dodis.ch/45369
Der schweizerische Gesandte in
Wien,
M. Jaeger, an den Vorsteher des Politischen Departementes,
G. Motta1
Persönlich. Dringlich
Wien.29. November 1927
Herr Bundeskanzler Seipel hat mich anlässlich unserer jüngsten Unterredung vertraulich gebeten, ich möchte bei Ihnen darum nachsuchen, dass der schweizerische Vertreter in der Kontrollkommission der Garantiestaaten, die Österreich seinerzeit Hilfskredite eröffnet haben, wenn möglich eine den österreichischen Wünschen entgegenkommende Haltung einnehmen möchte. Wie Ihnen bekannt sein wird, tritt am 2. Dezember nächsthin in London das Reliefkomitee zusammen, um über den Antrag der österreichischen Regierung zu beraten, wonach die neu aufzunehmende österreichische internationale Anleihe die Priorität vor den Relieflkrediten erhalten soll.2.
Der Kanzler meinte, er wäre dankbar, wenn der schweizerische Vertreter3 diesmal einfach «mit den Grossen» stimmen möchte. Offenbar scheint er darüber informiert zu sein, dass die in der Kommission vertretenen Grossmächte für den österreichischen Antrag eingenommen sind.
Der Kanzler hat vertraulich darauf hingewiesen, dass die sozialdemokratische Opposition es höhnisch ausschlachten würde, wenn es der bürgerlichen Regierung in Österreich nicht gelingen sollte, für ihr Anleihen ebensoviel Entgegenkommen und nicht schlechtere Bedingungen zugestanden zu erhalten, als sie die sozialdemokratische Wiener Stadtverwaltung auf dem amerikanischen Geldmarkt erreicht hat.
Ich füge zu Ihrer Orientierung noch bei, dass auch der österreichische Finanzminister Kienböck anlässlich einer gelegentlichen Zusammenkunft denselben Wunsch geäussert hat, ich möchte für die österreichischen Interessen in voller Kenntnis und in sachgemässer Würdigung der derzeitigen Lage Österreichs ein gutes Wort einlegen. Im Verlaufe der Unterhaltung mit dem Finanzminister merkte ich, dass er von irgend einer Seite die Information erhalten haben musste, dass der schweizerische Vertreter den österreichischen Interessen in dieser Frage nicht dasjenige Wohlwollen entgegenbringe, das Österreich erwarten zu können hoffte. Ich weiss nicht, auf welche Information sich der Minister stützte und konnte es auch nicht in Erfahrung bringen.
Den vom Bundeskanzler und vom Finanzminister zum Ausdruck gebrachten Wunsch darf ich zur Entsprechung angelegentlichst empfehlen, da die für Österreich zu erwartende finanzielle Hilfe geeignet ist, diejenigen staatspolitischen Folgen für unsern Nachbarn zu zeitigen, deren Erreichung in der Richtung der von Ihnen und dem Schweizerischen Bundesrate vertretenen Politik liegt.
Ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie mir darüber Mitteilung machen wollten, was ich gelegentlich sowohl dem Kanzler als dem Finanzminister über die Folge, die meiner Demarche gegeben worden ist, berichten soll4.