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Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 26, doc. 4
volume linkZürich/Locarno/Genève 2018
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#J1.301#2002/197#57* | |
Old classification | CH-BAR J 1.301(-)2002/197 10 | |
Dossier title | Vorträge I.Teil (1974–1974) | |
File reference archive | 51 |
dodis.ch/39024 EUROPEAN MANAGEMENT FORUM
Das Europäische Management Forum, das jetzt zum dritten Mal in Davos zusammentritt, ist bereits zu einem festen Treffpunkt für die Diskussion der europäischen Wirtschaftsfragen geworden2. Wenn mir heute die Ehre zufällt, Sie im Auftrag des schweizerischen Bundesrates in der Schweiz herzlich willkommen zu heissen, tue ich dies mit besonderer Freude; nicht nur, weil wir Schweizer traditionellerweise gerne Gäste in unserem Lande beherbergen, sondern weil wir überzeugt sind, dass gerade diese Art von Treffen für die Bewältigung der künftigen Aufgaben durch die europäische Wirtschaft sehr bedeutsam ist. Die Leitung eines Unternehmens ist heute mit einem Mass an Verantwortung verbunden, das weit über die unmittelbare Sorge um das Wachstum der Bilanz und des eigenen Geschäftsgewinnes hinausgeht. Die freie Wirtschaft wird sich nur so lange behaupten können, als sie diese weiter gespannte Verantwortung gegenüber der Gesellschaft anerkennt und übernimmt und in ihrer Unternehmensstrategie berücksichtigt. Gerade in Zeiten wirtschaftlicher Spannungen und Gleichgewichtsstörungen besteht die Gefahr eines wachsenden gegenseitigen Misstrauens zwischen dem privaten Unternehmertum, den Verantwortlichen für die staatliche Wirtschafts- und Währungspolitik und der öffentlichen Meinung. Es wäre verhängnisvoll, wenn sich hier ein Graben öffnen würde, und es gehört wohl zu den wichtigsten Aufgaben, mögliche Lücken des Verständnisses auszufüllen und angesichts der unbewältigten Wachstums-, Konjunktur- und Welthandelsprobleme das Bewusstsein für die Zusammenhänge zwischen privater Unternehmenspolitik und staatlicher Wirtschafts- und Sozialpolitik zu fördern. Ich bin überzeugt, dass dieses Forum dank der anwesenden Persönlichkeiten hiezu einen wertvollen Beitrag leisten wird.
Sie haben Ihre Tagung unter das Motto «Gestaltung der Zukunft des Unternehmertums in Europa» gestellt. Dieses Thema ist in Anbetracht der am 1. Januar in Kraft getretenen Erweiterung der Europäischen Gemeinschaften3 und der durch den Abschluss von Freihandelsabkommen mit den übrigen EFTA-Staaten4 sowie der Weiterführung der EFTA5 unter diesen Länder verwirklichten europäischen Gesamtlösung besonders zeitgemäss. Neue Rahmenbedingungen sind für den europäischen Handel und die wirtschaftliche Zusammenarbeit geschaffen worden, die das private Unternehmertum mit wirtschaftlichem Gehalt zu füllen hat. Wir stehen an der Schwelle einer weiteren und höchst bedeutsamen Etappe in der Gestaltung der europäischen Beziehungen. Die politische Bedeutung dieser Gesamtlösung erblicken wir darin, dass sie einen gemeinsamen Willen von 16 europäischen Staaten zum Ausdruck bringt und den Geboten der guten Nachbarschaft, der zur Vielfalt Europas gehörenden Sonderstellung der neutralen Länder, ebensosehr Rechnung trägt wie dem Willen zur Fortsetzung und Vertiefung der Integration im erweiterten Kreis der Mitgliedstaaten der EWG. Es ist mir ein Anliegen, die Gelegenheit zu benützen, um allen Verantwortlichen in der Gemeinschaft und in der EFTA für die Verwirklichung dieses wichtigen Schrittes zu danken.
Wie Sie wissen, hat die Schweiz als einziges Land das Freihandelsabkommen dem Referendum unterstellt. Es ist anfangs Dezember mit grosser Mehrheit vom Volk gutgeheissen und von sämtlichen Kantonen angenommen worden6. Die konsequente Fortsetzung unserer Politik der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in einem erweiterten europäischen Rahmen ist somit in eindeutiger Weise vom Volke gutgeheissen worden. Wir fühlen uns mit den Europäischen Gemeinschaften in dieser neuen Partnerschaft auch deshalb näher verbunden, weil die Notwendigkeit für den einzelnen Bürger, Stellung zu beziehen, wesentlich zur Bewusstseinsbildung über die europäischen Zusammenhänge beigetragen und zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Tätigkeit, den bisherigen Errungenschaften und den weitgesteckten Zielen der EWG ge führt hat. Presse und Massenmedien räumen den europäischen Angelegenheiten einen breiten Raum ein. Wir sind uns gerade auch als Nichtmitgliedstaat bewusst, dass Erfolg oder Misserfolg der europäischen Integration sich nicht nur auf den engeren Kreis der Mitglieder auswirken wird. Wir wissen, dass hier auch unsere Zukunft entscheidend mitbeeinflusst werden kann.
