Thematische Zuordung Serie 1848–1945:
III. SICHERHEITSPOLITIK
1. Internationale Lage und Kriegsgefahr
1.1. Die Lage in West- und Mitteleuropa
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 3, doc. 67
volume linkBern 1986
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#85* | |
Old classification | CH-BAR E 2300(-)1000/716 46 | |
Dossier title | Berlin, Politische Berichte und Briefe, Militärberichte, Band 2 (1874–1877) |
dodis.ch/42046
Der schweizerische Gesandte in Berlin, B. Hammer, an den Bundespräsidenten und Vorsteher des Politischen Departements, J. J. Scherer1
In Anknüpfung an meinen politischen Bericht vom 13. April d. J.2 darf ich zur Kennzeichnung der gegenwärtigen Situation einiges nachholen.
Der s. g. Kulturkampf, über dessen Tageserscheinungen die Presse und die Verhandlungen des Abgeordnetenhauses Sie auf dem laufenden erhalten, ist nun durch die jüngsten rasch aufeinander folgenden Züge der Gegner beim Anfang der letzten Consequenzen angelangt und hat in Wirklichkeit den Charakter eines Kampfes zwischen Pabst und Kaiser, Kirche und Staat, Papismus und Evangelium angenommen. Obgleich die Führer hüben und drüben (Bismark und Windthorst) von dem zu erkämpfenden «Frieden» als Ziel des Kampfes sprachen, so ist ein solches Ziel auch von ferne noch nicht in Sicht, und es hat der Kampf das eigenthümliche, dass er nicht nur die ganze innere, sondern auch die äussere Politik des Deutschen Reiches beeinflusst und verhärtet.
Während die Politik der Staatsinteressen das Deutsche Reich in freundliche Beziehungen zu Österreich, Italien und Belgien hinweist, wirkt die Politik des Kulturkampfes entfremdend auf die Beziehungen zu diesen Staaten ein.
Wenn auch die hiesige Überraschung über die Monarchen-Entrevue in Venedig von keiner «Katholischen Liga» gegen Deutschland mehr spricht, so bleibt an der Italienisch-Österreichischen Verständigung doch soviel, dass Österreich und Italien der deutschen Kirchenpolitik nicht unbedingt folgen wollen.
Die Differenz mit Belgien ist nicht sowohl durch ihren Gegenstand, als durch ihre möglichen Beziehungen zu künftigen Ereignissen bedeutsam. Es wird hier sehr bemerkt, dass die «Offiziösen» einen förmlichen Feldzug gegen Belgien eröffnet haben und darauf hinweisen, dass seiner Neutralitätshandhabung nicht zu vertrauen sey, und dass Deutschland unter Umständen kein Interesse habe, die Einverleibung Belgiens durch Frankreich zu hindern. In die politisch-praktische Sprache übersetzt, würde diese Drohung die Bedeutung haben, dass man sich Vorbehalte, unter Umständen das belgische Territorium zur Kriegführung zu benutzen, eventuell beim Friedensschluss zu verwerthen.
Die nämlichen «Offiziösen» deuten Österreich gegenüber an, dass man bei Lösung der orientalischen Frage die östreichischen Interessen an der untern Donau preisgeben könnte, Italien gegenüber, dass die Wiederherstellung eines angreifbaren Kirchenstaates dem deutschen Interesse besser entspräche, als die Dekung des Pabstes durch die Italienischen Garantiegesetze.
Hinsichtlich der Frage eines zweiten Krieges mit Frankreich gewinne ich immer mehr Anhaltspunkte, dass der Ausbruch eines solchen in politischen und militärischen Kreisen näher und näher ins Auge gefasst wird. Abgesehen von ändern Persönlichkeiten darf ich den Feldmarschall Moltke erwähnen, der vorgestern von der Möglichkeit sprach, dass nächstes Jahr uns einen deutsch-französischen Krieg bringen könnte.
Moltkescheint selbst zu glauben, dass Frankreich sich zu einem nahen Kriege rüste, anders könne er sich das militärische Vorgehen Frankreichs kaum erklären, die Organisation der französischen Streitkräfte geschehe in einem Umfange, der auf die Dauer auch für französische Finanzen nicht erträglich sey, und da bleibe für Frankreich nur die Alternative, entweder auf dem eingeschlagenen Wege wieder umzukehren oder loszuschlagen: Da ersteres auch für einen anders regierten Staat als Frankreich eine fast undenkbare Sache sey, so ergebe sich das «Losschlagen» als fast unvermeidliche Folge. Moltke sagte auch, Frankreich habe bereits an seiner Ostgränze Truppen in auffallender Weise echellonirt.
