Darin: Übermittlungsnotiz von J.-D. Vigny vom 13.9.1993 (Beilage).
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 1993, doc. 39
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E2010A#2001/161#5923* | |
Dossier title | Allgemeines, Band 4 (1993–1993) | |
File reference archive | B.73.0 • Additional component: Chine |
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E2010A#2001/161#4874* | |
Dossier title | Allgemeines (1991–1993) | |
File reference archive | B.41.21.0 • Additional component: Tibet |
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E2023A#2003/421#3242* | |
Dossier title | Droits de l'homme: Généralités, Band 5 (1993–1993) | |
File reference archive | o.713.22 |
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E2010-01A#2000/217#518* | |
Dossier title | Tibet (1990–1996) | |
File reference archive | B.58.2 |
dodis.ch/65253
Notiz der Sektion für Menschenrechte des EDA1
Gespräch mit S. H. dem 14. Dalai Lama anlässlich seines Besuches in der Schweiz, 31. August 1993
Der 14. Dalai Lama (D) hielt sich vom 31.8.–2.9.1993 in der Schweiz auf, um an der Feier des 25-Jahre-Jubiläums des Klösterlichen Tibet-Institutes in Rikon/ZH teilzunehmen. D[alai Lama] hat Frau Bundesrätin Dreifuss nach Rikon eingeladen, welche dieser Einladung aber nicht Folge leisten konnte.2 Unser Departement hatte bereits zweimal Kontakt mit D[alai Lama] (1990 in Zürich durch Herrn Botschafter Jean-Pierre Keusch;3 1991 offiziell in Bern durch Bundesrat René Felber).4 Dieses Mal hat D[alai Lama] nicht den Wunsch geäussert, in Bern empfangen zu werden, hat aber vorgeschlagen, mit Vertretern des EDA über die Menschenrechtssituation in Tibet zu diskutieren. Am 31. August 1993 hat – mit Einverständnis des Sekretariates von Bundesrat Flavio Cotti und der Politischen Direktion – Herr Jean-Daniel Vigny (VY), Chef der Sektion für Menschenrechte, in Begleitung von Christine Schraner am 31. August 1993 mit D[alai Lama] in Rikon ein Gespräch über Menschenrechte in Tibet geführt. Aufgrund des gedrängten Terminkalenders von D[alai Lama] konnte das Gespräch nicht länger als ca. 40 Minuten geführt werden. Am Gespräch hat Gyaltsen Gyaltag, Repräsentant des Dalai Lama für Mittel- und Südeuropa, Tibet-Büro in Zürich, teilgenommen. D[alai Lama] empfing uns herzlich und unkompliziert und führte das Gespräch mit grossem Interesse. D[alai Lama] strahlte Ruhe und gleichzeitig viel Energie aus.
D[alai Lama] gab bekannt, dass er nach dem Aufenthalt in der Schweiz nach den USA reisen werde.
V[igny] erzählt von der Reise einer Schweizer Delegation nach Tibet im Dezember 1991, anlässlich welcher das Gefängnis Drapchi in Lhasa besichtigt werden konnte.5 VY verweist auf den Vorfall, der sich dabei ereignete: Ein tibetischer politischer Gefangener, Tanak Jigme Sangpo, schrie zur Delegation «Ewig lebe der Dalai Lama». Dies hatte zur Folge, dass dieser Gefangene in Isolationshaft gesteckt, gefoltert und zu weiteren acht Jahren Gefängnis verurteilt wurde (Interventionen der Schweiz erfolgten bisher ohne Erfolg).6 VY stellt D[alai Lama] die Frage, ob angesichts dieser negativen Folge von weiteren Besuchen in Gefängnissen, wo politische Gefangene festgehalten werden, abzuraten sei.
