Stellungnahme zur Haltung der UdSSR gegenüber der schweizerischen Neutralität, zu schweizerischen Waffenlieferungen an die Weststaaten und zum Ost-West-Handel.
Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 19, doc. 79
volume linkZürich/Locarno/Genève 2003
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2001E#1979/28#4* | |
Old classification | CH-BAR E 2001(E)1979/28 1 | |
Dossier title | Aeusserungen Russlands und der kommunistischen Staaten über die Neutralität der Schweiz (1955–1957) | |
File reference archive | B.51.10.1.Uch |
dodis.ch/9022 Der schweizerische Beobachter bei der Organisation der Vereinten Nationen in New York, A. Lindt, an den Vorsteher des Politischen Departements, M. Petitpierre1 UDSSR UND SCHWEIZERISCHE NEUTRALITÄT
Ein russischer Botschaftssekretär, der für die Dauer der Generalversammlung vom Aussenministerium in Moskau an die Sowjetdelegation abgeordnet worden ist, lud mich zum Mittagessen ein. Er leitete das Gespräch sogleich auf die Schweiz. Drei Themata beschäftigten ihn:
1. Er frage sich, sagte mein Gastgeber, ob die Formulierung «Neutralität und Solidarität» eine Änderung der aussenpolitischen Haltung der Schweiz andeute. Ich erklärte ihm, dass die beiden Begriffe keinen Gegensatz bildeten, da der zweite die logische Folge des ersten sei. Immer lasse sich unsere Haltung in dem sicher leicht verständlichen Satz zusammenfassen: Die Schweiz wird sich gegen jeden Angreifer, gleich wer es sei, zur Wehr setzen2.
Besteht aber, fragte der Russe, nicht die Gefahr, dass eine ausländische Mächtegruppe es gar nicht notwendig hätte, einen militärischen Angriff gegen die Schweiz einzuleiten, sondern dass es ihr gelingen könnte, über den Weg der Solidarität allmählich und schrittweise eine Eingliederung der Schweiz in das politische System dieser Gruppe zu verwirklichen. Die Umzingelung der Schweiz durch Nachbarn, die entweder dem Atlantikpakt angehörten oder von Truppen der Staaten besetzt seien, die in diesem Pakt eine führende Rolle spielten, könnte den schweizerischen Willen dämpfen, sich einer derartigen Eingliederung zu widersetzen. Ich antwortete, der Begriff «Solidarität» könne für uns Schweizer nie vom Ausland ausgelegt und bestimmt werden. Ihre Definition liege einzig und allein an der Schweiz, die sich dabei von der Staatsmaxime der Unabhängigkeit und der Neutralität leiten lasse. Was dagegen die Umzingelung anbelange, sei die Schweiz während einem beträchtlichen Teil des letzten Krieges von den Achsenmächten umschlossen gewesen. Auf unsere aussenpolitische Haltung hatte dies keinen Einfluss.
2. Mein Gastgeber ging nun zur Erörterung der schweizerischen Waffenlieferungen über3. Herr Bührle leiste heute einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Wiederaufrüstung des Westens und sei sogar bereit, sich an der Wiederaufrüstung Deutschlands zu beteiligen. Als ich ihn darauf aufmerksam machte, dass der Bundesrat die Bewilligung der Waffenlieferungen an Deutschland verweigert hatte4, gab er zu, dass er dies nicht gewusst hätte. Diese Tatsache sei interessant.
3. Russland bedaure, fuhr er fort, dass die Schweizerindustrie nicht gewillt scheine, an die Sowjet-Union Maschinen und Maschinenbestandteile zu liefern. Die Schweizerindustrien schienen sich an die amerikanische Schwarze Liste zu halten5. Es seien derartige Vorfälle, die in Russland gewisse Zweifel darüber aufkommen liessen, ob die schweizerischen Neutralitätsbeteuerungen volle Gültigkeit besässen. Ich entgegnete dem, das russisch-schweizerische Handelsvolumen halte sich seit Jahren in ungefähr gleich kleinem Umfange, da offenbar Russland wenig Exporte offerieren könne, die für die Schweiz interessant seien. Ich fragte ihn um genaue Angabe über Fälle, wo eine russische Bestellung zurückgewiesen worden sei. Mein Gesprächspartner gab zu, dass vielleicht keine direkten Zurückweisungen von Bestellungen vorlägen, aber es sei Tatsache, dass die Sowjet-Union keine wichtigen Aufträge placieren könnte.
- 1
- Schreiben: E 2001(E)1979/28/1.↩
- 2
- Vgl. hierzu das Schreiben von M. Petitpierre an A. Lindt vom 29. Dezember 1953, nicht abgedruckt. Petitpierre äussert sich darin u. a. zur Frage der Solidarität. La solidarité, au sens où nous l’entendons, ne peut être comprise comme pouvant impliquer des engagements d’ordre militaire ou politique. En revanche, elle nous engage à accepter des mandats comme ceux qui nous ont été confiés en Corée, malgré tous les désagréments qui en résultent pour nous. La solidarité est l’élément actif de notre politique de neutralité. Elle se manifeste comme une force au service de la paix.↩
- 3
- Zu dieser Frage vgl. Thematisches Verzeichnis in diesem Band: Ein- und Ausfuhr von Waffen und Kriegsmaterial.↩
- 4
- Der Bundesrat beschloss am 18. September, ein Waffenausfuhrgesuch der Hispano-Suiza nach Deutschland abzulehnen. Vgl. BR-Prot. Nr. 1543 vom 18. September 1953, E 1004.1(-) -/1/557.↩
- 5
- Zu dieser Frage vgl. Thematisches Verzeichnis in diesem Band: Ost-West-Handel sowie DDS, Bd. 18, Dok. 25, dodis.ch/7202, 105 (dodis.ch/8820) et 106 (dodis.ch/7230).↩
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Export of war material East-West-Trade (1945–1990) Neutrality policy