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Schweizer Aussenpolitik 1970 bis 1972 - der neue Band ist da!

«Europa» war schon 1970 das gewichtigste Dossier der Schweizer Diplomatie. «Die Abklärung geeigneter, neuartiger Modalitäten für die Zusammenarbeit erfordert schöpferische Phantasie und entsprechend Zeit», schrieb damals der Direktor der Handelsabteilung des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements (EVD), Paul R. Jolles, in Bezug auf die anstehenden Verhandlungen mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). «Das  schwierigste Problem wird zweifellos die Gestaltung der institutionellen Mitwirkung der Schweiz im Integrationsprozess sein» (Dok. 44, dodis.ch/35774).  

Freihandelsabkommen mit der EWG 

Die Ausarbeitung des Freihandelsabkommens mit der EWG, das im Dezember 1972 von Volk und Ständen angenommen wurde (Dok. 182, dodis.ch/35776), bildet das Kernstück des neu erschienenen Bandes 25 der Diplomatischen Dokumente der Schweiz (DDS) zu den Aussenbeziehungen der Schweiz in den Jahren 1970 bis 1972. Die Aktenedition umfasst Telegramme, Zirkulare, Korrespondenzen zwischen den diplomatischen Vertretungen der Schweiz und der Zentrale in Bern, Protokolle der Sitzungen des Bundesrates, sowie Notizen und Arbeitspapiere verschiedener Departemente. Was das Vertragswerk mit der EWG betraf, so hielt Bundesrat Hans-Peter Tschudi fest, es leite «eine Entwicklung unseres Landes in Richtung Europa ein […], die weitgehend irreversibel ist» (Dok. 160, dodis.ch/35778). Nicht nur in der angestrebten Lösung «institutioneller Fragen» mit der EWG erinnern zahlreiche Dokumente an Herausforderungen, mit denen sich die eidgenössische Diplomatie bis in die Gegenwart hinein beschäftigt. 

Wurzeln der OSZE 

Über vierzig Jahre bevor die Schweiz 2014 die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) präsidiert, entwickelte der Bundesrat und die Bundesverwaltung eine rege Reisediplomatie, um sich mit den Regierungen im Osten und Westen des Kontinents über die 1973 in Helsinki einberufene europäische Sicherheitskonferenz auszutauschen (Dok. 156, dodis.ch/34494 und Dok. 157, dodis.ch/34496). In dieser OSZE-Vorgängerorganisation engagierte sich die Schweiz intensiv. Explizit versuchte sich Bern mit dem Vorschlag für ein System der friedlichen Streitbeilegung einzubringen (Dok. 173, dodis.ch/34487). «Stünde unser Land abseits», heisst es 1972 in einem Positionspapier des Politischen Departements (EPD), des heutigen EDA, «widerspräche dies den fundamentalen Regeln seiner Politik der Neutralität und Solidarität, der Offenheit und Zusammenarbeit» (Dok. 144, dodis.ch/34499, Original französisch). 

Rechtshilfeabkommen mit den USA 

Einen Aktualitätsbezug weist auch die entscheidende Verhandlungsphase auf, welche im Mai 1973 zum bis heute gültigen Rechtshilfeabkommen mit den USA führen sollte. Eine zuständige Studienkommission hielt allgemein fest, der Souveränitätsbegriff habe in den vergangenen Jahren «eine beachtliche Auflockerung erfahren» und «dass auf dem Gebiete der Rechtshilfe noch nie so viel von der Schweiz verlangt worden sei» (Dok. 66, dodis.ch/35400). Das Interesse der USA an der internationalen Verbrechensbekämpfung bedrohte zunehmend das Schweizer Bankgeheimnis, welches der Finanzplatz und die Wirtschaftsverbände in den Vernehmlassungsverfahren jeweils vehement verteidigten. 

