Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 11, doc. 78
volume linkBern 1989
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2300#1000/716#119* | |
Old classification | CH-BAR E 2300(-)1000/716 63 | |
Dossier title | Berlin, Politische Berichte und Briefe, Militärberichte, Band 35 (1934–1934) |
dodis.ch/45999
Es ist nicht zu leugnen, dass die neuesten Erörterungen über die Saarfrage2 hierzulande in weitesten Kreisen eine ungewöhnliche Erregung, ja Erbitterung ausgelöst haben. Schon die straff geleitete deutsche Presse legt davon Zeugnis ab. Anderseits scheint es, als ob die Auffassungen bei den amtlichen Stellen und in Parteikreisen in rechtlicher und anderer Hinsicht nicht ganz übereinstimmten. Bezeichnend hierfür sind amtliche Mitteilungen über vorgestern in Paris und Rom unternommene Schritte seitens der dortigen deutschen Botschafter, die schwerlich miteinander in Einklang zu bringen sind. Während beim Präsidenten der Dreier-Kommission für die Saar, Aloisi, gegen die bekannten von Frankreich getroffenen Vorbereitungsmassnahmen an der Saargrenze nachdrücklichst Einspruch erhoben worden wäre, sollen zu gleicher Stunde der französische Aussenminister und der deutsche Botschafter in Paris gegenseitige Zusicherungen über die lauteren Absichten ausgetauscht haben. Allerdings sucht eine heutige Vernehmlassung des Deutschen Nachrichtenbüros diesen unbequemen Eindruck zu korrigieren.
Die Ankündigung der französischen Vorkehrungen ist hier, wie übrigens auch anderwärts, mit einer drohenden Kriegsgefahr in Zusammenhang gebracht worden. Dies allein zeigt, mit welcher Aufmerksamkeit das ganze Saarproblem zu verfolgen sein wird3. Dort befindet sich bis auf weiteres der empfindlichste, der wundeste Punkt für die europäische Politik. Ihm gegenüber dürfte Österreich4 für einige Zeit in den Hintergrund treten.
Es ist nicht leicht, den wirklichen Gründen für das vermeintliche Bestehen einer Gefahr von kriegerischen Verwicklungen nachzugehen. Ich weiss, dass in hohen militärischen und politischen französischen Kreisen die Ansicht ziemlich verbreitet ist, dass sich in der Umgebung Hitler’s Leute befinden, die ihn zu einer sehr scharfen Stellungnahme gegenüber Frankreich, die bis zur Gewaltandrohung ginge, bestimmen möchten. Die derzeitigen hiesigen Zustände gestatten nicht, kurzweg zu erklären, jene französische Vermutung sei richtig oder falsch. Für meinen Teil glaube ich nicht, dass überlegte und verantwortungsbewusste Ratgeber des Diktators den Krieg für Deutschland jetzt herbeisehnen könnten und jedenfalls Hitler für einen solchen tollkühnen Plan zu gewinnen vermöchten. Denn Deutschland ist dazu gewiss noch nicht bereit. Es ist bekannt, dass dies die Auffassung der Reichswehr ist, die allerdings darüber in wenigen Jahren anders wird denken mögen.
Dagegen kann ich die Möglichkeit nicht ohne weiteres von der Hand weisen, dass Deutschland, wenn es sich angegriffen sähe oder bedroht glaubte oder auch in seiner Ehre arg gekränkt fühlte, einem Kriege nicht unbedingt aus dem Wege gehen würde. Nach übereinstimmenden Angaben, die ich erhalten habe, fühlt sich Deutschland zur Zeit in der Vorbereitung wie in der Abwehr eines in der Luft geführten chemischen Krieges unübertroffen. Die Anhäufung der entsprechenden Mittel soll eine riesige sein. Auf die Gattung der Flugzeuge komme es nicht mehr so sehr an, weil man heute über neue chemische Stoffe verfügt, die verhältnismässig leichte Bomben mit den verheerendsten Wirkungen herzustellen gestatten. Es sollen demnach nicht die schweren Bombenflugzeuge, sondern leichte, möglichst rasche Flugzeuge und insbesondere deren Zahl den Ausschlag geben. Dass nun Deutschland über ungezählte Flugzeuge und Flieger verfügt, daran zweifelt, glaube ich, niemand.
Das provozierte Dritte Reich wäre demnach im Stande, augenblicklich zu einem furchtbaren chemischen Luftangriff überzugehen. Allerdings wird man sich hier Rechenschaft geben, dass auch Deutschland durch eine ähnliche Kriegsführung der Gegenseite unübersehbaren Verwüstungen ausgesetzt sein würde. Deutscherseits glaubt man aber, vielleicht nicht mit Unrecht, dass man zur Abwehr viel besser gerüstet sei als insbesondere Frankreich.
