Classement thématique série 1848–1945:
IV. QUESTIONS OUVRIÈRES
1. Protection légale des travailleurs
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 4, doc. 6
volume linkBern 1994
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E23#1000/715#6* | |
Old classification | CH-BAR E 23(-)1000/715 1 | |
Dossier title | Internationale Konferenz für Arbeiterschutz in Berlin 15.-29.03.1890: Verhandlungen über Nichtabhaltung der Berner Konferenz infolge Einberufung einer internationalen Konferenz in Berlin (1890–1890) |
dodis.ch/42416
Über die unmittelbare Vorgeschichte der Ihnen gestern Abend telegraphisch zur Kenntniss gebrachten Erlasse des Kaisers an den Reichskanzler und an die Königlich preussischen Minister für öffentliche Bauten und für Handel und Gewerbe2 ist mir gestern Abend spät von in der Regel sehr gut unterrichteter Seite her streng vertraulich Folgendes mitgetheilt worden:
Seit den bekannten Bergmann’s Arbeits-Ausständen habe der Kaiser sich unausgesetzt mit der Arbeiter-Frage beschäftigt. Die Berathungen über das Sozialisten-Gesetz im Reichstage und das negative Ergebnis derselben, in Verbindung mit der allgemein vertretenen Prognose, dass die bevorstehenden Reichstagswahlen ein erhebliches Anwachsen der sozialdemokratischen Bewegung, bezw. der sozialdemokratischen Wähler documentiren werden, dürften nicht unerheblich dazu beigetragen haben, bei dem Kaiser den Entschluss zur Reife zu bringen, in dieser Frage von sich aus entscheidend einzugreifen. Es verlaute bestimmt, dass er in der Frage der Ablehnung des Sozialistengesetzes, wie dasselbe aus der zweiten Berathung des Reichstags hervorgegangen, sich nur sehr schwer habe entschliessen können, dem Drängen des Reichskanzlers nachzugeben und dass er in Folge der hiedurch geschaffenen Situation mit erneuerter Energie nach einer Lösung auf anderm und zwar auf positivem Boden gesucht habe. Hiemit ständen die zahlreichen Unterredungen in Verbindung, welche der Kaiser in neuerer Zeit mit verschiedenen Gross-Industriellen, wie z. B. Stumm, etc., und dann auch mit dem Oberpräsidenten der Rheinprovinz (nunmehrigen Handelsminister von Berlepsch) gepflogen habe. Er, der Kaiser, lasse sich hiebei von dem Grundgedanken leiten, dass die Staatsregierung die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie nur dann mit gutem Gewissen und eventuell mit Anwendung von Gewaltmassregeln bekämpfen könne, wenn der Staat den Arbeitern gegenüber voll und ganz seine Pflicht thue, was bis jetzt, nach seinem Dafürhalten, nicht der Fall gewesen. Nach dieser Richtung, also auf positivem Boden wolle er das sozialpolitische Programm des Kaisers Wilhelm I. weiter ausführen. Einen Erfolg verspreche er sich hiebei aber nur unter der Bedingung, dass man diese Fragen international zu lösen suche. Es unterliege auch keinem Zweifel, dass die Anregungen, welche diesbezüglich von Bern ausgegangen seien, bei den gedachten Entschliessungen des Kaisers bestimmend mitgewirkt haben. Gerade mit Rücksicht auf dieses letztere Moment sei er aber bei dem Reichskanzler auf zähen Widerstand gestossen, da letzterer bekanntlich derartigen internationalen Abmachungen durchaus abhold sei. Er, der Kaiser, habe den Erlass vom 4. d.M., nämlich den ersten der gestern veröffentlichten Erlasse, welcher an den Reichskanzler gerichtet ist, von letzterm förmlich erstreiten müssen. Man ersehe dies auch aus der Redaktion; dieselbe lasse die möglichst abschwächende Beschneidung durch den Reichskanzler an verschiedenen Stellen deutlich erkennen. Während bis vor kurzem allgemein angenommen worden sei, die Übertragung des