Umbrüche in der Währungspolitik 

Anlässlich einer «Dollarschwemme» im Mai 1971 entschied sich der Bundesrat im Einvernehmen mit der Nationalbank zu einer Aufwertung des Schweizerfrankens, wofür der Landesregierung seitens der Bevölkerung Mut und Entschlusskraft attestiert wurden – «endlich wurde einmal regiert» (Dok. 72, dodis.ch/35737). 

Im Sommer folgte die Abschaffung der Goldbindung des Dollars durch US-Präsident Richard Nixon, eines der letzten Symptome für den bevorstehenden Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems, die dazu führte, dass der Franken vermehrt als Reservewährung verwendet wurde (Dok. 140, dodis.ch/35401). Finanzminister Nello Celio betrachtete die Entwicklungen in der globalen Währungs- und Konjunkturpolitik sehr besorgt. «Mit der Nationalbank glaube ich  […], dass wir in monetären Sachen, à la longue, uns mehr engagieren müssen, um etwas zu steuern», schrieb er an Eberhard Reinhard von der Schweizerischen Kreditanstalt  (Dok. 166, dodis.ch/35598).  

«Masslosse Expansion der Grossbanken» 

Auch Aussenminister Pierre Graber erkannte selbstbewusst, «dass der Schweiz auf monetärem Gebiete die Rolle einer Grossmacht zukomme» (Dok. 66, dodis.ch/35400). Allerdings gab es hierzu auch kritische Stimmen. Als der Schweizerische Bankverein die Eidgenössische Bankenkommission dazu drängen wollte, die Eröffnung einer Zweigstelle einer japanischen Bank in Zürich zu beschleunigen, da dies die Bedingung war, dass der Bankverein selbst in Tokio eine Filiale eröffnen könne, hiess es barsch, die Kommission habe «nie ein Hehl daraus gemacht […], dass sie sowohl die masslose Expansion der Grossbanken wie den überbordenden Zudrang ausländischer Banken in die Schweiz als ungesund und für die Gesamtinteressen des Landes abträglich ansieht» (Dok. 117, dodis.ch/35515). 

Die Schweiz im Sog des Terrorismus 

Die frühen 1970er Jahre standen unter dem Zeichen eines sich entwickelnden internationalen Terrorismus, dessen Auswirkungen sich auch die Schweiz nicht entziehen konnte. Mit dem durch die Detonation einer Bombe an Bord verursachten Flugzeugabsturz bei Würenlingen im Februar (Dok. 8, dodis.ch/35440 und Dok. 12, dodis.ch/35468) und der Entführung einer Swissair-Maschine nach Jordanien durch die Volksfront zur Befreiung Palästinas im September 1970 (Dok. 37, dodis.ch/35415) geriet die Schweiz zunehmend in den Sog der Nahostkrise. Eine besondere Herausforderung stellte im Dezember desselben Jahres die Entführung von Giovanni Enrico Bucher, dem schweizerischen Botschafter in Rio de Janeiro, durch brasilianische Guerilleros dar (Dok. 51, dodis.ch/35840 und Dok. 59, dodis.ch/35841). 

«Gute Dienste» 

Ein traditionelles Thema, das in Band 25 zu tragen kommt, sind die «guten Dienste» der Schweiz. Wie weit die Rolle des «ehrlichen Maklers» gehen soll, fragte sich etwa Silvio Masnata, der als schweizerischer Botschafter in Kuba die Interessen der USA vertrat: Sollte er im Auftrag Washingtons Nachrichten an Havanna übermitteln, die er, in Antizipation der US-Interessen, für verbesserungswürdig hält? «Wenn sie auf der Strasse einen Passanten erblicken, der in einen offenen Abwasserschacht zu treten droht, rufen sie dann nicht Achtung?» (Dok. 76, dodis.ch/34509, Original französisch). Zum Tragen kam diese Rolle insbesondere beim Transfer der US-sowjetischen Verhandlungen zur nuklearen Rüstungsbegrenzung nach Genf (Dok. 155, dodis.ch/35513) sowie beim Konflikt um die Unabhängigkeit von Bangladesch (Dok. 87, dodis.ch/35284 und Dok. 106, dodis.ch/35311), wo die Schweiz ein Doppelmandat als Schutzmacht der Interessen Indiens und Pakistans erhielt (Dok. 113, dodis.ch/35283 und Dok. 126, dodis.ch/35309). 

