Sprache: Deutsch
2006
George Zabratzky (Hg.): Flucht in die Schweiz. Ungarische Flüchtlinge in der Schweiz. Orell-Füssli-Verlag, Zürich 2006. 206 S.,
Bibliographischer Hinweis (Bib)
cf. article dans la NZZ du 14.10.2006:

Willkommene Flüchtlinge
Ungarn in der Schweiz - 1956 und heute
C. W. Zur Erinnerung an die Aufnahme ungarischer Flüchtlinge in der Schweiz nach der sowjetischen Niederschlagung des Aufstands im November 1956 hat George Zabratzky ein Buch herausgegeben, das Zeugnisse von beiden Seiten, von damaligen Emigranten und Helfern, sowie die Ergebnisse einer Umfrage über Fluchtmotive und Integration enthält. Andreas Oplatka fasst das Geschehen in Ungarn zusammen und betont dessen Wirkung als Mahnmal für die Brutalität des Sowjetsystems, dem sich die Magyaren wie später andere Völker widersetzten.

Spontane Hilfsbereitschaft
Die damalige Asylgewährung hatte märchenhafte Züge: rasche Bundesratsbeschlüsse zur Aufnahme von mehreren tausend Personen ohne Prüfung des Einzelfalls, spontane Hilfsaktionen, eindrückliche Geld- und Naturalspenden aller Art, private Unterbringung eingeschlossen, ein warmer Empfang, trotz manchen Sprach- und Anpassungsproblemen eine baldige Vermittlung von Studien- und Arbeitsplätzen. Elisabeth Kopp, die spätere Bundesrätin, widmete sich während der ersten zwei Jahre ihres Studiums in Zürich der Betreuung ungarischer Kommilitonen. Walter Renschler, der kürzlich verstorbene Gewerkschafts- und Aussenpolitiker, war Präsident der Studentischen Direkthilfe Schweiz - Ungarn, die zuerst Hilfsgütertransporte bewerkstelligte und sich dann, teilweise im Auftrag des Bundes, bei der Flüchtlingsaufnahme nützlich machte.

Bei manchen Ungarn (die meisten sind inzwischen Schweizer Bürger) scheint die Erinnerung an die Aufnahme, als man sie fast auf Händen trug, noch frisch. Vier «56er» erzählen ¿ mit Charme etwa Marta Becsek Jankovich ¿ von ihrer Flucht, von der wohlgeordneten sanitarischen Untersuchung an der Grenze, von einer herzlichen, ja euphorischen Stimmung in der Bevölkerung, schliesslich vom Weg zu Beruf und Familie. Dankbarkeit ist in den Beiträgen ein häufiges Wort ¿ auch die Publikation als solche ist Ausdruck davon. Dankbar sind aber auch die engagierten Schweizer für die prägende Erfahrung mit Totalitarismus und Wille zur Freiheit.

Gute Integration
Eine Umfrage, deren Basis und Methode nicht dargestellt werden, bestätigt das positive Bild auch für die spätere Zeit in der Schweiz weitgehend. Von den 210 antwortenden ehemaligen Flüchtlingen fühlen sich fast alle in ihrer neuen Heimat wohl und gut integriert. 89 Prozent würden sich in einer ähnlichen Situation erneut für die Schweiz als Asylland entscheiden. In der Anfangszeit hatten die positiven Erlebnisse die negativen weit überwogen, doch ist zum Beispiel gut einem Drittel auch die Verschlossenheit der Schweizer gegenüber Fremden in Erinnerung geblieben. Dass fast ein Viertel im Herkunftsland ein geerbtes oder, häufiger, gekauftes Zweitdomizil hat, ist kaum ein Zeichen eines Integrationsdefizits, wohl aber anhaltender Herkunftsbindungen, zumal immer wieder auf Unterschiede der Mentalität hingewiesen wird. Die Meinungen von hundert schweizerischen «Zeitzeugen» decken sich grösstenteils mit denen der Ungarn.

Klimawandel
Bis Ende 1958 kamen insgesamt 13 800 Flüchtlinge in die Schweiz. 3200 von ihnen reisten in ein anderes Land weiter oder kehrten später in ihre Heimat zurück. In der Umfrage gaben 50 Prozent an, sie hätten aktiv am Aufstand teilgenommen und Repressalien befürchtet; 17 Prozent waren «unterdrückt». Direkt gefährdet waren nicht alle. «Gern hätte ich das Rad der Zeit um drei Jahrzehnte zurückgedreht», schreibt Elisabeth Kopp mit Blick auf die asylpolitische Verhärtung in den 1980er Jahren, als sie unter anderem für dieses schwierige «Dossier» verantwortlich war. Die Ungarn konnten nach den blutigen Vorgängen im Kalten Krieg auf eine spezifische Solidarität zählen. Diese war allerdings zeitlich nicht unbegrenzt. Umso unpopulärer ist heute die asylpolitische Daueraufgabe, zumal eine Vielfalt von Herkunftsländern und Motiven die Identifikation mit den Schutz oder Verdienst suchenden Menschen erschwert. Doch man ist auch deshalb froh um den Erinnerungsband, weil er indirekt bewusstmacht, dass Stimmungen nicht allein von objektiven Faktoren abhängen.

George Zabratzky (Hg.): Flucht in die Schweiz. Ungarische Flüchtlinge in der Schweiz. Orell-Füssli-Verlag, Zürich 2006. 206 S., Fr. 39.80.


Neue Zürcher Zeitung, 14.10.2006, Ressort Schweiz
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