Darin: Aussprachepapier des EDA und EJPD vm 28.6.1993 (Beilage).
Darin: Protokoll zur 1. Verhandlungsrunde Schweiz–Türkei vom 25.6.1993 (Beilage).
Darin: Protokoll zur 2. Verhandlungsrunde Schweiz–Türkei vom 28.6.1993 (Beilage).
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Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 1993, doc. 31
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E8001D#1997/5#3237* | |
Dossier title | Kurdendemonstration vor der türkischen Botschaft (1993–1993) | |
File reference archive | 329.0 |
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E8812#1998/341#166* | |
Dossier title | BR-Sitzung vom 30. Juni Energienutzungsverordnung Bauprogramm Nat.Str.93, Kirchenwald u. Loppertunnel (1993–1993) | |
File reference archive | 1 |
Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E1004.1#1000/9#1032* | |
Old classification | CH-BAR E 1004.1(-)1000/9 1545 | |
Dossier title | Beschlussprotokolle des Bundesrates Juni 1993 (11 Bände) (1993–1993) | |
File reference archive | 4.10prov. |
dodis.ch/64238
Angriffe auf türkische Ziele vom 24. Juni 1993
Am 24. Juni 1993 fand in mehreren europäischen Ländern eine koordinierte Aktion kurdischer Kreise (wahrscheinlich PKK) gegen türkische Ziele statt.2 Dazu gehörten Demonstrationen, Anschläge auf türkische Interessen, Eindringen in Räumlichkeiten von türkischen Vertretungen und Geiselnahmen. Solche Ereignisse betrafen Deutschland, Frankreich, die Schweiz, Dänemark und Schweden. Schlimmste Vorfälle waren zwei inzwischen beendete Geiselnahmen in den türkischen Generalkonsulaten in München und Marseille. In der Schweiz wurden türkische Ziele in Bern, Zürich und Genf angegriffen. In Genf und Zürich wurde u. a. den Generalkonsulaten der Türkei grosser Sachschaden zugefügt.3
Die türkische Botschaft in Bern war Schauplatz der gravierendsten Ereignisse in der Schweiz. Ab 10.00 Uhr erfolgten Angriffe von kurdischen Demonstranten mittels Steinwürfen und Eindringen auf das Gelände gegen die Kanzlei und die Residenz der Botschaft. Die Polizei wurde unmittelbar alarmiert. Nach Eintreffen der Polizei ereignete sich eine Schiesserei. Schüsse wurden nach derzeitigem Erkenntnisstand aus der türkischen Botschaft abgegeben. Dabei wurde ein Demonstrant4 getötet und neun weitere Personen erlitten zum Teil schwere Verletzungen.
Die Polizei verhaftete 85 Personen. Drei davon werden im Moment noch festgehalten. In diesem Zusammenhang laufen die Ermittlungen. Problematischer gestalteten sich die Ermittlungen in der türkischen Botschaft. Die Polizei erhielt keine Bewilligung, Waffen zu beschlagnahmen oder Befragungen durchzuführen. Bis am Abend wurde die türkische Botschaft abgesperrt, danach erfolgte eine strikte Kontrolle der Ausgänge mit Durchsuchung von Personen und Fahrzeugen. In der Nacht zum 25. Juni wurde ein Attaché der türkischen Botschaft5 von der Polizei befragt. Der Attaché, der diplomatischen Status geniesst, deklarierte freiwillig, er habe sowohl in die Luft wie auch auf Demonstranten geschossen (von diesem Vorgang sind Photos im Besitz der Polizei, wie auch die Waffe des Attachés). Nach türkischen, inzwischen von der Bundespolizei bestätigten, Angaben wurde der Attaché von der Polizei in einen Wagen gezerrt, in Handschellen abgeführt und zur Befragung auf den Polizeiposten gebracht.6
Der Bundesrat veranlasste am 24. Juni 1993 die Einsetzung eines Sonderstabes unter der Leitung des stellvertretenden Generalsekretärs des EDA. Diesem Sonderstab gehören neben Vizekanzler Casanova auch Vertreter des EDA und des EJPD an.7 In einer ersten Reaktion verurteilte der Bundesrat die Gewaltakte und verlangte von allen Beteiligten, die Ermittlung nicht zu behindern.8
Noch am Mittag des selben Tages wurde der schweizerische Botschafter in Ankara ins türkische Aussenministerium zitiert.9 Um 18.00 Uhr wurde dann der türkische Botschafter in Bern zum Chef der Politischen Abteilung I des EDA gerufen. Dem türkischen Botschafter wurden die Anliegen der Schweizer Polizei nach Freigabe der Waffen und Befragung des Botschafterpersonals dargelegt.10 Am 25. Juni 1993 übergab die türkische Seite eine formelle Protestnote; darin beklagt sie sich über den entstandenen Sachschaden, die mangelnden Schutzmassnahmen und den ungenügenden Polizeieinsatz.11Am Abend des selben Tages wurde eine hochrangige türkische Delegation in Bern von Staatssekretär Kellenberger empfangen. Am Sonntag, 27. Juni 1993, fanden zwei weitere Gespräche mit dieser Delegation statt. (Protokolle dieser Unterredungen in der Beilage).12 Inzwischen ist bekannt geworden, dass der Delegationsleiter13 am 29. Juni 1993 abgereist ist und dass die übrige Delegation am 30. Juni 1993 die Schweiz ebenfalls verlassen wird.