Handelsministeriums an den H. v. Berlepsch sei ausschliesslich zu dem Zwecke erfolgt, den Reichskanzler auf seinen Wunsch hin etwas zu entlasten, welche Entlastung umso dringlicher geworden sei, als das Bergwerk-Wesen von dem ebenfalls überlasteten Ministerium der öffentlichen Arbeiten habe abgetrennt und auf das Ministerium für Handel übertragen werden müssen, so heisse es jetzt, als der Kaiser seinen Entschluss, der internationalen Regelung der Arbeiter-Frage näher zu treten, dem Reichskanzler mitgetheilt habe, sei von letzterm erwidert worden, das könne er nicht befürworten, hiefür müsste ein anderer Handelsminister gefunden werden, worauf der Kaiser sofort geantwortet habe, der sei in H. v. Berlepsch auch bereits gefunden. So ganz ohne dürfte also das Gerücht, der Wechsel betr. das Handelsministerium sei auf Frictionen zwischen dem Kaiser und dem Reichskanzler zurückzuführen doch nicht gewesen sein. (Nebenbei sei erwähnt, dass der Reichskanzler neulich, bei dem Dîner am 27. Januar, bei der Unterhaltung nach Tisch den Botschaftern gegenüber wiederholt demonstrativ betont hat, wie sehr er sich darnach sehne, von gewissen innern Angelegenheiten entlastet zu werden).
Allgemein sei sogleich bemerkt worden, wie das Programm des Kaiser’s in dem zweiten Erlasse vom 4. d. M., nämlich in demjenigen, welcher an die preussischen Minister für öffentlichen Bauten einer- und für Handel und Gewerbe anderseits gerichtet ist, viel ausführlicher und bestimmter zum Ausdruck gelangt sei, als in dem ersten. Das rühre eben daher, dass der Kaiser über die Fassung dieses letzteren Erlasses mit dem Reichskanzler nicht näher verhandelt und bei der Abfassung desselben völlig freie Hand gehabt habe.
Dass die gedachten Frictionen, bezw. Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Kaiser und dem Reichskanzler betreffend das Verhältnis des letztem zum ersteren unmittelbare, ernstere Folgen habe könnten, werde nicht angenommen.
Darüber, wie nun das Programm des Kaisers in Folge der beiden Erlasse zur Ausführung gelangen soll, d.h. über den hiefür zu wählenden modus procedendi wäre zur Stunde ein in die Details eingehendes Urtheil entschieden verfrüht. Hiefür muss eine Klärung der Sachlage abgewartet werden.
Für den Hohen Bundesrath aber scheint mir, wie ich in meinem heutigen chiffrirten Telegramm angedeutet habe3, bereits jetzt schon der Moment gekommen zu sein, sich darüber schlüssig zu machen wie er sich zu den von dem Kaiser in Aussicht genommenen internationalen Berathungen stellen will, nachdem er am 28. Jan. 1. J. beschlossen hat, an die Regierungen der europäischen Industriestaaten zu einer Conferenz betr. Arbeiterschutz für den 5. Mai l.J. in Bern, Einladungen ergehen zu lassen, welche Einladungen vielleicht zur Stunde schon von Bern abgegangen sind. Ich habe vorläufig die Empfindung, dass wir bei der jetzigen Sachlage mit dem unbedingten Beharren auf der Berner-Conferenz wenig Glück haben würden und dass es sich empfehlen dürfte, die Ausführung des gedachten Bundesraths-Beschlusses sofern es noch möglich bis zur Klärung der Situation zu suspendiren. Es schiene mir unbedingt rathsam, dass bis dahin überhaupt jede Beschlussfassung des Bundesrathes in Sachen unterbleibe, und zwar auch für den Fall, dass die Einladungen schon abgegangen sein sollten.
Eben unmittelbar vor Postschluss erhalte ich Ihr chiffrirtes Telegramm von heute Nachmittag.4 Ich werde mir alle erdenkliche Mühe geben, Ihnen die gewünschten Informationen baldmöglichst zukommen zu lassen.
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International workers‘ protection