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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
Archival classification | CH-BAR#E2010A#1999/250#1101* | |
Dossier title | Allgemeines, vol. 3 (1990–1990) | |
File reference archive | B.51.14.21.20 |
dodis.ch/54790
Notiz des ständigen Beobachters der Schweiz bei der Abrüstungskonferenz in Genf, Botschafter von Arx1
Einige grundsätzliche Gedanken zum Problem der schweizerischen Kriegsmaterialausfuhr
1. Die internationale Staatengemeinschaft befindet sich, trotz andersgerichteter globaler (z. B. UNO)2 oder regionaler (z. B. KSZE)3 Bemühungen noch weitgehend in einem anarchischen Zustand, in einem Zustand der dezentralisierten Gewalt (im Gegensatz zur staatlichen Organisation, wo im Normalfall die Gewalt auf bestimmte Organe zentralisiert ist). Jeder Staat ist somit grundsätzlich und letztendlich allein dafür verantwortlich — ja sogar dazu verpflichtet —, seine Rechte und Interessen, ja sogar seine Existenz zu wahren. Er kann dies im Alleingang (z. B. neutraler Staat) oder im Bündnis mit gleichgesinnten Staaten tun (militärische, sicherheitspolitische Allianzen, Verteidigungsbündnisse).
2. Dieser grundsätzlichen staatlichen Aufgabe zur Wahrung der eigenen Interessen und Rechte, ja zur Sicherung der eigenen Existenz, muss grundsätzlich auch das Recht jedes Staates auf die freie Wahl der ihm in Anbetracht der jeweiligen internationalen Verhältnisse (potentielle Gefahr) und der eigenen Möglichkeiten zur Erfüllung dieser Aufgabe notwendig erscheinenden Mittel und Massnahmen entsprechen. Für den ständigen und bewaffneten neutralen Staat ist das Unterhalten einer den potentiellen Gefahren und eigenen Möglichkeiten entsprechenden militärischen Landesverteidigung sogar eine zumindest politische internationale Verpflichtung.
3. Diese Wahl der Mittel bezieht sich auf folgende Elemente: Rechtliche, politische, diplomatische, militärische Mittel; Allianzen, Allianzfreiheit, Neutralität im konkreten Konfliktsfall, dauernde bewaffnete oder unbewaffnete Neutralität usw. Im folgenden soll, dem Thema entsprechend, nur noch über das militärische Element gesprochen werden.
4. Beim Entscheid über Art und Umfang seiner militärischen Mittel stellt sich jedem Staat zwangsläufig auch die Frage der Beschaffung dieser Mittel. Er kann sie oder will sie (ständig Neutraler) nach Möglichkeit selber herstellen oder kann oder muss Lieferanten in Drittstaaten suchen. Es dürfte, wenn überhaupt, nur wenige Staaten geben, die bei der Beschaffung der ihnen als notwendig erscheinenden Kriegsgüter vollständig autark, d. h. nicht auf die Zusammenarbeit mit Drittstaaten angewiesen wären. So bestehen z. B. Hinweise darauf, dass sogar die Supermacht USA ihr Kernwaffenpotential auf die Dauer ohne Mithilfe anderer Staaten nicht mehr im gewünschten Umfang aufrechterhalten kann (Mangel an waffengrädigem Plutonium, am Zünderelement Tritium, Fehlen der Tritium-Extraktionstechnologie). Und selbst bei eigener Kriegsmaterialproduktion sucht man aus Rationalisierungs- und Kostengründen die Zusammenarbeit mit Drittstaaten (Exporte).
5. Versuche zur Beschränkung der Kriegsmaterialexporte in Entwicklungsländer hat es bereits in den Siebzigerjahren, z. B. im Rahmen der Genfer Abrüstungskonferenz, gegeben.4 Die betroffenen Staaten haben sich, unter Verwendung der obigen Überlegungen, vehement gegen diese Vorhaben gewehrt. Einer ihrer Vertreter hat in diesem Zusammenhang den Ausdruck geprägt (Zitat aus dem Gedächtnis): «das wäre eine Kastration der ohnehin schon Impotenten».
6. Grundsätzlich ist ein Staat frei, seine Kriegsmaterialprodukte zu exportieren, nur an einen beschränkten Staatenkreis zu exportieren oder gewisse Exportbedingungen aufzustellen oder überhaupt nicht zu exportieren. Dabei hat er, neben den obigen grundsätzlichen Überlegungen, noch folgendes zu bedenken:
- - Ein bedingungsloser Export von Kriegsmaterial dürfte, insbesondere für einen dauernd neutralen Staat, kaum in Frage kommen.