Die Bewachung der diplomatischen Einrichtungen der Türkei in der Schweiz muss ab sofort lückenlos erfolgen. Die Zuständigkeit des Bundes für die Schutzaufgaben ist gegeben. In Ermangelung eigener Kräfte und entsprechender Rechtsgrundlagen wurde die Aufgabe bislang den Kantonen übertragen. Eine explizite Rechtsgrundlage dazu fehlt. Zudem ist insbesondere das Polizeikorps der Stadt Bern personell nicht in der Lage, umfangreiche Sicherheitsmassnahmen über längere Zeit aufrecht zu halten. Ein interkantonales Polizeikontingent kommt aus unserer Sicht nur für eine sehr kurze Zeit (wenige Tage) in Frage.
Bei einer länger andauernden angespannten Situation kommt der Bund nicht umhin, eigene Mittel einzusetzen. Gemäss früheren Abklärungen (Auftrag Bundesrat an EJPD vom 1. Juli 1992)14 steht hier ein Einsatz des Festungswachtkorps im Vordergrund. Deshalb ist zu prüfen, ob nicht vorsorglich eine auf Art. 102, Ziffer 8 BV15 abgestützte Verordnung des Bundesrates auszuarbeiten sei. Je nach Beurteilung der Lage müssten Teile des Festungswachtkorps auf Pikett gestellt werden. Im übrigen wird das EJPD dem Bundesrat nach dem Sommer ein Aussprachepapier unterbreiten, das umfassend auf diese Frage eingeht.16
Derzeit sind rund 5600 Asylgesuche türkischer Staatsangehöriger (in der Regel kurdischer Abstammung) hängig. Als weiteres Element ist die überdurchschnittlich hohe Anerkennungsquote (Anerkennung als Flüchtlinge gemäss Asylgesetz und Genfer Flüchtlingskonvention) von über 16% im ersten Trimester 1993 zu erwähnen. 1992 wurden gesamthaft lediglich 4,5% der Asylbewerber als Flüchtlinge anerkannt. Die Anerkennungsquote aller Asylbewerber stieg Ende Mai 1993 auf 23,6%. Diese ausserordentlich hohe Zahl ist aber untypisch, bedingt insbesondere durch die Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien.18 Als besonders heikler Punkt erweist sich die Wegweisung kurdischer Asylbewerber nach negativem Entscheid. Nach Völkerrecht und geltendem Landesrecht darf keine Person in ein Gebiet zurückgeschickt werden, in dem sie an Leib und Leben bedroht ist. Die derzeitige schweizerische Praxis verzichtet auf einen generellen Ausschaffungsstopp, jeder Einzelfall wird aber genau geprüft.19 Gewisse kirchliche und politische Kreise sowie die Hilfswerke verlangen seit längerem einen generellen Ausschaffungsstopp. Von dieser Seite wird nun erst recht ein Rückschaffungsstopp gefordert werden, weil insbesondere die Teilnehmer an Demonstrationen bei einer Rückkehr als bedroht erscheinen.20 Andererseits dürfte die zunehmende Wahrnehmung kurdischer Aktivitäten in der Schweiz wie Demonstrationen – auch wenn sie friedlich verlaufen – durch die schweizerische Bevölkerung, bei einem ansehnlichen Teil dieser Bevölkerung den Ruf nach vermehrter Wegweisung und einer härteren Praxis überhaupt in der Asylpolitik hervorrufen. Die derzeit relativ ruhige Situation im Bereich Asyl ist gefährdet.21
Wegen der latent vorhandenen Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt gegen Asylbewerber und deren Unterkünfte könnte diese «Klimaveränderung» zu einem Anstieg der Zahl und der Art der fremdenfeindlichen Aktionen führen.22 Diese Übergriffe gingen 1992 und in den ersten fünf Monaten 1993 erfreulicherweise stark zurück.