Gerade deshalb aber wird von manchen die Frage gestellt, welche Möglichkeiten der Konsultation und des Zusammenwirkens für einen Kleinstaat als Freihandelspartner mit der EWG bestehen und wie am besten mit der Entwicklung Schritt gehalten werden kann, ohne an die Grenzen der Neutralitätspolitik zu stossen, aber auch ohne in ein Abhängigkeitsverhältnis zu geraten. Das Freihandelsabkommen hat diese Frage der Modalitäten für eine ausgedehntere Zusammenarbeit offen gelassen, jedoch in seiner «Entwicklungsklausel» ausdrücklich vorgemerkt. Professor Dahrendorf, ein treuer Teilnehmer an diesem Symposium, hat hiezu kürzlich die Meinung vertreten, dass keine andere Beziehung so sehr zum Massstab der Reife der Europäischen Gemeinschaften werde wie die zu ihren eigenwilligen Nachbarn7. Darauf möchte ich antworten, dass die Eigenwilligkeit uns nicht davon dispensieren soll, auch unserseits die nötige europäische Reife an den Tag zu legen, um eine vertrauensvolle und konstruktive Zusammenarbeit zu ermöglichen.
Sicher gilt es zunächst, die neugeschaffenen Kontaktgelegenheiten voll auszuschöpfen und das Gespräch nicht mit technischen Durchführungsfragen enden zu lassen. So kann auch dieses inoffizielle Forum dazu dienen, sich die Gemeinsamkeit der Probleme und Aufgaben vor Augen zu halten, um umso eher den Weg zu vereinbarlichen Lösungen zu finden.
Zu diesen Aufgaben gehört zweifellos die Sorge um die Auswirkungen des grossen Wirtschaftsraumes auf die Produktions- und Bevölkerungsstruktur und auf die Lebensbedingungen. In unserer öffentlichen Diskussion über das Freihandelsabkommen ist die Frage nach dem Schicksal der Klein- und Mittelbetriebe unter den neuen Wettbewerbsverhältnissen im Vordergrund gestanden. Die Sorge wurde geäussert, dass die von der Integration ausgehende Dynamik die Bildung von industriellen Ballungszentren noch beschleunigen und zu einer Entleerung der weniger entwickelten Regionen, der Berg gebiete, führen und die Umwelt noch mehr gefährden könnte. Ist die Befürchtung berechtigt, dass mit den neuen Dimensionen das wirtschaftliche Wachstum endgültig das Primat über die qualitativen Aspekte des Lebens erhält, oder besteht zwischen den europäischen Ländern ein übereinstimmender Wille, dieser Tendenz entgegenzuwirken?
Dass Sie gerade diesen Problemen in der Liste der geplanten Vorträge und Gruppenarbeiten einen breiten Raum einräumen und dass sich die zahlreichen hier anwesenden hohen Beamten der Europäischen Kommission hiefür als Diskussionsleiter zur Verfügung gestellt haben, beweist, dass diesen Fragen und Anliegen nicht nur Beachtung geschenkt, sondern besondere Priorität eingeräumt wird. Sie können dabei des wachen Interesses und der grossen Aufmerksamkeit unserer Öffentlichkeit gewiss sein.
So sehr bei Beginn dieses Jahres die Gestaltung der europäischen Zukunft im Rahmen der erweiterten Gemeinschaften und des umfassenden Freihandelsraumes die schöpferischen Kräfte der Behörden und Wirtschaftsführer herausfordert, so dringend ist aber auch die Befassung mit den Beziehungen zur übrigen Welt. Die Interdependenz und die globalen Zusammenhänge sind augenfällig und spürbar. Im Verhältnis zu Osteuropa stellt sich die Frage der längerfristigen Auswirkungen der von diesen Ländern angestrebten Formen der industriellen Kooperation; im Verhältnis zur Entwicklungswelt die Frage, mit welchen Mitteln die Ziele des zweiten Entwicklungsjahrzehnts zu verwirklichen sind und die entwicklungspolitischen Massnahmen, aber auch die privatwirtschaftliche Investitionstätigkeit, sich in ihrer Wirkung gegenseitig verstärken lassen. Vor allem aber dulden die Bemühungen um die Wiederherstellung eines weltwirtschaftlichen Gleichgewichts und einer stabilen internationalen Währungsordnung keinen Aufschub. Hier liegt eine gemeinsame Verantwortung Europas, der Vereinigten Staaten und Ja pans. Das laufende Jahr soll den Beginn einer neuen Welthandelsrunde im GATT bringen, die den Bereich der klassischen Zollpolitik, wie er in der Kennedy-Runde noch im Vordergrund stand, sprengen und auf Fragen der nicht-tarifären Handelshemmnisse sowie der Anpassung an die neuen Weltwirtschaftsverhältnisse übergreifen wird8.