- - Die grundsätzliche Exportfreiheit erga omnes, verknüpft mit Bedingungen (schweizerische Exportpraxis),5 kann im konkreten Fall aus materiellen («dual use-items», was ist Kriegsmaterial) oder politischen Gründen (Golf-Konflikt)6 zu Widersprüchlichkeiten führen. Unsere Exportregelung ist diesbezüglich nicht der Weisheit letzter Schluss und sicher nicht frei von Scheinheiligkeit.
- - Die Beschränkung des Kriegsmaterialexports auf einen bestimmten Staatenkreis hat die Diskriminierung der anderen Staaten zur Folge. Man schafft dadurch, ohne Begründung (Kriegs- oder Spannungsgebiete, Menschrechtspraxis usw.) zwei Kategorien von Staaten: die Berechtigten und die Nichtberechtigten, was neben allem anderen dem Völkerrechtsgrundsatz der Gleichheit aller Staaten widerspricht. Darf das ein neutraler Staat? Beispiel einer solchen multilateralen Einteilung von Habenden und Habenichtsen ist der Atomsperrvertrag, der genau aus diesen Gründen — nicht nur in der Schweiz — auf grossen Widerstand gestossen ist und zum Teil immer noch stösst.7 Ausserdem bedeutet die Politik der Begrenzung der Kriegsmaterialexporte auf einen bestimmten Staatenkreis in der Regel das, was man im römischen Recht ein «venire contra factum proprium» bezeichnet, eine Handlung, die dem eigenen Verhalten widerspricht und somit zumindest höchst fragwürdig ist. Derjenige Staat, der diese Politik praktiziert, nimmt in der Regel für sich selbst das Recht in Anspruch, seine fehlenden Rüstungsgüter in Drittstaaten zu beschaffen.
- - Es bleibt somit nur8 die Alternative, auf Kriegsmaterialexporte vollständig zu verzichten. Einerseits ist auch das, falls man selber weiterhin Kriegsmaterial importiert, ein «venire contra factum proprium», anderseits erschwert oder verunmöglicht es die Aufrechterhaltung einer eigenen Kriegsgüterindustrie, die gerade für einen dauernd neutralen Staaten wegen grösstmöglicher Autarkie von Bedeutung ist. Immerhin vermeidet man mit einem vollständigen Exportverbot die Diskriminierung gewisser Staatengruppen. (Faktisch dürfte es für die Schweiz, in Anbetracht der Entwicklungen der letzten Jahre wahrscheinlich zu dieser Lösung kommen.)
7. Eine einigermassen befriedigende, möglichst unkontroverse, völkerrechtlich vertretbare Lösung der Kriegsmaterialausfuhr liesse sich deshalb nur in einem möglichst universellen multilateralen Übereinkommen denken, an dem sich alle Export- und Importstaaten beteiligen würden.
- 1
- CH-BAR#E2010A#1999/250#1101* (B.51.14.21.20). Diese Notiz wurde von Herbert von Arx, Chef der Sektion Politische Sonderfragen der Politischen Direktion des EDA, verfasst und unterzeichnet.↩
- 2
- Zum Stand der Beziehungen der Schweiz zur UNO vgl. DDS 1990, Dok. 18, dodis.ch/56127 und Dok. 41, dodis.ch/56180.↩
- 3
- Zum den Entwicklungen im KSZE-Prozess vgl. DDS 1990, Dok. 34, dodis.ch/56205 und Dok. 50, dodis.ch/54685.↩
- 4
- Vgl. dazu DDS, Bd. 27, Dok. 166, dodis.ch/48273 sowie die thematische Zusammenstellung Genfer Abrüstungskonferenz (1962...), dodis.ch/T2175.↩
- 5
- Vgl. dazu den Bericht der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrats vom 30. Januar 1990, dodis.ch/54788. Vgl. ferner das Bundesgesetz über das Kriegsmaterial vom 30. Juni 1972, AS, 1973, S. 108–115.↩
- 6
- Vgl. dazu die thematische Zusammenstellung Golfkrise (1990–1991), dodis.ch/T1673.↩
- 7
- Vgl. die thematische Zusammenstellung Atomwaffensperrvertrag (1968), dodis.ch/T2197.↩
- 8
- Handschriftliche Korrektur aus: nicht.↩