Aufgrund dieser Beurteilung dürften sich zusätzliche Schutzmassnahmen aufdrängen. Die Bundespolizei wird die zuständigen Behörden sowie andere Stellen und Organisationen, welche in der Flüchtlingsbetreuung tätig sind, über diese Einschätzung informieren.
Überdies muss aufgrund der Eskalation in den letzten Tagen mit gewalttätigen Ausschreitungen zwischen Türken kurdischer und nicht-kurdischer Abstammung, aber auch gegen schweizerische Einrichtungen, gerechnet werden. Sachschäden und Gewalttaten gegen nicht türkische Personen, wenn auch nicht direkt beabsichtigt, sind möglich. Diese Gefahr dürfte vor allem dann zunehmen, wenn die Kurden den Eindruck bekommen, die schweizerischen Behörden würden zu wenig energisch und effizient gegen die Angehörigen der türkischen Botschaft vorgehen, die in ihren Augen für den Tod und die Verletzung ihrer Landsleute verantwortlich sind. Die Erinnerung an die Entstehungsgeschichte der Schiesserei (Angriff der Kurden auf die Botschaft), der Hinweis auf das Völkerrecht und die damit tatsächlich verbundenen Schwierigkeiten für die Strafverfolgungsbehörden dürften dabei wohl kaum zur Kenntnis genommen werden.
Organisiert und gesteuert werden derartige Aktivitäten durch die Partei der Arbeiter Kurdistans (PKK).23 Die PKK verfügt in den ihr nahestehenden kurdischen Arbeitervereinen in der Schweiz über eine solide Operationsbasis. Dort werden vor allem junge Kurden unter Ausnützung der clanmässigen Bindungen in die äusserst disziplinierte und straff geführte Organisation eingebunden. Wenn man um die Gefährlichkeit der PKK weiss, die auch vor Gewaltanwendung im Ausland nicht zurückschreckt, erwartet uns hier ein erhöhtes Gefahrenpotential.24
Aufgrund dieser Einschätzung hat das EJPD die Intensivierung der Informationsbeschaffung und Beobachtung der PKK angeordnet;25 übrigens eine Organisation auf der sog. «Positivliste». Ausserdem prüft das EJPD, ob einer oder mehrere der Extremisten des Landes verwiesen werden könnten. Dabei sei nicht verschwiegen, dass hier das völkerrechtliche Prinzip des «non-refoulement» die Angelegenheit erschwert.26 Als weitere, wenn auch eher unwahrscheinliche Option prüfen wir das Verbot extremistischer Organisationen wie die PKK oder die TK-ML, eine andere kurdische Vereinigung. In dieser Beziehung ist aber Zurückhaltung und äusserste Vorsicht geboten, weil wir dann wohl auch an das Verbot weiterer Organisationen wie Dev-Sol, Tamil Tigers etc. denken müssten. Ausserdem hat die Schweiz, im Gegensatz zu Deutschland, dieses Instrument seit längerer Zeit nicht mehr eingesetzt.27
«Trotz dem Vorwurf zunehmender Repression gegen die Kurden in der Türkei schweigt Europa». Dies sagte vor einer Woche eine Redakteurin einer in Istanbul erscheinenden pro-kurdischen Zeitung. In der Tat muss es das Ziel der konzertierten Aktion der PKK gegen türkische Vertretungen in Europa gewesen sein, die internationale Öffentlichkeit auf den zunehmend härter geführten Kleinkrieg zwischen türkischen Sicherheitskräften und PKK-Guerilleros aufmerksam zu machen, sie mittels spektakulären Aktionen wachzurütteln aus dem Wohlwollen, welcher den einzelnen Türken und damit der Türkei insgesamt nach den Ereignissen in Solingen in ganz Europa aber im besonderen in Deutschland entgegengebracht worden war.29
Die türkische Regierung unter Ministerpräsident Demirel hatte die allmähliche Abkehr der Ende 1991 verkündeten neuen positiven Politik gegenüber den Kurden zugunsten verstärkter Repression vollzogen: eine militärische Lösung des Kurden-Problems scheint heute mehr denn je Ziel des türkischen Staates und seiner Sicherheitskräfte. Es ist jedoch noch zu früh um die genauen Absichten der ganz neuen (25. Juni 1993) Regierung unter Ministerpräsidentin Ciller abzuschätzen. Die durch den Tod von Präsident Özal verursachte Periode des Übergangs und der Lähmung ist noch nicht vorüber.30
Am 20. März 1993 hatte die PKK einen einseitigen Waffenstillstand dekretiert. Schon am Abend des 24. Mai 1993 jedoch errichtete eine Einheit der PKK im Südosten des Landes eine Strassenbarrikade, hielt einige Autobusse auf und tötete 33 junge, unbewaffnete türkische Soldaten sowie zwei Zivilisten. Die Motive dieser Tat sind noch unklar: neue Taktik der PKK oder Sabotagemanöver einer rivalisierenden Faktion innerhalb der Bewegung? Am 8. Juni 1993 erklärte der Chef der PKK31 offiziell das Ende des Waffenstillstandes. Er prophezeite der Türkei einen «blutigen Sommer». Die vorübergehende Entspannung der Lage in den kurdischen Provinzen scheint somit vorüber zu sein. Im Moment sind grössere Militäraktionen gegen die Kämpfer der PKK im Südosten des Landes, hauptsächlich um den Berg Ararat, im Gange.
