Abgedruckt in
Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 3, Dok. 183
volume linkBern 1986
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Archiv | Schweizerisches Bundesarchiv, Bern | |
▼ ▶ Signatur | CH-BAR#J1.2#1000/1310#160* | |
Alte Signatur | CH-BAR J 1.2(-)1000/1310 14 | |
Dossiertitel | Roth Arnold, Schweizer Gesandter in Berlin (1876–1891) | |
Aktenzeichen Archiv | 8-116 |
dodis.ch/42162
Heute habe ich den Feldmarschall Moltke in seiner Wohnung aufgesucht und gesprochen.
Nachdem ich denselben – die Conversation einleitend – dafür beglükwünscht, dass der neuliche Brand im Generalstabsgebäude keine grössern Dimensionen erreicht und dass er persönlich hiebei keinen Schaden genommen, sprach ich ihm zunächst meinen Dank aus für die Zusendung der Winterfeld’schen Brochure, mit dem Beifügen, ich habe dieselbe natürlich mit grossem Interesse gelesen; da aber Winterfeld die Idee der Nothwendigkeit einer, wenn auch numerisch noch so bescheidenen stehenden Armee vertrete, so könne dieses Schriftchen, nach meiner Ansicht, nur in sehr beschränktem Maasse praktische Berüksichtigung finden etc.
Der Feldmarschall liess sich hierauf in folgender Weise vernehmen:
«Es ist nicht zu bestreiten, dass die Winterfeld’sche Ansicht, betreffend das Erforderniss einer stehenden Armee für die wirksame Vertheidigung der zu errichtenden Befestigungswerke, vom fachwissenschaftlichen Standpunkte aus als die allein rationelle Lösung der Frage aufgefasst werden muss. Sie haben jedoch in der Schweiz mit ändern Factoren ebenfalls zu rechnen und ich begreife recht gut, dass Sie auf diese Grund-Idee nicht eintreten können.
Die Frage, welches System Sie bei den gegebenen Verhältnissen wählen sollen, vermag ich nicht zu beantworten. Hiefür sind eingehende Studien nothwendig, welche übrigens – wie ich vernommen – bei Ihnen in der Schweiz seit längerer Zeit gemacht werden. Gerade jetzt soll die betreffende Commission in Bern versammelt sein. Natürlich wird es für mich von besonderm Interesse sein zu erfahren, wie dieselbe die Frage zu lösen gedenkt.
Aus der Winterfeld’schen Brochure geht hervor, dass die topographische Beschaffenheit Ihrer West-Gränze derart ist, dass Sie mit Grenz-Forts eine eigentliche Sperre nicht erlangen können. Die Grenz-Forts könnten umgangen werden, wenigstens mit Infanterie und leichter Cavalerie und Artillerie. Doch würden dieselben die Invasion der gegnerischen Armee unter allen Umständen wesentlich erschweren und Ihnen Zeit verschaffen, Ihre Armee-Korps an den maassgebenden Punkten zu concentriren.
Betreffend Centralbefestigung habe ich wirklich keine rechte Idee darüber, welchen Punkt Sie hiefür zu wählen hätten. Sie haben ja keine eigentliche Hauptstadt, mit deren Fall Alles als verloren betrachtet werden müsste, wie dies z. B. bei Paris eintrat.
Dann haben Sie ja auch ein gutes Eisenbahnnetz und vortreffliche Strassen, welche Ihnen gestatten, die einzelnen Armee-Corps rasch auf den gefährdeten Punkten zur Hand zu haben.
Im Weitern werden Sie sich mit provisorischen, je nach der Lage der Dinge beim Herantreten eines Krieges auszuführenden Befestigungsarbeiten bis zu einem gewissen Grade ebenfalls schützen können.
