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Die Schweiz und die Palästinensische Befreiungsorganisation. Zum Artikel «Jean Zieglers geheime Mission» (NZZ vom 20.1.2016, S. 15)

Die NZZ veröffentlichte in ihrer heutigen Ausgabe einen Artikel aus der Feder von Marcel Gyr über die Entführung einer Swissair-Maschine durch die palästinensische Volksbefreiungsfront nach Zerqa in Jordanien im September 1970. Gyrs Recherchen deuten darauf hin, dass es im Umfeld der Flugzeugentführung in Genf zu einem geheimen «Stillhalteabkommen» zwischen Bundesrat Pierre Graber und einem Funktionär der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO gekommen sei: Für die Zusicherung, keine weiteren Anschläge gegen Schweizer Ziele zu verüben, habe Graber seinem Verhandlungspartner «Unterstützung auf dem diplomatischen Parkett» und explizit die Einrichtung eines informellen PLO-Büros am Genfer Sitz der UNO zugesagt. 

Die Forschungsgruppe der Diplomatischen Dokumente der Schweiz (DDS) publiziert in ihrer Editionsreihe sowie auf der Online-Datenbank dodis.ch Unterlagen aus dem Schweizerischen Bundesarchiv, welche die Natur der Aussenbeziehungen der Schweiz in einer langfristigen Perspektive beleuchten. Mit ihrer Grundlagenforschung sind die DDS die Kompetenzstelle, um aussenpolitische Ereignisse in ihre zeithistorischen Zusammenhänge einzubetten. Die seit Jahrzehnten betriebene Forschungsarbeit der DDS deckt momentan den Zeitraum von 1848 bis 1975 ab. 

Auch den Themenbereich des Terrorismus palästinensischer Organisationen gegen die Schweiz haben die DDS eingehend dokumentiert. Die letzten beiden Bände, die die DDS zu den Jahren 1967–1969 und 1970–1972 veröffentlicht haben, bieten aufschlussreiches Quellenmaterial zu den Hintergründen des Anschlags auf eine El-Al-Maschine in Kloten vom Februar 1969, den durch eine Bombe verursachten Flugzeugabsturz von Würenlingen im Februar 1970 sowie auf die Entführung der DC-8 nach Zerqa im Kontext einer Gewaltwelle, von der zahlreiche westliche Länder betroffen waren. Auf das geheime Treffen Grabers in Genf, das die NZZ anhand mündlicher Aussagen rekonstruierte, liessen sich in den konsultierten amtlichen Quellen keine Hinweise finden.  

Bezüglich der Beziehungen der Schweiz zur PLO und insbesondere zur Frage der Einrichtung eines offiziellen PLO-Büros in Genf kann die Forschungsgruppe der DDS dagegen wichtige Hintergrundinformationen liefern. Der neue Band 26 der DDS (1973–1975, erscheint 2016) dokumentiert das Anknüpfen von Beziehungen mit  Vertretern palästinensischer Organisationen mit der offiziellen Schweiz. Ein direkter Zusammenhang mit der Flugzeugentführung von Zerqa erscheint dabei eher unwahrscheinlich. Vielmehr spiegelt die langjährige Debatte eine behutsame und schwierige Entscheidungsfindung der Behörden unter dem diplomatischen Druck Israels (vgl. dodis.ch/39531) und der arabischen Staaten. 

 

Der Weg zum PLO-Büro in Genf 

Im Bestreben um internationale Anerkennung lag es im Interesse der PLO in Genf einen Vertreter gegenüber den dort ansässigen internationalen Organisationen akkreditieren zu können. Erste dahingehende Demarchen sind ab Januar 1971 dokumentiert (vgl. dodis.ch/36332 sowie dodis.ch/39521), und seither bestanden gewisse inoffizielle Kontakte zwischen Bern und dem Genfer Büro. Die Behörden wägten während Jahren die Vor- und Nachteile der Zulassung eines inoffiziellen PLO-Vertreters ab (dodis.ch/36335). Dieser Prozess ist von den Terroranschlägen nicht zu trennen, und der Bundesrat hegte 1972 explizit die Hoffnung, mit der Bestellung eines PLO-Vertreters «die Gefahr von Terroranschlägen in der Schweiz herabzumindern». Nicht zuletzt weil die Gewalt palästinensischer Organisationen gegen Institutionen in der Schweiz über 1970 hinaus anhielt, zögerte er einen Entscheid jedoch hinaus (dodis.ch/36321). 

Bewegung kam in die Angelegenheit erst mit einer Veränderung der internationalen Lage. Mit dem Jom-Kippur-Krieg vom Oktober 1973 erreichte die Krise im Nahen Osten einen neuen Höhepunkt. Sie bot den Anstoss für die Erdölkrise, welche die Industriestaaten in eine Rezession stürzte und so die arabische Welt stark in das Zentrum des internationalen Interesses rückte. Zunehmend gelang es Vertretern Palästinas auch auf internationaler politischer Ebene Gehör für ihre Anliegen zu finden. Mit einer Resolution erkannte die UNO-Generalversammlung im November 1974 der PLO einen Beobachterstatus zu. Der Bundesrat kam mit seinem Entscheid vom Juni 1975 einem Ersuchen des UNO-Generalsekretärs nach, dem inoffiziellen PLO-Vertreter in Genf einen offiziellen Status zuzugestehen (dodis.ch/39528).  

Der Zusammenhang mit dem Terrorismus wurde vornehmlich vom PLO-Büro selbst hervorgehoben – durchaus auch als Druckmittel (dodis.ch/38644 sowie dodis.ch/39521). Mit dem Hinweis auf das «jetzige gute Verhältnis» habe die PLO «verschiedentlich palästinensische Splittergruppen von Attentaten, die in oder gegen die Schweiz geplant gewesen seien, abhalten können», hielt der Vertreter in Genf 1975 gegenüber den Schweizer Behörden fest. Die Glaubwürdigkeit dieser Behauptung wurde indessen in der Bundesverwaltung angezweifelt (dodis.ch/38640). Welche tatsächliche Kontrolle die PLO über die Aktivitäten der unterschiedlichen palästinensischen Gruppierungen ausübte, war bei den Diplomaten umstritten (dodis.ch/36335). 

Diese Darlegungen zeigen, dass die Gespräche Grabers in Genf im September 1970 zwar bisher nicht bekannt gewesen sind, hingegen kaum einen entscheidenden Einfluss auf die weitere Entwicklung der Beziehungen der Schweiz zur PLO ausübten. Diese müssen unter den Gesichtspunkten der sich ändernden Weltlage und dem komplexen Zusammenspiel verschiedener Interessen im Gefüge der internationaler Beziehungen gelesen werden.

Pressespiegel:

20. 01. 2016