▼ ▶ Signatur | CH-BAR#E2001A#1000/45#1048* | |
Alte Signatur | CH-BAR E 2001(A)1000/45 180 | |
Dossiertitel | Frage betr. Errichtung einer Gesandtschaft in China und betr. Abschluss eines Freundschaftsvertrages (1912–1917) | |
Aktenzeichen Archiv | C.220.30 |
dodis.ch/43160
Meinen Bericht vom 10. d. M.2, über die Lage in China, beehre ich mich ganz ergebenst zu bestätigen.
Die Ereignisse im Reiche der Mitte schreiten rasch und was gestern noch als eine unüberbrückbare Schwierigkeit dargestellt wurde, ist heute bereits zur Thatsache geworden. Dank dem aussergewöhnlichen Geschick von Yuan-Shi-Kai und Dank ohne Zweifel auch dem Patriotismus und der höhern Einsicht der leitenden Männer, erscheint die Republik, bei deren Nennung vor einem Monat noch Jedermann skeptisch lächelte, heute unumstösslich eingesetzt. Der Vize-König der drei östlichen Provinzen, mit dem die Unterhandlungen lange dauerten, hat sich zu der neuen Staatsform erklärt und heute berichten die Zeitungen, dass auch die Frage über den Sitz der Hauptstadt im Sinne von Yuan-Shi-Kai geregelt und Peking auch fürderhin hiezu bestimmt wurde. Damit sind zwei fernere Klippen, welche die Intervention der Mächte hervorzurufen drohten, umgangen worden.
Graf Rex und Sir Claude MacDonald, die als deutsche und englische Vertreter mehrere Jahre hindurch in Peking geweilt haben, sprachen sich beide gestern sehr optimistisch über die Existenzfähigkeit der neuen Republik aus.
Der englische Botschafter gab, auf meine Frage, ob es nicht vielleicht weitsichtiger von den Grossmächten gewesen wäre, zu interveniren und so die Theilung Chinas herbeizuführen, zu, dass die 450 Millionen Chinesen einstens eine ernstliche Gefahr für den Westen werden könnten, um so mehr als er aus Erfahrung - Sir Claude war früher als Offizier in Singapore - die unübertrefflichen Eigenschaften des Chinesen als Soldaten kenne; es wäre jedoch ein derartiges Vorgehen höchst unmoralisch gewesen, was ja ausser Zweifel steht. England hat sich allerdings nicht immer auf diesen hohen Standpunkt gestell und dass Politik und Moral oft nicht zusammen fallen, dafür liegen Beispiele neuesten Datums vor! Sir Claude fügte charakteristisch hinzu: «Ich halte daher um so eifriger an unserer Bündnisspolitik mit Japan fest, denn wenn die Japaner mit den Chinesen auf einen freundschaftlichen Fuss zu stehen kommen, wofür bis jetzt wenig Aussichten vorhanden sind, kann die Gefahr des Zusammengehens der beiden Mächte mit der Zeit eine unabsehbare werden.»
Auch der deutsche Botschafter, der vorgestern auf seinen Posten zurückgekehrt ist und der sich, beiläufig bemerkt, durchaus beruhigt über den allgemeinen Ausblick in Europa aussprach, meinte, dass die Republik definitiv sei, wobei Überraschungen selbstverständlich nicht ausgeschlossen seien. Er hält es für wahrscheinlich, dass anstatt einer Republik, zwei entstehen werden, indem die Elemente im Süden allzusehr mit denen im Norden kontrastieren.
Die Frage, welche Form der republikanischen Regierung zu wählen sei, ob diejenige der Ver. Staaten von Nordamerika oder die unsrige, wird viel besprochen. Der englische Botschafter war der Ansicht, dass die schweizerische Verfassung den Verhältnissen am besten entsprechen würde: Grösste Autonomie der Provinzen bei Kollegial-Executive, sowohl in der Central- als auch in den Provinzialregierungen. Die Allmacht des Einzelnen sei vor allem zu vermeiden. Es ist bezeichnend, dass auch hier in Japan z. Z. unsere Institutionen studiert werden; es sind deren viele, die nicht daran zu zweifeln scheinen, dass Japan beim Tode des Mikados dem Beispiel des grossen Nachbarlandes folgen werde?