Diese verzweifelte Spekulation mit dem chemischen Luftkriege, der für den äussersten und dringendsten Notfall in den letzten Monaten fieberhaft vorbereitet worden ist, war wohl bereits ausschlaggebend für den seinerzeitigen überstürzten Rücktritt Deutschlands von der Abrüstungskonferenz5. Formell wurde und würde auch heute der Gleichberechtigungsanspruch in den Vordergrund geschoben. Wozu aber die deutsche Regierung damals schon nicht Hand zu bieten vermochte, war eine Regelung oder gar das mehr oder weniger spruchreife allgemeine Verbot des Bombenabwurfs und der Verwendung chemischer Mittel. Den Vorsprung, den Deutschland auf diesem Gebiete zu erreichen im Begriffe stand, wollte es unter keinen Umständen preisgeben.
Stehen die von französischen Kreisen gehegten Befürchtungen in gewisser Verbindung mit den veranlassten Massnahmen an der Saargrenze, d.h. benutzt Frankreich den Vorwand seiner Verpflichtungen gegenüber allfälligen Hilfeleistungsbegehren der Saar-Regierungskommission, um seine militärischen Vorbereitungen an der Grenze zu vervollständigen oder zu vertuschen? Wird das deutscherseits angenommen, so versteht sich auch einigermassen der darob hier empfundene Unwille.
Man wäre in diesem Zusammenhang im jetzigen Zeitpunkte geneigt zu sagen, dass in Deutschland die Aufrüstung sich vervollständigt und die Kriegsbereitschaft fortschreitet in dem Masse ungefähr, wie in der wirtschaftlichen Lage Rückschläge zu verzeichnen sind. Damit nimmt die Unzufriedenheit in breiten Schichten der Bevölkerung zusehends zu. Es ist eine unverkennbare Tatsache, dass fast alle Preise im Steigen begriffen sind. Die amtlichen gegenteiligen Behauptungen können nicht ernst genommen werden. So wurde z. B. vor wenigen Tagen in der Person des Leipziger Oberbürgermeisters Goerdeler ein Reichskommissar für Preisüberwachung mit weitgehenden Vollmachten eingesetzt. Der Reichsbankpräsident, auf dessen Betreiben das neue Reichskommissariat geschaffen worden sein soll, richtet an Goerdeler ein von der ganzen Presse veröffentlichtes Schreiben, in dem er dessen Absicht, rücksichtslos gegen alle diejenigen vorzugehen, die durch ungerechtfertigte Preistreibereien der Gesamtheit Schaden zufügen, in vollem Umfange billigt und ihn seiner engsten Zusammenarbeit versichert. Das hinderte Herrn Schacht nicht, vor zwei Tagen einem ausländischen Finanzmann zu erklären, dass gegen die Preissteigerungen kaum mehr aufzukommen sein werde.
Sie werden auch die jüngsten Begebenheiten in der deutschen evangelischen Kirche mit Interesse verfolgt haben. Die bedeutsamen Erfolge der sog. Bekenntniskirche, die auch für das Regime bis hinauf zu Hitler eine empfindliche Prestigeeinbusse bedeuten, entsprechen der Überzeugung, die ich in meiner Berichterstattung wiederholt zum Ausdrucke gebracht hatte. Die Frage, die man sich natürlich vielfach stellt, ist, ob schliesslich auch der Reichsbischof Müller wird das Feld räumen müssen. Ich begegne der allgemeineren Ansicht, die ich persönlich aber nicht teile, dass dies doch nicht der Fall sein wird, und zwar mit der Begründung, dass der Führer noch keinen engeren Mitarbeiter wegen Unfähigkeit entlassen habe; nur für Untreue gebe es keine Nachsicht. Die weitere unausbleibliche Entwicklung wird bald zeigen, was aus Müller und seinem neuerrichteten Amt überhaupt werden wird. Seine Kaltstellung wird m. E. die Bekenntniskirche auch noch durchsetzen, wenn sie es versteht, wie bisher, ausschliesslich auf religiösem Boden zu verharren.
Was die katholische Kirche betrifft, die begreiflicherweise den Auseinandersetzungen in und mit der protestantischen Kirche volle Aufmerksamkeit schenkt, so erfahre ich von eingeweihter Seite, dass die Verhandlungen mit dem Vatikan seit geraumer Zeit sich im Stillstände befinden. Es werden von behördlicher Seite stets Zusicherungen gegeben, denen aber von manchen Stellen nicht nachgelebt wird. Immerhin sei in dieser Hinsicht eine gewisse Besserung festzustellen.
- 1
- Rapport politique: E 2300 Berlin, Archiv-Nr. 35.↩
- 2
- Cf. annexe au no 83.↩
- 4
- Cf. no 13 + A.↩
- 5
- Cf. DDS vol. 10, nos 341, dodis.ch/45883 et 345, dodis.ch/45887.↩
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