Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
II. BILATERALE BEZIEHUNGEN
6. Deutsches Reich
6.5. Mehlzollfrage
Pubblicato in
Documenti Diplomatici Svizzeri, vol. 5, doc. 228
volume linkBern 1983
Dettagli… |▼▶Collocazione
Archivio | Archivio federale svizzero, Berna | |
▼ ▶ Segnatura | CH-BAR#E6#1000/953#71* | |
Vecchia segnatura | CH-BAR E 6(-)1000/953 13 | |
Titolo dossier | Korrespondenz diverser Amtsstellen mit der schweizerischen Gesandtschaft in Berlin, Zeitungsartikel (1906–1908) |
dodis.ch/43083 Der schweizerische Gesandte in Berlin, A. de Claparède, an den Bundesrat1
Nachdem ich bereits seit beinahe drei Wochen dem Auswärtigen Amt die von Ihnen entworfene Note über die Mehlexportprämien überreicht hatte, beabsichtigte ich Anfang der vorigen Woche, mit Herrn Staatssekretär von Schoen über diese Frage mündliche Rücksprache zu nehmen, in der Meinung, er habe sich in der Zwischenzeit über diese Frage Vortrag halten lassen. Ich erhielt gerade dann von Ihrem Landwirtschaftsdepartement die Weisung, die Frage der von süddeutschen Staaten verfügten Vieh-Sperre in München und Karlsruhe sofort mündlich zur Sprache zu bringen. Ich musste daher meinen Besuch bei Herrn von Schoen aufschieben.
Hierher zurückgekehrt, erfuhr ich, dass mich Hr. von Koerner während meiner Abwesenheit zweimal telephonisch angerufen hatte. Ich musste mich daher zu ihm begeben, obgleich ich den Wunsch hegte, mit dem Hrn. Staatssekretär zuerst zu konferieren und ihm gegenüber in entschiedener Weise geltend zu machen, dass die Behandlung der Mehlfrage wie aller in der Junikonferenz besprochenen Zollanstände durch das Auswärtige Amt in der Schweiz ein gerechtfertigtes Befremden hervorgerufen habe. Wäre ich von Hrn. von Koerner empfangen worden, und wäre er, wie ich vermutete, mit sachlichen Mitteilungen an mich herangetreten, so wäre voraussichtlich die Grundlage für meine Bemängelungen und für weitere Auseinandersetzungen geschmälert worden. Ich erfuhr aber im Auswärtigen Amt, dass Hr. von Koerner Tags zuvor einen Wochenurlaub angetreten hatte, und so begab ich mich gestern zu Hrn. von Schoen.
Als Hr. von Schoen den Zweck meines Besuchs erfuhr, sagte er mir gleich, dass die deutschen Grossmüller eine gründliche Erwiderung auf die Denkschrift des Verbandes schweizerischer Müller vorbereiten und glauben, sie können alle in der letzteren enthaltenen Angaben völlig widerlegen. Hierauf antwortete ich, ich beabsichtige nicht, bereits eingereichte Berechnungen zu wiederholen oder technische Fragen zu erörtern, sondern nur auf die weitere Bedeutung der Mehlfrage für die Schweiz hinzuweisen. Immerhin möchte ich zunächst noch feststellen, das wir mit aller Überzeugung auf dem Standpunkt verharren, dass die Gewährung von Einfuhrscheinen im Betrage von 160 kg. Getreide für 100 kg. ausgeführtes Mehl I. Klasse eine Exportprämie ausmache, - und ferner, dass die deutschen Vertreter auf der Junikonferenz, obgleich sie das Vorhandensein von Exportprämien bestritten haben, dennoch damals und später trotz wiederholter Aufforderung den ziffernmässigen Nachweis des Nichtvorhandenseins der Ausfuhrprämie schuldig geblieben sind. Dies scheine der beste Beweis für die Richtigkeit unsrer Behauptung zu sein!