Die politischen Folgen der Geschehnisse letzter Woche sind erst in Umrissen abzusehen: Für die Türkei kommt der kurdische Vorstoss doppelt ungelegen: zum einen demonstriert das überfallartige Vorgehen die Stärke der türkischerseits als angeschlagen bezeichneten PKK und zum anderen erscheint das harte türkische Vorgehen gegen die Kurden plötzlich wieder im Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit.
Für die internationale Staatengemeinschaft – auch für die Schweiz – wird es nun vermehrt darum gehen müssen, in ihrer Reaktion auf die Ereignisse deren verschiedene Facetten auseinanderzuhalten: zum einen gilt es, der Gefährdung der inneren Sicherheit durch ausländische extremistische Gruppen im allgemeinen und der PKK im besonderen erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken und gegebenenfalls notwendige Massnahmen zu treffen. Zum andern bleibt das ungelöste Problem der kurdischen Minderheit in der Türkei mit all seinen Aspekten wie Menschenrechtsverletzungen, Minderheitenrechte, etc. bestehen.32 Es wird weiterhin auf der Agenda aussenpolitischer Aktivitäten der westlichen Länder erscheinen müssen und die bilateralen Beziehungen mit der Türkei beeinflussen.
Für die PKK schliesslich stellen die Geschehnisse des 24. Juni unabhängig davon, ob sie die Verantwortung dafür letztendlich übernimmt, ein zweischneidiges Schwert dar: einerseits gelang es ihr zweifellos das Kurdenproblem erneut zu thematisieren. Andererseits droht nun das Verbot resp. erhöhte Überwachung ihrer Aktivitäten in denjenigen Ländern Westeuropas, in denen sie bislang massgebliche Mittel für den bewaffneten Kampf in Ostanatolien beschafften.
Die Bedeutung der Türkei als Regionalmacht hat in den letzten Jahren sehr stark zugenommen. In allen durch sie berührten Regionen spielt sie aus vielerlei Gründen eine herausragende Rolle: auf dem Balkan ist die Türkei in Anknüpfung an die eigene imperiale Vergangenheit den islamischen Bevölkerungsgruppen verbunden und stellt als NATO-Mitglied im Jugoslawienkonflikt eine wichtige Brücke zwischen den Ländern der islamischen Weltkonferenz und dem Westen dar. Im Transkaukasus und vor allem auch in den GUS-Republiken Mittelasiens ist die Türkei gleichzeitig mit den meisten Republiken kulturell verwandt und dient als Modell für eine mögliche künftige Entwicklung als laizistischer Staat. Dies als Konkurrent und Bollwerk gegen einen aggressiven, islamistisch gesinnten Iran.33 Im Nahen Osten stellt die Türkei einerseits einen wichtigen Verbündeten der Allianz gegen den Irak dar und geniesst zusätzlich mit ihrer auf Äquidistanz zwischen den Arabern und Israel ausgerichteten Politik Vertrauen bei allen Kontrahenten des dortigen Verhandlungsprozesses. Die nahöstlichen Einflussmöglichkeiten werden zudem durch die Kontrolle über die Oberläufe von Euphrat und Tigris verstärkt.34
Mehr als alle anderen Staaten fasst die Türkei die bilateralen Beziehungen mit einem ausländischen Staat als ein untrennbares Ganzes auf, welchem eine im Ausland oft unterschätzte emotionale Komponente innewohnt. Unser bilaterales Verhältnis war in den letzten Jahren – trotz traditionell positiver Grundhaltung der Türkei gegenüber unserem Land – durch erhebliche Spannungen gekennzeichnet.