D[alai Lama] begrüsst trotz dieses bedauernswerten Vorfalls weiterhin die Besuche von ausländischen Delegationen in tibetischen Gefängnissen. Vielleicht leide dabei ein Tibeter (wie im oberwähnten Fall sogar vom Häftling bewusst in Kauf genommen), aber solche Besuche dienten schliesslich der Verbesserung der Bedingungen der Gefängnisinsassen und damit indirekt der tibetischen Bevölkerung. D[alai Lama] empfiehlt, bei einem nächsten Besuch in Tibet das Gefängnis in Kongpo im Süd-Tibet zu besuchen, wo sich viele politische Gefangene aufhalten (gemäss Gyaltag seien in dieser Gegend immer mehr chinesische Siedlungen zu beobachten, weil dort der Boden sehr fruchtbar sei). D[alai Lama] verweist mit einem zynischen Lächeln, dass die Genehmigung von den Chinesen nur schwer zu erhalten sei. Er lege aber auch grossen Wert auf die Abgabe von Listen politischer Gefangener bei den chinesischen Behörden, um geheime Tötungen der Gefangenen zu verhindern. V[igny] erklärt, dass die Schweiz dies bereits in 30 Fällen getan habe, in mehreren Fällen zugunsten von inhaftierten Tibetern.7 D[alai Lama] weist darauf hin, dass die tibetischen Gefangenen kaum medizinische Hilfe erhalten. Dies sollte zumindest von den Chinesen gefordert werden. Man könne als intervenierender Staat damit argumentieren, dass ja (nach chinesischer Verfassung) den Tibetern als nationale Minderheit Chinas die gleichen Rechte zuerkannt werden wie allen chinesischen Bürgern. D[alai Lama] begrüsst aber auch die Unterstützung der Schweiz im multilateralen Bereich. V[igny] erklärt dazu, dass die Schweiz in der UN-Menschenrechtskommission im Jahre 1992 und 1993 gemeinsam mit praktisch allen westlichen Staaten Resolutionsentwürfe mitunterzeichnet habe, welche aber nicht angenommen worden seien.8
D[alai Lama] beklagt die von der chinesischen Regierung subtil geförderte Überfremdungs- und Sinisierungspolitik gegenüber Tibet. In den letzten 40 Jahren sei eine «Gehirnwäsche» an den Tibetern vorgenommen worden. Nach dem «Zuckerbrot und Peitsche»-Prinzip würden unter dem Deckmantel der wirtschaftlichen und kulturellen Unterstützung Tibets den tibetischen Funktionären Kaderpositionen versprochen, Studenten würden zur Ausbildung an verschiedene Hochschulen und Institute des ganzen Landes geschickt, um damit ebenfalls eine «kommunistische Erziehung» der Tibeter zu erzielen. Tatsächlich fördere die chinesische Regierung die Einwanderung von chinesischen Fachkräften (Han-Chinesen). Die grosse Einwanderungswelle der Han-Chinesen in Ost-Tibet vertreibe immer mehr Tibeter nach Westen. Aus chinesischen Arbeitslagern (Gulag) würden sich Ortschaften («townships») bilden. Auf die Frage, wieviele Chinesen sich auf dem Gebiet Tibets befinden, antwortet D[alai Lama], dass auf dem «tibetischen Gebiet», d. h. einschliesslich der ehemaligen Nordost-Provinz Tibets, Amdo (heute Qinghai und Gansu) und der ehemaligen Ost-Provinz Tibets, Kham (heute Sichuan und Yunnan), 7 Millionen Chinesen (gegenüber 6 Millionen Tibeter), wovon 4 Millionen in den zwei genannten Provinzen leben. Dazu kämen noch ca. 300 000 chinesische Militärleute in der autonomen Region von Tibet (TAR) hinzu. Somit seien in der TAR mehr als die Hälfte der Einwohner Chinesen (gemäss Gyaltag leben in der TAR 2 Millionen Tibeter und in der Stadt Lhasa sei das Verhältnis 1:3, d. h. ca. 50 000 Tibeter und 150 000 Chinesen). Diese Zahlen habe D[alai Lama] aus chinesischen Geheimdokumenten, die kopiert werden konnten. Der Einfluss der Chinesen nehme v. a. in den ländlichen Distrikten immer mehr zu. Dies führe zu einer absichtlichen Eliminierung der Kultur der Tibeter. Weiter schildert D[alai Lama] anhand eines Beispieles, wie die Tibeter von den Chinesen diskriminiert werden. Drei tibetische Mönche hätten aus chinesischer Gefangenschaft nach Dharamsala (Indien) fliehen können. Diese hätten D[alai Lama] erzählt, wie alle anderen Gefangenen besser behandelt worden seien. So seien die Essgewohnheiten der muslimischen Gefangenen respektiert worden. Die Tibeter habe man aber entgegen ihrem religiösen Brauch gezwungen, Tiere zu töten und diese selber zu essen.
D[alai Lama] betont, dass er nicht die Unabhängigkeit Tibets fordere, sondern das Wichtigste für ihn sei die Erhaltung des kulturellen Erbes der Tibeter. Er nehme immer noch die gleiche Haltung ein, die er in seiner Rede vom 15. Juni 1988 vor dem Europäischen Parlament in Strassburg erläutert habe (d. h. ein Verzicht auf eine formelle Unabhängigkeit Tibets und als Verhandlungsbasis eine Assoziation zwischen China und Tibet, wobei China insbesondere die Führung der Aussenpolitik und der Verteidigung Tibets vorbehalten bliebe). D[alai Lama] betont, dass er offen für eine Lösung sei, wenn die Chinesen die Kultur Tibets achteten und die Tibeter wie Brüder behandelten. Er sei nach wie vor offen für eine Weiterführung des Dialogs mit Beijing (D[alai Lama] erweckte dabei indirekt den Eindruck, dass er nicht mehr an eine Assoziation glaubt, sondern nur an eine echte Autonomie?).