Dann fuhr ich fort, indem ich hervorhob, dass das gänzliche Stillschweigen des Auswärtigen Amts seit bald elf Monaten sowohl in der Mehlfrage als auch über die ändern auf der vorjährigen Konferenz besprochenen Beschwerden in den beteiligten wie auch in weitern Kreisen ein begreifliches Befremden und eine tiefe Verstimmung verursacht habe. Wohl wisse man bei uns in amtlichen Kreisen, dass in Deutschland die ressortmässige Behandlung von Zollanständen langatmig sei; allein die in ihren Interessen schwer geschädigten Industriellen könnten diese Behandlungsweise unmöglich begreifen. Sie erblickten in diesem Schweigen eine Absicht, und ihre Verstimmung steigere sich um so mehr, je länger der Zustand der Unsicherheit und ihre Notlage daure. Mit den Müllern, die am härtesten betroffen sind und am meisten klagen, klagten auch unsre Sticker, Fabrikanten von Hutgeflechten etc., etc. Ihre Verstimmung verbreite sich in Fachblättern, in der politischen Presse sowie in der Bundesversammlung und drohe die guten politischen Beziehungen zwischen beiden Ländern zu beeinträchtigen. Es werde mit jedem Tag dem Bundesrat vorgehalten, dass gerechte, seit einem Jahr oder länger angebrachte Beschwerden gänzlich unberücksichtigt bleiben.
Was speziell die Müllereifrage anbetreffe, so führte ich weiter an, könne der schweizerische Bundesrat sie wegen ihrer wirtschaftlichen Bedeutung sowie wegen ihrer Bedeutung für die Wehrkraft des Landes unmöglich preisgeben. Der schweizerische Bundesrat habe, in der zuversichtlichen Hoffnung, bei der Reichsregierung das nachgesuchte Entgegenkommen zu finden, bisher den an ihn gestellten Zumutungen nicht entsprochen; er könne sich aber dem Ernst der Frage nicht verschliessen, ebensowenig wie der Einsicht, wie schwierig es wäre, sich der Einführung von Zollzuschlägen auf die Dauer zu widersetzen. Über die Folgen in wirtschaftlicher Hinsicht sei er sich klar: es würde einen bedauerlichen wirtschaftlichen Krieg bedeuten, dessen Umfang und Ende vorerst nicht abzusehen wäre. Viel schlimmer und noch mehr zu beklagen wäre ein Zollkrieg in politischer Hinsicht. Es seien die Regierungen beider Länder seit Jahren bestrebt gewesen, die gegenseitigen Beziehungen möglichst gut zu gestalten und zu befestigen. Man müsste befürchten, dass schroff widerstreitende wirtschaftliche Interessen eine höchst bedauerliche Rückwirkung in politischer Beziehung haben würden.
Ich schloss meine Ansprache, indem ich sagte, dass jede Frage ihre zwei Seiten habe. Die Herren von den innern Ressorts behandelten die Mehlfrage und die ändern Zollanstände lediglich vom fiskalischen Standpunkte aus, wie auch mit Berücksichtigung der Konsequenzen im Verkehr mit dritten Staaten; die politische Seite der Fragen ginge sie nichts an. Diese aber gehe ihn (von Schoen) an, und daher bitte ich ihn dringend, sie vom politischen Standpunkte aus zu betrachten und zur Erledigung bringen zu lassen.
Herr von Schoen erwiderte hierauf, dass er auf die Pflege guter Beziehungen mit uns auch den grössten Werte lege; es wäre aber verfehlt, zu glauben, dass aus an sich geringfügigen wirtschaftlichen Fragen, die von Deutschland immer in sachlichem und freundschaftlichem Sinne zur Behandlung gelangen sollen, eine weitere Verstimmung entstehen könnte. Aus seiner diplomatischen Erfahrung wisse er, dass kleine Länder oft gegen grosse Nachbarn misstrauisch seien. Er begreife dieses Misstrauen; aber gerade weil er es begreife, sei er bestrebt, den kleinen Nachbarländern, insbesondere der Schweiz, möglichst grosses Entgegenkommen zu erweisen. Die vorliegenden Anstände sollen unsre guten Beziehungen in keiner Weise beeinträchtigen. Ich erwiderte hierauf, dass bei uns von einem Misstrauen keine Rede sein könne, worauf ich angespielt hätte, sei, dass das allzu lange Ausbleiben einer Antwort, die vor bald einem Jahre in nahe Aussicht gestellt worden sei, in den beteiligten Kreisen eine unerwünschte Verstimmung verursache, und dass ich mich eben deshalb, um eine solche nicht weiter aufkommen zu lassen, veranlasst gesehn hätte, mich offen und vertrauensvoll an ihn zu wenden.