Vor allem die schweizerische Waffenausfuhrpolitik sowie die in den schweizerischen Medien und im Parlament reflektierte Meinung in der Kurdenfrage und in der Menschenrechtsproblematik36 wurde in der Türkei mit Unwillen zur Kenntnis genommen. Frühere Übergriffe gegen offizielle türkische Einrichtungen in der Schweiz, v. a. 1990 und 1991 sorgten ebenfalls für Missstimmung in Ankara.37
In jüngster Zeit hatte sich aus unserer Sicht das Verhältnis im atmosphärischen Bereich etwas verbessert. Dazu beigetragen hat sowohl die sich positiv auf das Selbstbewusstsein der Türkei auswirkende politische Grosswetterlage als auch gewisse Schritte unsererseits: im Bereich Kurdenproblem/Menschenrechte haben wir zwar erneut gegen Übergriffe protestiert, jedoch erstmals auch die PKK in die Kritik einbezogen.38
Wirtschaftlich bestehen seit jeher enge Kontakte zwischen der Schweiz und der Türkei: 1992 exportierte die Schweiz für Fr. 684,4 Mio. und führte Waren für umgerechnet Fr. 468 Mio. ein. Daraus ergibt sich ein Handelsüberschuss von fast einer viertel Milliarde Franken für die schweizerische Wirtschaft. Auch hinsichtlich der Investitionen ist die Schweiz prominent in der Türkei vertreten: Ende 1991 figurierte unser Land mit 11% aller ausländischen Investitionen im zweiten Rang hinter dem Vereinigten Königreich, aber noch vor den USA und Deutschland.
Die Schweiz verfolgt weiterhin ein doppeltes Ziel:
– die Ermittlungen zielstrebig fortzuführen, um eine genaue Abklärung der Vorgänge zu erreichen,
– die guten Beziehungen zur Türkei, einem sowohl für die Schweiz wie für die internationale Staatengemeinschaft wichtigen Land, zu erhalten.
Im Moment eröffnen sich folgende Optionen:
a) Optimal wäre gewesen, wenn sich die Türkei bereit erklärt hätte, den schweizerischen Forderungen nach Herausgabe der Waffen und Befragung der Beteiligten nachzukommen.40 Der ersten Forderung kamen die Türken nicht nach. Das von ihnen am Sonntagabend gemachte Teilzugeständnis (Befragungen innerhalb der Botschaft in Gegenwart von Mitgliedern der türkischen Delegation) wurde von der Schweiz als ungenügend für die Bedürfnisse der Ermittlungen bezeichnet.41
b) Inzwischen haben die kantonalen Ermittlungsbehörden den Bund ersucht, bei der Türkei die Aufhebung der Immunität von drei Personen zu erwirken.42
c) Sollte die Türkei die Aufhebung der Immunität verweigern (was zu erwarten ist), wird der Bundesrat zu entscheiden haben, ob er einzelne türkische Botschaftsangehörige zur Persona non grata erklärt und welche.43
Die Erklärung eines oder mehrerer Botschaftsangehöriger zu unerwünschten Personen ist stets eine heikle Angelegenheit, welche zwischenstaatliche Beziehungen belastet. Dies gilt erst recht unter den vorliegenden Umständen. Die Schweiz müsste mit folgenden Konsequenzen rechnen.
– Retorsionsmassnahme: Die Türkei würde aller Voraussicht nach Angehörige der Schweizer Botschaft in Ankara zu unerwünschten Personen erklären, und zwar spiegelbildlich, was die Zahl und den Rang der Ausgewiesenen betrifft.44
– Damit käme es zu einer markanten Verschlechterung der bilateralen Beziehungen, welche mehrere Jahre nachwirken dürfte. Dies würde die Zusammenarbeitsmöglichkeiten der schweizerischen Diplomatie just in einem Moment einschränken, da die Türkei an aussenpolitischer Bedeutung deutlich gewinnt (Nachbarschaft zu Irak, zum Iran, zu den von Turk-Völkern beherrschten Republiken Zentralasiens, zentrale Rolle im Balkan und in der sicherheitspolitischen Struktur Europas).