Ich vernehme auch, dass der grosse Generalstab sich in eingehendster Weise mit der Eventualität eines zweiten Krieges mit Frankreich beschäftigt. Die Übungen der deutschen Truppen geschehen auch dieses Jahr mit ganz besonderer Beflissenheit. Mit Urlaubsertheilungen an Offiziere wird es entgegen der Praxis anderer Jahre sehr knapp gehalten. Die Neubewaffnung der deutschen Infanterie mit Mausergewehren, die Ausrüstung der Artillerie mit dem Neuen Material ist vollendet. Mangelhaft seien noch die Munitionsbestände. Einige Zeit erfordern noch die Schiessübungen der abtheilungsweise einberufenen Reservisten mit dem neuen Gewehr. Zur Zeit fehle noch die Neubewaffnung der Kavallerie mit Karabinern. Jedenfalls sey die deutsche Armee zum nächsten Jahr vollkommen kriegsbereit.
Mit Ausnahme der erst in Bau genommenen Forts zu Köln und Deutz seien danzumal auch die neuen Befestigungsanlagen an der deutschen Westgränze fertig. An den Festungsneubauten im Osten (namentlich Königsberg) wird mit Beschleunigung gearbeitet. Die strategische Eisenbahn Berlin-Wetzlar (als Stük von Königsberg-Metz) ist im Bau begriffen.
Nach einem mit den Ansichten des Feldmarschall’s Moltke überinstimmenden Gedankengang wurden in der politischen und militärischen Presse die Rüstungen Frankreichs besprochen, und wird dort, nach meiner unmassgeblichen Ansicht allerdings in fälschlicher Weise nachgewiesen, dass bis zum Jahr 1877 Frankreich den Maximalstand seiner neuorganisirten Streitkräfte erreicht haben werde. Jedenfalls könnte solches annähernd nur für die Feldarmee, nicht aber für die Territorial-Armee gelten, und solches auch nur hinsichtlich der Zahl, keinewegs rüksichtlich der Bewaffnung, Instruktion, Disciplinirung und des militärischen Werthes überhaupt – von den dannzumal noch nicht vollendeten Festungs-Anlagen um Paris und an der Ostgrenze gar nicht zu sprechen.
Über die Bedeutung der militärischen Rüstungen Frankreichs und dessen nahe kriegerische Absichten scheint übrigens zwischen dem leitenden Staatsmann und dem Feldmarschall Moltke Übereinstimmung der Ansichten zu herrschen, und man versichert nun, dass es dem Reichskanzler gelungen sey, diese Auffassung der Verhältnisse auch dem erst etwas ungläubigen Kronprinzen des Reiches glaubhaft zu machen, und es vertrete derselbe diese Auffassung gegenwärtig auch bei Anlass seiner Besuche in Italien gegenüber dem König und dem Kronprinzen dieses Landes. Lord Derby und Graf Andrassy hätten ähnliche Eröffnungen bezweifelnd aufgenommen. Nun werde es sich darum handeln, auch den nächsthin hierher kommenden Russischen Herrscher und seinen schon einige Tage vorher hier eintreffenden Reichskanzler für diese Auffassung zu gewinnen, zu welchem Zweke der deutsche Kronprinz eigens, seinen Aufenthalt in Italien unterbrechend, während der Anwesenheit des Russischen Kaisers nach Berlin zurükkommen soll. Je nach dem Erfolg dieses Meinungsaustausches würde dann durch Russische Vermittlung auf Paris zu wirken sein etc. Morgen wird der Botschafter Schuwaloff auf seiner Durchreise nach London hier erwartet und ist bereits beim Reichskanzler zum Diner geladen, woselbst voraussichtlich die nämliche Frage zur Besprechung kommen werde.
Wie sich aus dieser Situation die Kriegsfrage entwikeln kann, will ich nicht vorgreifend erörtern, und begnüge mich für heute damit, zu bestätigen, dass nach der Auffassung der bestunterrichteten Personen die Lage eine sehr ernste scheint, und muss ich Ihnen und dem Schweizerischen Bundesrath anheimgeben, die allseitigen Consequenzen aus dieser Sachlage zu ziehen.3