Printed in
Diplomatic Documents of Switzerland, vol. 9, doc. 423
volume linkBern 1980
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Archive | Swiss Federal Archives, Bern | |
▼ ▶ Archival classification | CH-BAR#E2001C#1000/1531#1155* | |
Old classification | CH-BAR E 2001(C)1000/1531 61 | |
Dossier title | Rossi (1928–1947) | |
File reference archive | B.46.083 • Additional component: Italien |
dodis.ch/45440 Der schweizerische Geschäftsträger in Rom, T. von Sonnenberg, an den Vorsteher des Justiz- und Polizeidepartementes, H. Häberlin1
Bisher habe ich davon abgesehen, Ihnen über die Verhaftung des Cesare Rossi2 Bericht einzusenden und Ihnen Angaben zu machen, über die Art un Weise wie hier der Zwischenfall mit sichtlicher Zurückhaltung besprochen und beurteilt wird.
Unsere Zeitungen haben so ziemlich alles wiedergegeben, was hier über die Angelegenheit publiziert wird. Zunächst eine Schilderung des Vorkommnisses begreiflicherweise mit der für Italien zuträglichen Reserve. Daraufhin kam, offenbar von offizieller Seite, eine Berichtigung namentlich hinsichtlich der Rücksichten, die man bei der Verhaftung und bei der Abführung Cesare Rossi gegenüber hätte walten lassen.
Schliesslich meldete ein offizielles Communiqué, dass Rossi in Rom eingekerkert sei und sich vor dem Spezialgericht zu verantworten hätte.
Sie werden verstehen, dass es für uns ausserordentlich heikel ist, auch in italienischen Freundeskreisen, etwas in Erfahrung zu bringen, über die Vorkehrungen, die zur Verhaftung geführt haben. Man ist sichtlich befriedigt über das Gelingen des Streiches und hütet sich wohl, das Vorgehen der italienischen Agenten, wenn auch nicht zu kritisieren, so doch als ein Gebahren hinzustellen, welches unsererseits gegebenenfalls als Verletzung unserer Hoheitsrechte oder als ungebührliche Einmischung in unsere eigenen Aufsichtsobliegenheiten betrachtet werden könnte.
Die Ausführungen in unserer Presse habe ich ebenfalls mit grösster Aufmerksamkeit verfolgt und die einzelnen Meldungen, namentlich der Tessiner Blätter, die mir zur Verfügung stehen, gesammelt. Es ist wohl auch, wiederum in diesem Falle, wahrzunehmen, dass er willkommene Veranlassung bietet, gegen das Regime in Italien und seine zweifellos gewalttätigen Methoden aufzutreten. Ganz abgesehen von dem Vorgehen der italienischen Polizei, über welches noch genaue Angaben erforderlich sind, muss gesagt werden, dass derselbe Cesare Rossi, dessen Rolle in der Matteotti-Affäre bekannt ist, seinerzeit von der gleichen Partei aufs Äusserste angegriffen wurde, die ihn jetzt gewissermassen, wenn auch indirekt in Schutz nimmt, weil er als rücksichtslos ehrgeiziger Gegner Mussolini’s für den Duce und das Regime als besonders gefährlich bezeichnet wird und unschädlich gemacht werden musste, da er zu Beginn des Fascismus stark Fuss gefasst hatte und wohl mit einer Menge von unangenehmen Geheimnissen ausgerüstet sein muss.
Den einzigen höchst sonderbaren Ausfall gegen das Vorgehen der italienischen Polizei bei der Verhaftung, entnehme ich der gestern Abend erschienen sensationellen Notiz im «Impero». Es scheint denn auch, dass man in den höchsten und heftigsten fascistischen Kreisen doch auch geteilter Meinung ist über die Korrektheit des angewandten Spitzelverfahrens. Immerhin muss damit gerechnet werden, dass es sich um eine ausgesprochene Feindschaft zwischen dem früheren Parteisekretär Farinacci und den Leitern des «Impero» handelt.
Bei der strengen italienischen Zensur, die stets den «Impero» als «enfant terrible» besonders im Auge hat, ist es erstaunlich, dass eine solche Nachricht überhaupt nicht die Konfiskation der Nummer nach sich gezogen hat.
Farinacci, dessen heftiges Temperament bekannt ist, wird jedenfalls zur Sache Stellung nehmen. Wenn die Meldung nicht aus Hass gegen ihn erfunden ist, und das wird sich zeigen, so läge zweifellos eine Indiskretion vor über die Aussprache, die im obersten Fascistenrat unter dem Präsidium Mussolini’s über die Affäre Rossi erfolgt wäre. Für uns würde feststehen, dass eine Persönlichkeit an hoher Stelle, die sicherlich informiert ist, die Handlungsweise der italienischen Polizeiorgane als unkorrekt und für uns verletzend bezeichnet, was für die Schweiz den Schluss zuliesse, dass eine Protestkundgebung begründet wäre.