V[igny] fragt, ob an tibetischen Frauen Zwangssterilisationen in chinesischen Kliniken Tibets und Zwangsabtreibungen vorgenommen werden. D[alai Lama] bestätigt dies. Offiziell werde die tibetische Bevölkerung aus der Familienplanungspolitik der Chinesen ausgeschlossen (je nach Status werden 2, 3 oder mehr Kinder erlaubt). In der Tat werde diese aber mit einbezogen. Dies geschehe sicher nicht nur aus wirtschaftlichen sondern auch aus politischen Gründen, um die Tibeter auf Kosten ihrer kulturellen und religiösen Identität zur Minderheit im eigenen Land zu reduzieren.
D[alai Lama] legt grossen Wert auf die von der Schweiz bereits durchgeführten Besuche zugunsten der Menschenrechte in Tibet, wobei er besonderes Gewicht auf die Verbesserung der Behandlung politischer Häftlinge legt.10 Wichtig scheint D[alai Lama] auch die Meinungsäusserung der Schweiz in multilateralen Gremien. Während des Gespräches kam immer wieder zum Ausdruck, dass D[alai Lama] die Erhaltung des kulturellen Erbes der Tibeter vor allen anderen Forderungen stellt. Dies könnte auch der Grund für den Verzicht auf eine formelle Unabhängigkeit sein, da – angesichts der Machtverhältnisse – ein Streben nach Unabhängigkeit zu einem Aufstand seines Volkes und zu einem blutigen Untergang des tibetischen Volkes und damit des tibetischen Kulturgutes führen könnte.11
- 1
- CH-BAR#E2010A#2001/161#5923* (B.73.0). Diese Notiz wurde von Christine Schraner von der Sektion für Menschenrechte der Direktion für Völkerrecht des EDA verfasst. Am 13. September 1993 wurde sie an das Sekretariat des Vorstehers des EDA, Bundesrat Flavio Cotti, sowie an jenes der Vorsteherin des EDI, Bundesrätin Ruth Dreifuss, und an zahlreiche Mitarbeitende des EDA weitergeleitet, vgl. das Faksimile dodis.ch/65253.↩
- 2
- Für die Agenda von Bundesrätin Dreifuss, vgl. das Dossier CH-BAR#E3807#1994/178#1* (5). Für die Korrespondenz in Bezug auf einen bundesrätlichen Empfang des Dalai Lama vgl. das Dossier CH-BAR#E2010A#2001/161#5923* (B.73.0).↩
- 3
- Vgl. die Notiz von Eric Amhof von der Politischen Abteilung II des EDA vom 21. Juni 1990, dodis.ch/55584. Zu den damaligen Überlegungen zum Empfang des Dalai Lamas durch einen Vertreter des EDA vgl. DDS 1990, Dok. 20, dodis.ch/55586, sowie für frühere Diskussionen die Zusammenstellung dodis.ch/C1815.↩
- 4
- Vgl. DDS 1991, Dok. 32, dodis.ch/55589.↩
- 5
- Vgl. den Bericht des Chefs der Sektion für Menschenrechte des EDA, Jean-Daniel Vigny, vom 10. Januar 1992, dodis.ch/59214.↩
- 6
- Vgl. dazu das Schreiben des schweizerischen Botschafters in Beijing, Erwin Schurtenberger, an Sektionschef Vigny vom 17. Dezember 1992, dodis.ch/66107; die Notiz von Sektionschef Vigny an die Politische Abteilung II des EDA vom 13. Januar 1993, dodis.ch/66108, sowie die Notiz der Politischen Abteilung II vom 29. Januar 1993, dodis.ch/66110. Vgl. ferner die Antwort des Bundesrats vom 17. Dezember 1993 auf die Einfache Anfrage 93.1054. Gefangene in Tibet von Nationalrat François Loeb, dodis.ch/66092.↩
- 7
- Vgl. dazu die Dossiers CH-BAR#E4010A#2000/265#1282* (403.63.35.89) und CH-BAR#E4280A#2017/359#104* (777.14).↩
- 8
- Vgl. dazu den Bericht der schweizerischen Delegation über die 48. Session der UNO-Menschenrechtskommission vom 29. Mai 1992, dodis.ch/62251, S. 9.↩
- 9
- Vgl. dazu auch die Notiz von Botschafter Schurtenberger vom 8. Oktober 1993, dodis.ch/66091.↩
- 10
- Einer zweiten schweizerischen Delegation, die sich im Juli 1994 im Rahmen des bilateralen Menschenrechtsdialogs nach China begeben sollte, wurde ausserdem die Einreise nach Tibet verwehrt, vgl. dodis.ch/63268.↩
- 11
- Vgl. dazu die Notiz des stv. Chefs der Politischen Abteilung II, Denis Feldmeyer, vom 11. Juni 1993 zu den bedeutendsten Demonstrationen für die Unabhängigkeit Tibets seit 1989 vom Mai 1993, dodis.ch/66178.↩
Relations to other documents
http://dodis.ch/65253 | refers to | http://dodis.ch/59214 |