– Es ist wahrscheinlich, dass sich die Trübung des bilateralen Verhältnisses auch auf die Wirtschaftsbeziehungen niederschlagen wird. Angesichts des Potentials der Türkei und der abgeschwächten wirtschaftlichen Tätigkeit in der Schweiz verdient dieser wirtschaftliche Aspekt besondere Beachtung.45
– Allgemein dürfte die türkische Kooperations- und Unterstützungsbereitschaft gegenüber der Schweiz, auch im Rahmen internationaler Organisationen (UNO-Sitz Genf etc.), abnehmen. In dringenden Fällen (z. B. Verhaftung eines Schweizers in der Türkei) könnte sich die Wirksamkeit schweizerischer Demarchen in Ankara verringern.46
Diese Überlegungen sprechen dafür, dass sich die Schweiz bei allfälligen Persona non-grata-Erklärungen auf ein Minimum beschränkt, d. h. auf Personen, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in die Schiessereien verwickelt waren und dabei das Mass des im Rahmen der Notwehr Erlaubten offensichtlich überschritten. Zudem müsste zwecks Schadensbegrenzung ein solcher Schritt von der Ankündigung begleitet werden, dass sich der Bundesrat mit Bezug auf die Aktivitäten der PKK in der Schweiz alle möglichen Vorkehren vorbehält.47
- 1
- CH-BAR#E1004.1#1000/9#1032* (4.10prov.). Dieses Aussprachepapier wurde vom Sonderstab «Angriff gegen türkische Botschaft» unter der Leitung des stv. Generalsekretärs des EDA, Felix Meier, verfasst und von den Vorstehern des EDA und des EJPD, den Bundesräten Flavio Cotti und Arnold Koller, unterzeichnet. An seiner Sitzung vom 30. Juni 1993 nahm der Bundesrat vom Aussprachepapier Kenntnis, vgl. das BR-Prot. Nr. 1251, Faksimile dodis.ch/64238, und diskutierte die Ereignisse ausführlich, vgl. das Verhandlungsprotokoll der 23. Sitzung des Bundesrats, dodis.ch/64023.↩
- 2
- Vgl. die Notiz des Politischen Sekretariats des EDA an Bundesrat Cotti vom 24. Juni 1993, dodis.ch/66879.↩
- 3
- Vgl. dazu die Schilderungen des ersten türkischen Unterstaatssekretärs, Özdem Sanberk, gegenüber dem schweizerischen Botschafter in Ankara, Paul André Ramseyer, vom 24. Juni 1993, dodis.ch/66556.↩
- 6
- Vgl. dazu die Notiz des Chefs der Politischen Abteilung I des EDA, Botschafter Franz von Däniken, vom 25. Juni 1993, dodis.ch/66557.↩
- 7
- Für eine vollständige Liste der Sonderstab-Mitglieder vgl. das Dossier CH-BAR#E2010A#2001/161#2884* (B.22.84.40.34).↩
- 8
- Vgl. die Stellungnahme des Bundesrats vom 24. Juni 1993, die tagsdarauf als Rundschreiben an die schweizerischen Vertretungen verschickt wurde, dodis.ch/66201.↩
- 9
- Vgl. dazu das Fernschreiben von Botschafter Ramseyer an den stv. Generalsekretär Meier vom 24. Juni 1993, CH-BAR#E2010A#2001/161#2884* (B.22.84.40.34).↩
- 10
- Zum Gespräch zwischen dem türkischen Botschafter in Bern, Kaya Toperi, und Botschafter von Däniken vgl. die Notiz der Politischen Abteilung I vom 25. Juni 1993, CH-BAR#E2010A#2001/161#2884* (B.22.84.40.34).↩
- 11
- Die Protestnote der türkischen Botschaft in Bern an das EDA wurde bereits am 24. Juni 1993 per Fax übermittelt, vgl. CH-BAR#E2010A#2001/161#2884* (B.22.84.40.34).↩
- 12
- Für die Beilagen vgl. das Faksimile dodis.ch/64238.↩
- 13
- Der stv. Staatssekretär im türkischen Aussenministerium Ünal Ünsal.↩
- 14
- Vgl. das BR-Prot. Nr. 1255 vom 1. Juli 1992, dodis.ch/60690.↩
- 15
- Art. 102, Abs. 8 der Bundesverfassung vom 29. Mai 1874: Der Bundesrat «wahrt die Interessen der Eidgenossenschaft nach aussen, wie namentlich ihre völkerrechtliche Beziehungen, und besorgt die auswärtigen Angelegenheiten überhaupt.» AS, 1874–1875, S. 29 und BS, 1947, S. 36.↩
- 16
- Gemeint ist der Antrag «Sicherheit in Bundesverantwortung» des EJPD an den Bundesrat vom 21. Januar 1994, vgl. das BR-Prot. Nr. 1126 vom 22. Juni 1994, dodis.ch/66770. Vgl. dazu auch das Dossier CH-BAR#E2010A#2005/342#2529* (B.22.43). Für die Anpassung der Bundesbeiträge an den Kanton Genf und die Stadt Bern für ausserordentliche Schutzaufgaben vgl. das BR-Prot. Nr. 2184 vom 24. November 1993, dodis.ch/63900.↩