Der Bundesrat wird inzwischen von den tessinischen Behörden eingehenden Bericht über die Vorgänge erhalten haben und es wird sich demnach zeigen, ob die erhärteten Tatsachen die Grundlage bilden können, für eine diplomatische Intervention. Die Frage ist selbstverständlich sehr heikel; der Schritt wird sorgsam abgewogen werden müssen, denn es liegt auf der Hand, dass die Regierung alles tun wird, um unter naiven Vorwänden der Frage der ungehörigen Einmischung auszuweichen.
Es ist bekannt, dass das fascistische Regime in Italien in Fragen der Ausnahme-Gerichtsbarkeit, der persönlichen Freiheit, der rücksichtslosen Haltung der Polizeiorgane eine Stellung einnimmt, welche derjenigen von Staaten mit einer rein demokratisch-konstitutionnellen Auffassung vollkommen zuwider läuft. Dieses gesamte System hat eine Spannung ausgelöst, welche einerseits die Feinde unerbitterlich macht, anderseits aber auch den um das zehnfache ausgebauten Dienst der öffentlichen Sicherheit in seinem Besessensein der Verantwortung zu Handlungen veranlasst, die für uns ebenso undelikat wie unverständlich sind.
Wir denken dabei auch an die leichtfertige Art, mit welcher wegen des geringsten Vergehens, oder blossem Anstoss, fremde Staatsangehörige in Italien verhaftet und während längerer Dauer in der Haft belassen werden, als ob das Gut der persönlichen Freiheit dem freien Ermessen der Polizeiorgane ausgeliefert wäre. Die Italiener selbst werden womöglich noch schärfer mitgenommen.
Man muss unwillkürlich dabei an den Umstand denken, dass einige der höchsten Würdenträger des Fascismus seinerzeit schon verschiedentlich mit der Kerkerluft in Berührung getreten sind. Vor einiger Zeit noch erwähnte ein Freund des Duce, der seinen Werdegang erzählte, dass er nicht weniger als 14 Mal in Haft gesessen habe.
Zum Fall Rossi scheint es uns ziemlich klar, dass die Polizeiorgane des Kantons Tessin über Personen, die sich auf Kantonsgebiet aufhielten, zu wenig orientiert waren, wo doch die Grenzzone einer besondern Überwachung und Aufmerksamkeit unterstellt werden sollte. Wir wollen dabei nicht etwa sagen, dass man bei uns zum durchgreifenden italienischen Überwachungssystem übergehen sollte, aber mehr Vorsicht wäre doch geboten. Dies umso mehr als man weiss, oder wissen muss, dass bei uns wie in Frankreich, und wir weisen auf die Affäre Garibaldi in Nizza hin, ein eigentliches Netz von italienischen Agenten die «fuorusciti» überwachen und in ihrer Tätigkeit beobachten muss. So geht denn auch, und es ist an und für sich bedauerlich, die Aufgabe des durch die politischen Verhältnisse bei unserem südlichen Nachbarn unbedingt erforderlichen Überwachungsdienstes über den Rahmen der scheinbar bisher getroffenen Vorkehrungen des tessinischen Dienstes hinaus. Die besondern Verhältnisse in der Grenzzone machen es uns zur Pflicht, Massnahmen zu veranlassen, die dazu angetan sind, so weit wie nur möglich wenigstens über die Identität der Ausländer orientiert zu sein, die sich auf unserem Gebiet aufhalten und über den Grund ihres Aufenthaltes. Auf italienischer Seite wird dies mit peinlicher Genauigkeit den Schweizern und allen Ausländern gegenüber gehandhabt.
Dies führt uns speziell auf die Frage der Identität des Cesare Rossi, beziehungsweise auf seine Ausweispapiere, die gefälscht gewesen sein sollen. Sie werden selbstverständlich untersucht haben, ob Polizeiorgane oder Grenzüberwachungsstellen in der Schweiz davon Kenntnis hatten, dass der betreffende offenbar aus Frankreich eingereiste Italiener, tatsächlich der «fuoruscito» Cesare Rossi sei, auf den es die italienische Polizei bekanntermassen abgesehen hat.
Wenn dies bekannt war, und es hätte wohl bekannt sein sollen, hätte unsererseits nicht zugegeben werden können, dass er unter falschem Namen sich auf unserem Gebiet aufhält. Allenfalls hätte die kantonale Behörde darauf aufmerksam gemacht werden müssen und sich danach einrichten.
Wir erwähnen dies, weil allenfalls bei einer Intervention Italien darauf hinweisen könnte, dass, abgesehen von den Umständen, die zur Verhaftung geführt haben, festgestellt werden muss, dass wir auf schweizerischem Boden staatsfeindliche italienische Elemente aufnehmen, ohne über ihre Personalien unterrichtet zu sein, was demnach die italienischen Polizeiorgane beinahe veranlassen müsse, einen geheimen Überwachungsdienst zu organisieren, der im Grunde genommen uns selbst obliegen würde.
Gerne sehe ich Ihrer gefälligen Vernehmlassung entgegen, um zunächst über die Stellungnahme des Bundesrates orientiert zu sein. Bis zum Erhalt Ihrer Instruktionen werde ich die angemessene Zurückhaltung walten lassen, Sie dabei aber doch über Bemerkenswertes auf dem Laufenden halten.
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Italy (Others)
Border incidents in Ticino (1925–1929)