Der Aufstieg Chinas 

Auch in den spannungsreichen Beziehungen zwischen der Volksrepublik China und Kambodscha konnte sich die Schweiz 1970 durch die Organisation eines Diplomaten-Austausches profilieren (Dok. 121, dodis.ch/35750). Durch die Aufnahme Pekings in die UNO 1971 (Dok. 102, dodis.ch/34306) und den China-Besuch von Präsident Nixon 1972 geriet das «Reich der Mitte» wieder vermehrt in den Fokus der Schweizer Aussenbeziehungen: Das «Gravitationszentrum der Weltpolitik» habe sich von Europa nach Asien verschoben, hielt Bundesrat Graber in einer Rede vor dem diplomatischen Corps fest, und China werde in Zukunft «eine politische Rolle spielen, die seiner geografischen und demografischen Bedeutung entspricht» (Dok. 89, dodis.ch/34585, Original französisch). 

«Mut zum kühnen Badekleid» 

In den Beziehungen der Schweiz zu den «geteilten Staaten» bahnte sich eine gewisse Normalisierung an. So anerkannte Bern das kommunistische Nordvietnam (Dok. 90, dodis.ch/35603) und wagte im Rahmen des Engagements bei der Waffenstillstandskommission einen – allerdings gescheiterten – Versuch zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Nordkorea (Dok. 168, dodis.ch/35837). Mit der gegenseitigen Errichtung von Handelsmissionen tat die Schweiz auch bezüglich der DDR einen «ersten Schritt ins kalte Wasser», wie sich der Leiter der neu eröffneten Vertretung in Ost-Berlin, Hansjakob Kaufmann, ausdrückte. Ihm ging dies zu wenig weit: «Wir sollten es nicht wie jene Dame halten», schrieb er, «die sich zwar ein etwas kühnes Badekleid erstanden hat, dann aber doch nicht den Mut aufbringt, es auch wirklich zu tragen.» (Dok. 181, dodis.ch/34373). Schliesslich nahm Bern kurz vor den meisten anderen westlichen Staaten am 20. Dezember 1972 offiziell diplomatische Beziehungen zur DDR auf (Dok. 179, dodis.ch/34372). 

«Worüber die Bevölkerung nicht aufgeklärt wird» 

Die Aussenpolitik des Bundes wird vermehrt zum Gegenstand öffentlicher Debatten. Entsprechend bemühte sich das EPD um eine professionalisierte Kommunikationspolitik «unter Einbezug moderner, insbesondere audio-visueller Techniken, die es erlauben, die breite Bevölkerung zu erreichen», um ein «Klima des Interesses, der Offenheit und des Verständnisses für die grossen Probleme, die das Schicksal unseres Landes betreffen», zu schaffen (Dok. 52, dodis.ch/35368, Original französisch). Allerdings gingen die Meinungen darüber, wie weit die Bevölkerung informiert werden sollte, durchaus auseinander. In den Anmerkungen der gut 180 in der gedruckten Edition abgedruckten Aktenstücke finden sich Verweise auf rund 1500 weitere Dokumente, auf die in der Online-Datenbank Dodis (www.dodis.ch) zugegriffen werden kann. Eines aus dieser Fülle ist eine Zusammenstellung des schweizerischen Integrationsbüros, die den intrigierenden Titel trägt: «Was man in der Aufklärung des Volkes über das Abkommen Schweiz-EWG nicht sagen soll» (dodis.ch/36230). 

05. 05. 2014