- 17
- Vgl. dazu die Notiz des Bundesamts für Flüchtlinge (BFF) des EJPD an Bundesrat Koller vom 24. September 1993, dodis.ch/65068.↩
- 18
- Vgl. dazu das BR-Prot. Nr. 708 vom 21. April 1993, dodis.ch/64268, sowie die thematische Zusammenstellung Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien, dodis.ch/T1929.↩
- 19
- Vgl. dazu auch DDS 1991, Dok. 3, dodis.ch/58521, sowie die Notiz des BFF an Bundesrat Koller vom 3. September 1993, dodis.ch/66541.↩
- 20
- Zur juristischen Situation der Teilnehmenden an der kurdischen Kundgebung vor der türkischen Botschaft in Bern am 24. Juni 1993 vgl. dodis.ch/66545.↩
- 21
- Vgl. DDS 1993, Dok. 40, dodis.ch/65148.↩
- 22
- Vgl. dazu den Bericht des Bundesrates zum Extremismus in der Schweiz vom 16. März 1992, dodis.ch/63108.↩
- 23
- Zu den Aktivitäten der PKK in der Schweiz vgl. auch DDS 1991, Dok. 55, dodis.ch/57983.↩
- 24
- Zur Diskussion der Kurdistan-Thematik in der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats vgl. DDS 1993, Dok. 41, dodis.ch/65146. Auch in der Aussenpolitischen Kommission des Ständerats wurde die Beziehung der Schweiz zur Türkei seit den Ereignissen vom 24. Juni 1993 mit besonderem Fokus auf Kurdistan diskutiert, vgl. das Protokoll der Sitzung vom 21. und 22. Oktober 1993, dodis.ch/64393.↩
- 25
- Vgl. dazu den Bericht der Bundespolizei «Arbeiterpartei Kurdistans» Partiya Karkeren Kurdistan (PKK). Strukturen. Ziele vom November 1993 in der Beilage des BR-Prot. Nr. 2294 vom 6. Dezember 1993, dodis.ch/62317.↩
- 26
- Vgl. dazu Art. 33 Abs. 1 des Abkommes über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention): «Kein vertragschliessender Staat darf einen Flüchtling in irgendeiner Form in das Gebiet eines Landes ausweisen oder zurückstellen, wo sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatszugehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Anschauungen gefährdet wäre.» AS, 1955, S. 455.↩
- 27
- Vgl. dazu das BR-Prot. Nr. 2294 vom 6. Dezember 1993, dodis.ch/62317. Darin sieht der Bundesrat von einem Verbot der PKK ab, erlässt aber verschiedene Massnahmen, die es der Bundespolizei sowie den kantonalen und kommunalen Kräften erlauben sollen, den Schutz der inneren Sicherheit weiter zu verstärken. Vgl. dazu auch die Antwort des Bundesrats vom 13. Dezember 1993 auf die Dringliche Interpellation 93.3556 Rolle der PKK in der Schweiz von Ständerat Rolf Büttikofer vom 30. November 1993, dodis.ch/63981.↩
- 28
- Vgl. dazu auch die zusammenfassende Notiz des Diensts Südosteuropa, Israel des Bundesamts für Aussenwirtschaft (BAWI) des EVD vom 16. November 1993, dodis.ch/62071.↩
- 29
- Am 29. Mai 1993 starben fünf Menschen türkischer Herkunft bei einem rechtsextremen Brandanschlag auf ein Wohnhaus im nordrhein-westfälischen Solingen, 17 weitere wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt. In der Bundesratssitzung vom 1. Juni 1993 mahnte BundespräsidentAdolf Ogi, dass sich auch in der Schweiz Fremdenfeindlichkeit bemerkbar mache, die entschieden bekämpft werden müsse, vgl. das Verhandlungsprotokoll der 19. Sitzung des Bundesrats, CH-BAR#E1003-01#2006/306#1* (322.3).↩
- 30
- Vgl. dazu das Schreiben von Botschafter Ramseyer vom 28. April 1993 anlässlich der Übergabe seines Beglaubigungsschreibens, dodis.ch/66203.↩
- 31
- Abdullah Öcalan.↩
- 32
- Vgl. dazu die Erklärung, welche die schweizerische Delegation im Rahmen des Implementierungstreffens der Menschlichen Dimension der KSZE in Warschau am 5. Oktober 1993 abgab, dodis.ch/65462.↩
- 33
- Vgl. dazu die Notiz von Etienne Thévoz vom Politischen Sekretariat des EDA vom 15. Juni 1993, dodis.ch/65596.↩