Bei der Behandlung der Frage im Allgemeinen müssen Sie natürlich auch die ändern Gränzen in Betracht ziehen. Das begreife ich ganz gut. Ich wiederhole Ihnen aber, dass Sie von uns nichts zu befürchten haben. Wir haben kein Interesse, in die Schweiz einzudringen, um Frankreich an seiner starken, durch eine ganze Tirailleurs-Kette von Festungswerken geschützten Ost-Front anzugreifen. Von unserer Seite wird eine Verletzung der schweizerischen Neutralität nie erfolgen, wenn dieselbe nicht von anderer Seite missachtet wird. Der Gedanke liegt allerdings nahe, dass die Franzosen gegebenen Falls ihren Weg durch die Schweiz nehmen würden, denn, wollen sie nach Deutschland eindringen, so dürften sie zur Zeit hiefür nur Belgien und die Schweiz in Aussicht nehmen. Belgien hat aber eine stehende Armee. Dieselbe ist zwar nicht sehr leistungsfähig und numerisch unbedeutend. Doch hat man sie sofort bei der Hand und es wird dieselbe durch die feste Stellung von Antwerpen unterstützt, so dass die Verletzung der belgischen Neutralität den Franzosen immerhin eine Armee von ca. 100,000 Mann lahm legen würde. Sie dagegen müssten sich erst organisiren. Somit scheint die Schweiz in der That eventuel französischerseits stärker bedroht, als Belgien. Für diesen Fall erachte auch ich die Einbruchsrichtung Lyon, Genf, Waadtland als die wahrscheinlichste, denn Frankreich huldigt ja auch dem Nationalitäten-Princip und könnte demgemäss darauf bedacht sein, Genfund Waadt für sich zu erwerben. Die Zustimmung Italiens würde es dann dadurch zu erkaufen suchen, dass es ihm, wieder gestützt auf das Nationalitäten-Princip, Tessin überlassen würde. Das ist der jetzt grassirende Panslavismus in anderer Form.»
Hiemit war die Conversation eigentlich zu Ende. Meine Zwischenbemerkungen lasse ich unberührt. Ich sprach nur so viel, als absolut nothwendig war, um die Unterredung im Fluss zu halten und auf diejenigen Punkte zu leiten, über welche ich Auskunft gewünscht hätte. Wie Sie sehen, war aber die Ausbeute sehr mässig. Namentlich blieb mir der Feldmarschall die Beantwortung der Hauptfrage, welches System wir wählen sollen, schuldig. Übrigens glaube ich wirklich nicht, dass er persönlich mit den Detailsstudien vertraut ist, was auch bei seinen 80 Jahren leicht zu begreifen ist.
Vergleichen Sie seine heutigen Äusserungen mit meinen diesbez. Mittheilungen vom 7. Märzv. J.2, so werden Sie letztere zwar zum Theil bestätigt, nach verschiedenen Richtungen dagegen doch erheblich modificirt finden. Namentlich ist dies der Fall mit Rüksicht auf die nunmehr zugegebene Möglichkeit oder, richtiger gesagt, Wahrscheinlichkeit der Verletzung unserer Neutralität durch Frankreich, mit der Consequenz, dass dann auch für Deutschland die Nothwendigkeit eintreten könnte, sich nicht mehr an die Beobachtung derselben zu halten; ferner auch mit Bezug auf den praktischen Nutzen der Sperrforts, sowie auch betreffend die Beurtheilung der Widerstandskraft Belgiens.
Dass ich den Feldmarschall nicht eindringlicher zu positiven Mittheilungen zu veranlassen suchte, werden Sie gewiss billigen, denn die Conversation hätte durch ein weiteres Insistiren meinerseits einen mit unserer Sache und mit meiner Stellung unverträglichen Charakter erhalten.
Interessant war für mich, le peu de cas, welchen Moltke aus dem gegenwärtig in Frankreich demonstrativ zur Schau getragenen Friedensbedürfniss macht. Er sagte: «Man spricht jetzt in den maassgebenden politischen Kreisen Frankreichs überall von Frieden; die opinion publique ist aber unbeständig und ein Tirann und wenn sie morgen schreit ‹à Berlin›, so brüllt Alles mit.»