Indem auch diese Aspekte auf dem Programm Ihrer Tagung stehen, bekundet das Europäische Management Forum, dass es die europäische Entwicklung nicht als rein innereuropäische Angelegenheit betrachtet, sondern in einem weltweiten Zusammenhang sieht. Dieser «outward look» scheint uns besonders wichtig, denn durch den Fortschritt in Europa soll die Aussenwelt nicht benachteiligt werden – es werden sich im Gegenteil auch hier neue Perspektiven eröffnen. Das Interesse und die Bereitschaft der überseeischen Partner, das Gespräch aufzunehmen, finden ihren Ausdruck in der Teilnahme aussereuropäischer Persönlichkeiten an den Beratungen in Davos, denen ich einen besonderen Willkommensgruss entbieten möchte.
So bleibt mir nur noch, Ihrer Tagung vollen Erfolg zu wünschen. Das hohe Ansehen der beiden Programmleiter und die Persönlichkeit der Referenten sowie die Qualität der organisatorischen und technischen Vorbereitungen lassen an diesem Erfolg nicht zweifeln. Die Initianten und Gestalter der europäischen Politiken – und wir sind froh, nicht weniger als drei Mitglieder der neuen Euro päischen Kommission als Teilnehmer an diesem Symposium begrüssen zu dürfen – werden hier in Davos mit Wirtschaftsführern, Handelspolitikern und Exponenten der Wirtschaftswissenschaft das Gespräch aufzunehmen, um die Ziele der Gemeinschaft mit den Erfordernissen der europäischen Wirtschaft zu konfrontieren und die für ein wirklichkeitsnahes Vorgehen unerlässliche Partnerschaft zwischen Politik und Wissenschaft zu festigen.
Ich hoffe aber auch, dass der Aufenthalt in dieser prächtigen Bergwelt für Sie alle ein besonderes Erlebnis sein und Ihnen gestatten wird, sich etwas zu erholen. Ich habe festgestellt, dass in Ihrem Programm derjenige Tag als «Swiss Day» bezeichnet wird, den Sie dem Wintersport und der Folklore widmen. Die Schweiz spielt diese Rolle gern. Aber ich brauche in diesem Kreise kaum hervorzuheben, dass die Schweiz nicht nur ein Land des Tourismus ist, sondern sich als Teil dieser europäischen Familie fühlt und mit ihr die schwierigen Probleme der modernen Zivilisation und die Verantwortung für ihre Lösung teilt. Möge der literarische Ruf dieses Tagungsortes als «Zauberberg»9 sich bewahrheiten, indem die Sicht auf die Perspektiven eines Europas freigegeben wird, das Lebensraum für grosse und kleine Staaten, für grosse und kleine Unternehmen und für aufgeschlossene Partner der übrigen Welt ist.
- 1
- Referat: CH-BAR#J1.301#2002/197#57* (51).↩
- 2
- Für Reaktionen auf dieses unabhängige Forum in Davos vgl. z. B. Doss. CH-BAR#E2003A#1998/15#613* (o.191.264). Für die Begrüssungsansprache von 1974 vgl. das Referat von R. Probst vom 31. Januar 1974, dodis.ch/39023.↩
- 3
- Zum Beitritt Grossbritanniens zu den Europäischen Gemeinschaften vgl. DDS, Bd. 25, Dok. 44, dodis.ch/35774, bes. Anm. 11.↩
- 4
- Zum Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vgl. DDS, Bd. 25, Dok. 182, dodis.ch/35776, bes. Anm. 3 sowie DDS, Bd. 26, Dok. 145, dodis.ch/39510. Zum Stand der Beziehungen zwischen der Schweiz und den Europäischen Gemeinschaften vgl. DDS, Bd. 26, Dok. 173, dodis.ch/39512.↩
- 5
- Vgl. dazu DDS, Bd. 26, Dok. 105, dodis.ch/39407.↩
- 6
- Vgl. dazu DDS, Bd. 25, Dok. 160, dodis.ch/35778, bes. Anm. 16.↩
- 7
- Vgl. dazu das Referat von A. Weitnauer vom 1. September 1972, dodis.ch/34610, S. 6.↩
- 8
- Zur Rolle der Schweiz in den Verhandlungsrunden des GATT vgl. DDS, Bd. 26, Dok. 114, dodis.ch/38593, Anm. 2.↩