Angesichts dieser Sachlage, kann man sich fragen, ob nicht auch für die Schweiz der Moment gekommen sei, der schon öfters erörterten Frage der Errichtung einer diplomatischen Vertretung in China nahe zu treten3. Es hat allen Anschein, dass China binnen wenigen Jahren für uns wirthschaftlich von bedeutend grösserem Interesse sein wird als Japan. Dazu kömmt der intellektuelle und moralische Einfluss, den wir gegebenen Falles auszuüben in die Lage kommen könnten. China wird Männer des Rechts, der Verwaltung, des Unterrichts bedürfen, und warum sollte da nicht die Schweiz, als neutrale Schwesterrepublik, ihre Kräfte mitwirken lassen können?
Indem ich von meiner Person gänzlich Umgang nehme - Sie wissen ja, Hochverehrter Herr Bundespräsident, dass es mein Wunsch ist, baldmöglichst auf einen europäischen Posten versetzt zu werden - stelle ich mir die Sache so vor, dass der hiesige Gesandte auch in Peking akkreditiert würde und dass ihm während eines Aufenthaltes in China jeweilen die Reisekosten, nebst einem Fixum per Tag vergütet würden. Früher oder später würde dann voraussichtlich der Moment kommen, wo er sein ständiges Domizil nach Peking versetzen müsste und nur vorübergehend sich in Japan aufzuhalten hätte. Hier oder dort wäre daneben ein Honorarkonsul zu ernennen.
Vor allem bedürfen wir eines Niederlassungsvertrages mit China. Diesbezüglich erlaube ich mir, hier den Text des schwedisch-chinesischen Vertrages beizulegen. Der schwedische Gesandte ist auch hier akkreditiert und nur vorübergehend in Peking. Mit wem ein solcher Vertrag zur Zeit abzuschliessen wäre, ist allerdings schwer zu sagen, indem eine gesetzliche Vertretung fehlt und Yuan-Shi-Kai kein eigentliches Mandat hiezu besitzt. Die einzuberufende Nationalversammlung wird eine Verfassung auszuarbeiten haben, auf Grund deren erst die Wahl der Volksvertreter und dadurch der verantwortlichen Regierungsorgane zu erfolgen hat.
Obwohl manches Unerwartete bis dahin eintreten kann und auch die Intervention der Mächte in Folge von finanziellen Schwierigkeiten noch nicht gänzlich ausgeschlossen erscheint, so wollte ich doch nicht unterlassen, Sie jetzt bereits auf die Sachlage aufmerksam zu machen, damit eventuell rasch ein Entschluss gefasst werden möge.
Die früher von der schweizerischen Kolonie in China mit Recht vertretene Ansicht, dass wir besser unter dem Schutze einer Grossmacht seien, fällt nunmehr mit der Republik dahin.
- 1
- Politischer Bericht: E 2001 (A), Archiv-Nr. 1055.↩
- 2
- E 2001 (A), Archiv-Nr. 144.↩
- 3
- Anlässlich der 1907 stattgefundenen japanisch-koreanischen Industrieausstellung in Séoul beantragte das EPD am 9. Juli 1907 dem Bundesrat, eine offizielle Reise des schweizerischen Gesandten in Japan nach China nicht zu erlauben, weil wir die Frage der Errichtung einer schweizerischen Gesandtschaft in Peking unpräjudiziert lassen möchten (E 1001 1/ EPD Anträge 1905-1907). Der schweizerische Gesandte in Tokio führte in seinem Bericht vom 3. Dezember 1911 aus: [...] Für uns wird die Frage der Errichtung einer Handelsagentur, eventuell einer diplomatischen Vertretung, falls die Regierung eine liberalere oder gar republikanische werden sollte, von immer grösserer Wichtigkeit und Aktualität, denn bei Beginn einer neuen Ära wird es sich eben darum handeln, den richtigen Mann, an Ort und Stelle zu haben. Ich werde demnächst an das Handelsdepartement hierüber zu berichten die Ehre haben (E 2300 Tokio, Archiv-Nr. 3).↩