Dann sagte mir Hr. von Schoen: «Sie haben recht, die Behandlung der schwebenden Fragen dauert zu lange: Noch gestern habe ich Hrn. von Koerner gesagt, es könne so nicht weiter gehn, wir müssten auf die innern Ressorts endlich ganz gewaltig drücken! Ich bat auch Hrn. von Koerner, mir die Akten vorzulegen; er meinte, sie hätten sich derart angesammelt, dass ich keine Zeit haben würde, sie durchzulesen, und dabei beträfen sie rein technische Fragen!» Dann meinte Hr. von Schoen, er habe sich die Sache überlegt: Man müsse die Frage im Wege einer neuen Besprechung zur Erledigung bringen und sehn, dass wir endlich die «verfluchten innern Ressorts» klein kriegen. Ich fragte ihn dann, was er mit einer solchen Besprechung meine, ob dabei die Mehlfrage und alle Zollanstände zur Behandlung kommen sollten. Er äusserte sich in bejahendem Sinne und fügte hinzu, eine Begegnung von Delegierten der beiden Regierungen dürfte nicht den Charakter eines Schiedsgerichts, - das viel zu schwerfällig sei - haben, sondern einer Zusammenkunft von Delegierten beider Regierungen, wobei eventuell ein Obmann bezeichnet werden könnte! Diese in sehr freundlichem Ton gehaltenen Mitteilungen machten mir den Eindruck, dass Hrn. von Schoen von Hrn. von Koerner die Abhaltung einer neuen konferenziellen Besprechung vorgeschlagen worden sei. Ich bin in dieser Ansicht dadurch bestärkt worden, dass mich Hr. von Koerner am letzten Donnerstag telephonisch anrufen liess, während nach Hrn. von Schoen seine Besprechung mit Hrn. von Koerner am folgenden Tag stattgefunden hatte. Offenbar wollte mich Hr. von Koerner am Donnerstag sondieren. Auch erschien mir die letzte Mitteilung des Hrn. von Schoen (Zusammenkunft von Delegierten beider Regierungen mit eventueller Zuziehung eines Obmannes!) etwas unklar. Ich hatte den Eindruck, als sei ihm in der Tat ernstlich daran gelegen, die streitigen Fragen aus der Welt zu schaffen; über den weitern modus procedendi aber sei er noch nicht schlüssig und gedenke, ihn voraussichtlich Hrn. von Koerner zu überlassen. Ich werde wohl nach der in wenigen Tagen erfolgenden Rückkehr des Hrn. von Koerner näheres über die Absichten des Auswärtigen Amtes erfahren2.
- 1
- Schreiben: E 6/20.↩
- 2
- Am 28. April 1908 schlug Deutschland nochmals eine Konferenz vor. Am 1. Mai 1908 beschloss der Bundesrat die Zustimmung zum deutschen Vorschlag unter der Bedingung, dass den Delegierten zur definitiven Erledigung der Anstände beiderseits Vollmacht erteilt, dass deutscherseits ein sofortiger oder ganz kurzfristiger Vollzug der mündlich und endgültig zu vereinbarenden Lösung zugestanden werde, und dass die Konferenz spätestens Mitte Mai stattfinde (E 1004 1/232). Nachdem Deutschland diese Bedingungen angenommen hatte, berichtete der Gesandte am 2. Mai 1908 aus Berlin: Im Gespräch kam Hr. von Koerner wieder darauf, dass Deutschland jetzt das Mehl an die Schweiz liefere, welches Letztere früher von Frankreich bezog: etwas mehr allerdings, aber keineswegs in exhorbitanter Weise; die vermehrte Gesamtmehleinfuhr der Schweiz entspräche, nach seiner Ansicht, dem vermehrten Wohlstände unseres Landes und der Zunahme des Fremden- Verkehrs. (Ich teile Ihnen dies mit, Herr Bundesrat, damit Sie bezügliche Erhebungen für die Konferenz veranlassen können). Zum Schluss sagte Herr von Koerner, er sehe immer nicht ein, wie die Reichsregierung die Richtigkeit unseres Standpunktes in der Mehlfrage anerkennen könnte, allein, fügte er hinzu, in Anbetracht der Erregung, welche diese Frage in der Schweiz verursacht hat, sei die Reichsregierung bestrebt, einen Ausweg zu finden, um dem Bundesrate möglichst entgegenzukommen. Es schien mir beinahe, als erwartete er einen Wink. Ich werde morgen Herrn von Schoen wieder aufsuchen und ihn dringend bitten, seinen ganzen Einfluss bei den beteiligten Reichsämtern geltend zu machen, damit auf der Konferenz nicht allein die schwebenden Zollanstände erledigt, sondern auch die Mehlfrage in erschöpfender Weise behandelt werden könne (E 6/12).↩
Tags