- 34
- Vgl. dazu den Politischen Bericht Nr. 1 des schweizerischen Botschafters in Ankara, Pierre Barraz, vom 10. Februar 1993, dodis.ch/64526.↩
- 35
- Vgl. dazu die Einschätzungen von Botschafter Barraz vom 19. Februar 1993, dodis.ch/66439.↩
- 36
- Vgl. dazu DDS 1990, Dok. 45, dodis.ch/54975, sowie DDS 1991, Dok. 3, dodis.ch/58521.↩
- 37
- Vgl. die Dossiers CH-BAR#E2010A#2001/161#2399* und CH-BAR#E2010A#2001/161#2429* (B.22.43).↩
- 38
- Vgl. dazu bspw. die Notiz der Direktion für Völkerrecht des EDA vom 27. August 1992, dodis.ch/62556.↩
- 39
- Vgl. dazu die Einschätzungen von Botschafter Barraz vom 19. Februar 1993, dodis.ch/66439, S. 4–5.↩
- 40
- Sowohl Botschafter von Däniken, als auch der Direktor der Politischen Direktion des EDA, Staatssekretär Jakob Kellenberger, forderten die türkische Seite am 24. resp. 25. Juni 1993 mündlich auf, die Waffen aus der Botschaft zu übergeben, vgl. dodis.ch/66557 sowie das Dossier CH-BAR#E2010A#2001/161#2884* (B.22.84.40.34).↩
- 41
- Vgl. dazu die Protokolle der zweiten und dritten Verhandlungsrunde Schweiz–Türkei vom 27. Juni 1993, im Dossier CH-BAR#E2010A#2001/161#2884* (B.22.84.40.34). Ferner erliess der Bundesrat am 30. Juni 1993 eine Verordnung, die es türkischen Staatsangehörigen unter anderem verbot, in der Öffentlichkeit Schusswaffen zu tragen oder mit sich zu führen, vgl. das BR-Prot. Nr. 1275, dodis.ch/65723.↩
- 42
- Der Bundesrat gab diesem Ersuchen in seiner Sitzung vom 30. Juni 1993 statt, vgl. BR-Prot. Nr. 1249, dodis.ch/64237. Er beschloss ein Gesuch um Aufhebung der Immunität eines vierten türkischen Botschaftsangehörigen zu stellen, vgl. das BR-Prot. Nr. 1316 vom 2. Juli 1993, CH-BAR#E1004.1#1000/9#1033* (4.10prov.). Ein Gesuch um Aufhebung der Immunität zweier weiterer Botschaftsangehöriger erfolgte am 18. August 1993, vgl. das BR-Prot. Nr. 1370, dodis.ch/63864, und das Verhandlungsprotokoll der 24. Sitzung des Bundesrats vom 18. August 1993, dodis.ch/64040.↩
- 43
- Die Türkei gab der verlangten Aufhebung der Immunität nicht statt, kündigte aber an, die betroffenen Botschaftsangehörigen in die Türkei zurückzusenden. Andernfalls, so beschloss der Bundesrat, sollten die Angehörigen zur «persona non grata» erklärt werden. Vgl. das BR-Prot. Nr. 1315 vom 1. Juli 1993, CH-BAR#E1004.1#1000/9#1033* (4.10prov.). Vgl. dazu auch das Verhandlungsprotokoll der 5. ausserordentlichen Sitzung des Bundesrats vom 1. Juli 1993, dodis.ch/63861.↩
- 44
- Im August ersuchte die Türkei tatsächlich um Abberufung des schweizerischen Botschafters und zweier weiterer Botschaftsangehöriger. Dagegen protestierte der Bundesrat «mit aller Schärfe», vgl. das BR-Prot. Nr. 1418 vom 24. August 1993 (Zirkularbeschluss), dodis.ch/63866, berief Botschafter Ramseyer sowie zwei Botschaftsmitarbeitende aber dennoch aus Ankara zurück, vgl. das BR-Prot. Nr. 1475 vom 30. August 1993 (Zirkularbeschluss), dodis.ch/63886.↩
- 45
- Zu den Auswirkungen der diplomatischen Krise auf die wirtschaftlichen Beziehungen vgl. die Notiz des Diensts Südosteuropa, Israel des BAWI vom 14. Oktober 1993, dodis.ch/66202.↩
- 46
- Diese Befürchtung gewann im Zusammenhang mit der Freilassung einer schweizerisch-italienischen Touristengruppe, die in der Südosttürkei durch PKK-Angehörige entführt wurde, an Brisanz, vgl. DDS 1993, Dok. 41, dodis.ch/65146.↩
- 47
- Für einen Überblick über die von der Schweiz ergriffenen Massnahmen im Zusammenhang mit den blutigen Ereignissen vor der türkischen Botschaft vom 24. Juni 1993 und deren Folgen vgl. den Wochentelex 28/93 vom 12. Juli 1993, dodis.ch/65693.↩
Relations to other documents
http://dodis.ch/66738 | see also | http://dodis.ch/64238 |
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Assaults on diplomatic and consular representations